Friede, du billiges Würstchen!
Seit letzter Woche wissen wir: Die Butter ist teuer wie nie. 1,99 Euro bei Aldi wird sie fortan kosten. Das hat wenig mit der Kulanz des Discounters gegenüber den Erzeugern zu tun, als mit der Produktionsrealität. Die Butter, d.h. eigentlich das Milchfett, ist momentan ein knappes Gut. Das will bezahlt sein. Natürlich beschäftigte das Thema auch die Wirtschaftsressorts der Quantitätsmedien. Da würde einem ja die Butter vom Brot genommen, unkten sie. Erst gehe es an die gute deutsche Butter, dann ans Eingemachte. Wir haben uns in Deutschland ja mittlerweile auch an günstige Discounterpreise für Lebensmittel gewöhnt.
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Rabotten gehen: Mensch von Beruf
Der Robo-Cop war ein feuchter Fortschrittstraum aus den Achtzigern. Die Robo-Whore und die Robo-Nurse stehen als künftige Realität hoch im Kurs der allgemeinen Panikkultur. Sie machen Pflegerinnen und Pfleger und sie machen Prostituierte arbeitslos. Ob das so stimmt?
Ein Gespenst rabottet um
Erwin Pelzigs neues Abendprogramm »Weg von hier« ist wirklich empfehlenswert. Im zweiten Teil des Abends kommt er auf Roboter zu sprechen, auf das Ende der Welt, wie wir sie kennen. Er hält sein Handtäschchen fest umklammert und erzählt von Sex- und Pflegerobotern und wie Arbeit wohl bald wegfallen würde. Was ja auch gut sei, wer will schon für Geld mit notgeilen Männern ins Bett oder von Dekubitalgeschwüren geplagte Körper hochheben und umbetten? Doch auch wenn es freilich positiv ist, dass solche Arbeit wegfalle, fällt halt letztlich eben Arbeit weg: Und damit der Lebensunterhalt für viele Menschen. Bevor wir jetzt vom Grundeinkommen reden – das Pelzig ebensowenig behandelte -, sollte man überlegen, ob grundsätzlich Arbeitsplätze wegfallen oder ob sie sich nur wandeln. Neue Berufsfelder würden in einer Robotergesellschaft ganz sicher zwangsläufig entstehen müssen. Und nicht bloß auf technischer Ebene.
Von der Angst vor der Arbeitslosigkeit liest man derzeit viel, wenn es um die Berichte aus der Roboterindustrie geht. Der Mensch sieht sich überflüssig werden, vielleicht auch ein bisschen gefährdet. Zwar wird der Roboter nicht gegen die Menschen in den Krieg ziehen und ihn terminieren, wie es in Hollywood schon desöfteren dargestellt wurde. Aber man setzt sich der Gefahr der Abhängigkeit aus, wird zum Spielball einer Stahlkonstruktion, die ihre Informationen cloudbasiert abruft und den Menschen, den er als Kunden oder Patienten, in jedem Falle aber als jemanden, der eine Dienstleistung in Anspruch nehmen möchte, nicht nach Einzelfall begutachtet, sondern auf Grundlage des »Wissens der Vielen«. Dort ist der Einzelfall die Abstraktion vieler abgelegter Datensätze in der Cloud. Ist das ethisch, wenn ein Dienstleister seinen Fall nicht von Fall zu Fall wahrnimmt, sondern als Berechnungsmuster? Und was, wenn falsch berechnet wird?
Ethik und die chronische Würdelosigkeit
Sicherlich ist vieles, was derzeit kolportiert wird, noch Zukunftsmusik. Aber es ist die Melodie aus einem Zeitalter, das nicht mehr ganz so weit entfernt sein dürfte. Die Frage bei jeder intakten Roboterinbetriebnahme wird lauten: Wer haftet eigentlich? Was, wenn ein Pflegeroboter stets zuverlässig umbettet, füttert, Tabletten reicht und Körperwerte für die Dokumentation erfasst, aber an einem Tag einen »Fehler macht«? Kann er philosophisch und endlich auch juristisch Fehler machen wie ein Mensch? Und wenn ja, wer übernimmt die Verantwortung? Überhaupt muss man sich fragen, ob algorithmisch arbeitenden Systeme, die ihren Datenbestand durch Vernetzung stets erweitern und ausdehnen, die durch »Erfahrung« lernen und zum Beispiel Medikation anhand der Messungen selbst berechnen, wirklich fehlerhaft arbeiten? Denn die Messung irrt sich ja nie – Menschen messen und kommen am Ende trotzdem durch ihre emotionale Begabung dazu, anders zu agieren als es die plumpe Zahl vielleicht vorgibt. Ein Roboter aber? Woher nimmt er die Empathie? Kann ein nicht empathisches System Fehler machen im Sinne ethischer Betrachtungsweisen?
Roboter werden ja schon seit Jahrzehnten in der Industrie eingesetzt. Dort schweißten sie beispielsweise den Rohbau von Automobilen zusammen und setzten die schweren Stahlteile so zusammen, dass sie aufs Fließband zur Weiterbearbeitung konnten. Vormals haben diese Arbeit Menschen verrichtet. Sie haben sich dabei aufgerieben, Rückenerkrankungen entwickelt und im Alter an Lebensqualität eingebüßt. Die Arbeit im Karossenrohbau war ein Zustand chronischer Abwesenheit der Fürsorgeplicht ganz im Sinne der grundgesetzlichen fixierten Würde – wenn man es ganz hochtrabend ausdrücken möchte. In der Pflege oder in der Sexbranche ist die chronische Würdelosigkeit eine dauerhafte Konstante. Bei Prostituierten, die vielleicht irgendwann durch Sexroboter ersetzt werden können – in der Schweiz soll es einen gut kopulierende Prototypen geben -, ist das nachvollziehbar. Aber auch der Pflegeberuf ist ein Zustand fortwährender Würdelosigkeit. Für den Patienten trifft das ebenso zu wie für den Pflegenden. Man schleppt, man läuft auf Bestellung, man muss präsent sein, hat Verantwortung, wird von den krankheitsbedingten Aggressionen der Leute geplagt und ist am Ende völlig überlastet und wird zum Dank als unfreundlich beim Vorgesetzten angeschwärzt.
Dass da Roboter einen würdevolleren Zustand aus Sicht der Pflegenden entstehen lassen: Das ist mindestens so ethisch, wie es an oben genannter Stelle unethisch sein könnte. Aus Sicht des Gepflegten sieht es anders aus: Ein Zustand in Roboterpflege stellt einen unethischen Eingriff dar, vielleicht sogar einen Anschlag sozialer Ausgrenzung.
Neue Jobs: Robo-Engineer und Mensch
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Und er wird es auch in Zukunft bleiben. Wenn auch heute viele Menschen ein Parallelleben in der virtuellen Realität fristen, daueronline sind, so sagt das doch nichts über den sozialen Charakter der Gattung aus. Es ist eher so, dass viele Affekte, die man in unseren Zeiten an vielen Mitmenschen beobachten kann, diese fast schon autistischen Züge, wenn sie vom Netz abgekoppelt in der realen Welt ihre Person stehen müssen, eigentlich nur unterstreicht: Wer soziale Kontakte unterlässt, sie mit Facebook verwechselt, der entwickelt leichte bis mittelschwere Störungen und ist auf dem schlechtesten Weg zur soziopathischen Neurose. Insofern sind die blühenden Roboterwelten, die uns Menschen die Arbeit abnehmen, schwere Tätigkeiten erledigen und unwürdige Szenarien für uns verrichten, zwar eine schöne Vorstellung für diejenigen, die bislang darunter litten. Aber für die anderen sind sie wohl eine traurige Aussicht. Wenn der Gepflegte ohne menschliche Ansprache pflegeverwahrt wird, mag er versorgt sein im physischen Sinne. Aber wie sieht es psychisch aus? Kann eine noch so intelligente Sprachsoftware auffangen, was an menschlichen Kommunikation zwischen den Zeilen zu deuten ist? Kann sie spitzfindig, ironisch oder einfach nur schrullig sein? Und wie sieht es mit einem Freier aus, der aus welchen spezifischen Gründen Sexualität nur erkaufen kann und der an diesem Akt nicht nur die ordinäre Sexmechanik in Anspruch nehmen will, sondern die Interaktion zwischen zwei Menschen. Sei diese auch noch so gespielt von der einen Seite: Sie ist menschlich, es gibt Körperwärme, eine Stimme, jemand der etwas sagt, was in diesem Augenblick genau richtig sein kann. Ob ein Roboter je die Chemie zwischen menschlichen Wesen nachstellen kann? Oder bleibt er zwangsläufig nicht einfach nur eine Fickvorrichtung, die den Sex auf die Reibungsmechanik zwischen Glied und Vagina reduziert?
Es wird neue Jobs geben müssen in einer Robotergesellschaft. Technische Betreuung wird dringend notwendig sein. Und auch wenn technische Roboter soziale Dienstleisterroboter warten: Irgendein menschliches Wesen wird am Ende auch den Technikerroboter warten müssen. Überwachungsdienste werden stets präsent sein müssen, um zu gucken, ob beispielsweise die Pflege an einem Patienten richtig läuft, ja um intervenieren zu können. Und es wird noch einen Job geben, den Menschen ausfüllen müssen. Berufsmenschen im Sinne einer Aufgabe: Mensch sein und soziale Nähe herstellen. Natürlich können Roboter die schwere und unwürdige Arbeit in der Pflegebranche verrichten. Aber es braucht immer ein menschliches Antlitz, besser vor Ort als über Monitor, das mit den Patienten quatscht, ein wenig Spaß macht und sie aufbaut, sie freilich auch mal rügt. Egal wo Roboter ins Zwischenmenschliche rücken sollen, sie können das Menschliche nicht übernehmen. Das können nur Menschen tun. Insofern wird der Mensch eine Art von Ausbildungsberuf werden. Das Menschliche wird Lehrinhalt.
Keine Cloud kann je nachbilden, was zwischen menschlichen Wesen stattfindet. Sie kann es mimen, oberflächlich kopieren – aber es wird immer haken. Man kann die schöne neue Welt, die man uns in Berichten darstellt, ja durchaus für befremdlich und auch gefährlich halten. Die Entwicklung stoppt man allerdings nicht. Was nicht so schlecht ist, denn Arbeit zu erleichtern: Das ist auch menschlich. Wie wir damit umgehen müssen, die Folgen und Verwerfungen: Ein interessantes Thema. Aber dass deswegen alle Arbeit wegfällt, muss man nicht zwangsläufig annehmen. Arbeit wird anders – aber nicht weniger. Bleiben Sie Mensch, dann haben Sie gute Berufschancen.
Der Wochenrückblick der #mehrwutstropfen: Sedieren. Sezieren. Sondieren. Katzenbacher!
#mehrwutstropfen – der Podcast – mit Andy Klünder und Tom Wellbrock
Folge 4
Inhalt:
1. Moin!
2. Schon Wasserstoffperoxid bei Amazon bestellt?
3. Daniela Katzenberger ist nicht schwanger!
4. Sedierung, Sezierung, Sondierung.
5. Neuwahlen oder Minderheitenregierung?
6. Ohne Bundesregierung geht’s auch.
7. Schmeißt Lindner hin?
8. Neue Kinder.
Audioplayer:
Diätenerhöhung? Setzt die Lobbyisten auf Diät!
Deutschland hat momentan keine Regierung. Es hat eine Geschäftsführung. Aber auch ohne amtliche Regierung gehen die Geschäfte voran. Vor vier Jahren, als sich die Sondierungsgespräche zwischen Union und Sozialdemokraten hinzogen, konnte man an dieser Stelle noch daran erinnern, dass Stillstand ja auch Fortschritt sein könne. Eine Gnadenfrist sozusagen. Auf diese Weise kann man heute nicht mehr ganz so gut argumentieren. Denn auch ohne Regierung gibt es kaum ein Durchatmen. Die Verschlimmbesserung des Alltags geht einfach weiter. Ob nun Glyphosat genehmigen oder Diäten ausbauen: Postdemokratie rules! Besonders die Diätenerhöhung während des hiesigen Interregnums erzeugte Wut. Da seien sich die Politiker natürlich einig, da fänden sie Mehrheiten, wo sie sonst keine sähen. Das sei halt wieder mal typisch.
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Halten Sie Abstand, ich bin Doktor!
Identitätsthemen prägen Wahlkämpfe, zwei Yuppies leiten jetzt die Grünzeug-Abteilung der Agendapolitik und eine grüne Oberbürgermeisterin in Lauerstellung wirbt in Frankfurt mit ihrem Doktor-Titel: Nie waren die strukturellen Linken so um Distinktion bemüht.
Stellen wir das gleich mal klar: Es sind nicht zwei Realos, die den Grünen seit Kurzem als Doppelspitze vorstehen. Nein, wir haben es hier eigentlich bloß mit zwei Yuppies zu tun. Der Realo hat indes freilich einen schlechten Ruf im Milieu. So als Widersacher des aufrechten Fundi, hat er es unter Linken schwer. Zugegeben, die grünen Realos, die es seinerzeit gab, die waren echt unerträglich. Bei Joseph Martin Fischer musste man ständig an GroKo denken – also an das ganz große Kotzen. Der Fundi war da natürlich als aufrechter Kämpfer um den richtigen Kurs zunächst mal sympathischer als diese triste Sponti-Fraktion, die Blut geleckt hatte und sich Nadelstreifenzwirn bei Quelle bestellte. Die Begrifflichkeiten aus dieser speziell grünen Empirie heraus so eindeutig zu interpretieren: Das muss gar nicht sein. Realo ist ja auch einer, der festhält, dass nicht jeder Mann Frauen in schwachen Momenten bedrängt. Oder einer, der das Grundeinkommen bezweifelt oder aber gewerkschaftliches Wiedererstarken als politisches Ziel auf der Agenda hat. Der Fundi ist hingegen einer, der #metoo für eine Art Widerstand gegen den Nationalsozialismus hält – halt nur ohne Nazis und Massenmord, aber halt so ein bisschen vom Feeling her.
Ramelow ist ja zum Beispiel auch ein Realo. Er ist aber deswegen nicht etwa dafür, die soziale Frage ad acta zu legen – doch die Fundis halten ihm vor, dass er es bloß als Ministerpräsident aushalten kann, weil er da nämlich – ganz so wie es in der Demokratie halt mal Usus ist – einige Kompromisse eingehen muss. Man sieht schon, der Realo ist nicht per se ein Verräter und der Fundi nicht grundsätzlich auf dem richtigen Weg. Bei Habeck und Baerbock trifft das ja nur bedingt zu. Bei denen haben wir es mit Yuppies zu tun, mit Leuten, die von der Uni in die Welt hinaus gingen und sich auch so relativ lange von dem Ort fernhielten, an dem urlinke Interessens- und Ideenansprüche erwachsen: Vom Arbeitsmarkt – modern gesprochen. Altmodisch würde man von der Werkshalle sprechen oder dem Lastwagen, von der Pflegestation oder dem Hochgerüst …
Sie sind Vertreter einer Gilde, die sich zwar durchaus als linksliberal wahrnimmt, die daher grundsätzlich für Identitäts- oder Toleranzthemen offen ist, jedoch diese Sujets nicht mit der Frage nach sozialer Gerechtigkeit in Verbindung bringen möchte. Denn eine Sache stört ganz massiv an der sozialen Frage: Man müsste mit den Menschen aus den unteren Lohnsegmenten Kontakt aufnehmen, mit den RTL-Konsumenten und den Hartz-IV-Beziehern, die bekanntlich nicht richtig gebildet sind und deren Kinder ja, dem lieben Gott sei’s gedankt, nicht beim eigenen Sonnenscheinchen auf die Schule geht. Man trifft diese dumpfen Unterschichtler ja manchmal im Alltag, beim Penny zwei Straßen weiter oder beim Türken an der Ecke. Und schon da merkt man, dass sie ganz anders ticken. Die essen ja nicht mal Falafel. Da hat man ihnen über Jahre erklärt, dass Bio-Obst eine Ausflucht sein kann und die kaufen sich lieber TK-Pizza. Beim Tegut sieht man sie dann gar nicht. Und das obgleich sie wissen könnten, dass gesund anders geht. Wenn sie dann krank werden, soll es wieder mal die Krankenkasse richten, die Solidargemeinschaft also. Am Ende zahlen wir alle für diese Unbelehrbaren.
Dass eine Großstadt wie Frankfurt anders könnte, weiß die aktuelle grüne Kandidatin für das Amt der Oberbürgermeisterin zu propagieren. Eskandari-Grünberg heißt die Frau. Entschuldigung: Frau Doktor Eskandari-Grünberg. So viel Zeit muss wohl schon sein. Deswegen hat man es auf die Wahlplakate gedruckt. Man muss sich doch abheben. Nicht mal die Kandidatin der Union, ebenfalls eine Frau Doktor, wirbt auf ihren Plakaten mit diesem unnötigen Zierat. Bourdieu ist ein großes Thema in jedem linksintellektuellen Diskurs. Heute vielleicht mehr denn je. Und das wirklich aus berechtigtem Grunde. Keiner vor ihm hat das Abstandsgebot der Eliten so enttarnt, wie es dem Franzosen mit Hilfe seines praxeologischen Ansatzes gelang. Der Elitarismus hat weit um sich gegriffen. Der Neoliberalismus ist nichts anderes, als eine neo-feudale Wirtschaftslehre, die gewisse elitäre Affekte anspricht und die sogar Leute zu elitärem Sendungsbewusstsein erzieht, die faktisch gar nicht in diese Klasse gehören. Die Abgrenzung gegen die ganz Armen ist der Kniff, der die Mittelschicht zu Mittätern bei der Abschaffung des Sozialstaates werden lässt.
Und die linken Kräfte im Lande, die strukturell linken Parteien, was machen die? Kennen sie ihren Bourdieu? Na aber sicher! Hey, es ist doch schnieke, wenn man seinen Namen in eine Diskussion einflechten kann und dabei im Sojamilch-Coffee Fellow to go rührt, damit das ganze auch eine krasse Denkerwirkung zeitigt. Was sind wir wieder philosophisch heute! Dabei zelebrieren sie selbst das Abstandsgebot, haben die Distinktion derart kultiviert, dass man annehmen darf, die haben keinen einzigen Menschen in ihrem näheren Umfeld, der als klassischer Arbeitnehmer über die Runden kommen muss. Und falls doch, falls er klagt, weil er findet, dass da was ungerecht läuft, findet man schon was, weswegen er das so empfindet. Wahrscheinlich liegt da was in seiner Identität im Argen, etwas was ihn unglücklich macht. Bist du schwul und fühlst dich übergangen deshalb? Heterosexismus ist doch das Thema. Soziale Frage? Die haben wir doch schon im Griff! Ohne Klassengegensätze, gibt es dieses Thema doch gar nicht mehr – und Klassen, das sagte uns doch unser Sinn – also der Professor, nicht der siebte -, gibt es ja gar nicht mehr. Ändere also deine Sichtweise, empfiehlt man dann, dann änderst du die Welt. Das ist es, was der französische Soziologe Luc Boltanski als die »Künstlerkritik« bezeichnete, die im progressiven Milieu die »Sozialkritik« ersetzte – sie hat die Introspektion, den Rückzug in die eigene Gefühlswelt, als politische Benchmarks eingeführt und dabei verdrängt, dass das Wort »Politik« schon seinem etymologischen Urprung nach die Allgemeinheit meint.
Das ist ja die Ironie an der Sache. Seit Jahrzehnten hat man Klassengegensätze auch in der strukturellen Yuppie-Linken kleingeredet oder als Hirngespinst abgetan. Dabei leben sie diese Gegensätze ganz ungeniert aus. Frau Doktor buhlt ja nicht mal mehr um die Gunst von Leuten, die als Vertreter der unteren Schichten, vielleicht ein bisschen Argwohn gegen stolze Titelträger pflegen könnten. Man grenzt sich ab, spricht von bildungsfernen Familien, Straßenzügen und Stadtteilen, von RTL-Unterschicht und möchte Wohngegenden und Schulen schön klassistisch trennen. Das an sich linke Projekt soll dann über punktuell gesetzte Toleranzthemen gerettet werden und krepiert dabei langsam und qualvoll.
Was man allerdings über die Zeit rettet, das ist dieses verquere Lebensgefühl, eigentlich zu den Guten zu gehören. Zu denen, die nicht aus der konservativen Ecke kommen, die keinen Schlips tragen und total locker sind im Umgang. Irgendwie links halt. Liberal halt. Nicht verbiestert. Ökonomische Zusammenhänge tun da nicht viel zur Sache. Diese Linksfühligen wären in den Achtzigern noch als schlampig angezogene Yuppies durchgegangen. Young urban professionals. Elitesnobs ohne Bezug für die Lebenssituation ganz normaler Menschen da draußen. Und von der Sozialdemokratie haben wir an der Stelle noch nicht mal angefangen zu sprechen …
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Kontext bitte, Kontext!
Die Bundeskanzlerin stellt die Demokatie in Frage und Gauland verniedlicht das Dritte Reich: Stimmt das alles so? Die schlimmste Waffe im Zeitalter sozialer Medien: Entkontextualisierung. Sie macht Sentenzen zu Selbstläufern und macht – Politik.
Wir sollten piccobello schreiben. So hatte sie es von uns Kindern gefordert, die gute Frau Grundschullehrerin, deren Namen ich im Laufe von mehr als dreißig Jahren vergessen habe. Gleich am ersten Schultag unsere erste Hausaufgabe: »Schreibt piccobello in das Schwungheft, liebe Kinder.« Im Unterricht hatten wir noch bescheiden das große A geübt. Daheim sollte es jetzt also in die Vollen gehen. Und so kam ich mittags heim und berichtete begeistert: »Wir müssen piccobello ins Heft schreiben!« »Piccobello?«, fragte meine Mutter. »Ihr sollt wahrscheinlich schön sauber ins Heft schreiben.« »Neinneinnein, piccobello müssen wir da reinschreiben«, antwortete ich. »So hat es die Lehrerin gesagt. Wirklich!« So ging es hin und her, ich war damals schon ein sturer Mensch. Irgendwann resginierte meine Erziehungsberechtigte: »Das gibt es doch nicht – sind das also die neuen pädagogischen Ansätze?«, fragte sie sich Mitte der Achtziger. Und dann fragte sie sich gleich noch, wie man dieses piccobello eigentlich schreibe. Herrgott, muss es denn gleich ein italienisches Wort sein? Später, beim ersten Elternabend, bestätigte sich dann freilich das, was meine Mutter schon vermutete: Ich hatte es zu wörtlich genommen – man könnte mit etwas zeitlichem Abstand und analytischer sagen: Mir entging damals der Kontext des Auftrages.
Ich war mal wieder meiner Zeit voraus. Entkontextualisierung wurde erst viel später, mit Eintritt der sozialen Netzwerke in unsere Welt, zu einer Massenpsychose. Der selektiven Wahrnehmung verhalf es immens zum Durchbruch, dass plötzlich jeder seine Affekte in Echtzeit in den Äther klopfen konnte. Denn die zeitliche Barriere, die zwischen dem Hinkritzeln einer Notiz und etwaiger Veröffentlichung vor Publikum einstmals herrschte, die war ein ziemlich gut funktionierender Filter. Als zwischen Schreiben und Veröffentlichen kein gravierender zeitlicher Unterschied mehr herrschte, haben wir damit auch gleich einen ganz natürlichen Filter der Publizistik aufgegeben. Schade eigentlich.
Der zeitliche Druck ist auch dafür verantwortlich, dass man keine Zeit mehr für Kontexte hat. Entkontextualisierung wird gewissermaßen aus der Not der Eile geboren. Schnell hinhorchen, Schlüsse ziehen, Meinung haben: Die Trias der unter Zeitnot leidenden Gesellschaft, die sich jetzt Community nennt.
Ein berühmtes Beispiel, das über Jahre im Netz kursierte und immer noch mal hie mal da auftaucht, ist die Aussage der Kanzlerin, wonach Demokratie keine Selbstverständlichkeit sei. Sie hat einen solchen Satz vor vielen Jahren tatsächlich fallen gelassen, bei jener Rede, die sie zu ihrer Überreichung des Karlspreises in Aachen hielt. Damit war für viele Menschen klar, die gute Frau habe es auf die Demokratie abgesehen. Sie wolle klarmachen, dass man sich als Bürger nicht zu sicher fühlen sollte, denn wenn gewisse Kreise es wollten, wäre es aus und vorbei mit der Demokratie. Tatsächlich hat die Bundeskanzlerin aber ausgeführt, dass gerade sie als Ostdeutsche wisse, dass man um demokratische Grundrechte kämpfen müsse. Natürlich war die Frau nie die hellste Kerze auf dem Volksvertretungskuchen – aber das, was man ihr da unterstellte, war völlig haltlos und aus dem Zusammenhang gerissen. Kontext bei der analytischen Betrachtung? Fehlanzeige! Damit hielt man sich erst gar nicht auf.
Aktuelles Beispiel der Greis, der zwischen Badehose und Provokation die Gemüter vieler nicht nur er-, sondern auch überhitzt. Na klar, wir kennen Gauland mittlerweile ganz gut, er kann ohne ein bisschen Aufmerksamkeit für seine lausigen Sprüche nicht mehr kraftvoll zubeißen. Über Jahrzehnte war er eine klitzekleine Nummer innerhalb der Union und nun darf er seinen ausgewaschenen Pulli sogar als Vorsitzender einer Partei austragen. Aber die ganze Angelegenheit mit dem Vogelschiss, der das Dritte Reich gewesen sei, war auch wieder so ein Fall von Entkontextualisierung. Denn er hat ja auch noch gesagt, dass er von den Nazis nichts halte. Ob das stimmt oder nicht: Man weiß es nicht so genau. Man muss aber, wenn man Gesagtes kommentiert, auch alles Gesagte inklusive beachten.
Vogelschiss ist aber doch ehrlos und pietätlos, das könne man doch nicht sagen, ohne etwas Bestimmtes damit zu meinen. Echt? Vor Jahren habe ich mich mal mit einem Linken unterhalten, der meinte, wenn er an Deutschland denke, dass sehe er im Grunde nur eine ewige Fortführung der deutschen Nazi-Geschichte. Mir war das damals schon zu einseitig, Deutschland gab es vor und nach Hitler – und da ich bildhafte Sprache mag, habe ich festgestellt, dass diese zwölf Jahre doch nur ein Fliegenschiss in einer durchaus komplexeren Geschichte seien. Ein Klacks in einem weitaus größeren Gemälde quasi. Klacks? Fliegenschiss? Der Diskussionspartner nahm mir das nicht krumm. Er kannte den Kontext unseres Gesprächs, immerhin war er ein aktiver Part davon.
Der Witz ist ja, dass Gauland sicher ganz genau weiß, dass man seine Aussagen ohne Kontext zitiert und darauf die Empörungsmaschinerie anwirft. Das sagen ja sogar die, die immer wieder auf diese Masche reinfallen. Und trotzdem entkontextualisieren sie munter mit. Sie behaupten dann analytisch, dass er ja diese Absicht habe, damit kokettiere und nur darauf warte, daher sei die Empörung richtig. Das ist so, als würde Rafael Nadal nur freundliche Bälle zu Novak Djokovic spielen, weil der ihm ja auch so zuspielt, dass er mühelos rankommt mit dem Racket. Andersherum würde doch ein Schuh aus der Sache: Den Mann beim Wort und beim Kontext nehmen und ihn damit ausbremsen. Aber dafür haben wir natürlich keine Zeit, denn Kontext bedeutet Zeit und Zeit ist Geld und Geld haben wir alle zu wenig.
Ohne Kontext reduziert man nicht nur die Aussagen seiner Mitmenschen auf einen Kern, der spekulativ bleibt. Man engt auch seine eigene Sichtweise ein. Der Kontext muss als Syntax des irdischen Daseins begriffen werden, denn nichts existiert isoliert und ohne Einflussnahme äußerer Umstände. Die Entkontextualisierung ist eine Masche, die auf Vereinfachung und Überblickung abzielt. Sie möchte Ordnung in ein Chaos bringen, in dem eine unsympathische Kanzlerin eben nur als Demokratieabbauerin wahrgenommen werden und ein alter verbitterter Mann bloß als klarer Fall eines Nazis begriffen werden kann. Grauschattierungen sind in einer Wahrnehmung ohne Kontext nicht vorgesehen. Die Entkontextualisierung möchte klare Fronten, baut auf Schwarz und Weiß, Gut und Böse – Nischen kommen in diesem Kontext absolut nicht mehr vor.
Das ist an sich keine kleine Sache, denn der Vorgang greift als Massenpsychose um sich und kollektiviert Fehlannahmen und auch falsche Vorgehensweisen. Mit einem, der vielleicht eine Meinung hat, die nicht die Mehrheit seiner Bubble teilt, wird eben nicht mehr diskutiert, man zielt auf Eskalation ab. Einem Kontrahenten, dem man keinen Kontext gestattet, also keinen Rahmen, in dem er gewisse Aussagen und Ansichten bettet, den spricht man im Grunde das menschliche Recht auf Komplexität und Irrationalität ab. Der eindimensionale Blick der Entkontextualisierung entmenschlicht nicht nur aus Zufall gewisse Diskussionen und eröffnet dem Hass ein Forum – er entmenschlicht faktisch denjenigen, dem man eine kontextlose Aussage ankreidet.
Ich möchte nun freilich nicht so tun, als sei jede Empörung Folge einer Entkontextualisierung. Das sicher nicht. Aber ich habe den Eindruck, dass immer häufiger Empörungsthemen genau mit dieser Fehleinschätzung eingeleitet werden. Und das ist Gift: Für die Diskussionskultur – aber auch für die Meinungsfreiheit. Dass dieser Angriff nicht von rechts alleine erfolgt, kann man ausgezeichnet bei der Diskussion um Sahra Wagenknecht erkennen. Die Entkontextualisierung ergreift uns alle. Sie ist nicht ideologiegebunden – sie ist die neue Ideologie eines Zeitalters, in dem wir keine Zeit mehr aufbringen wollen, um über Gesagtes nachzudenken.
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Bodo Schickentanz: „Es geht um die Meinungsfreiheit.“
Bodo Schickentanz betreibt seinen YouTube-Kanal „Mainz Free-TV“ schon seit einigen Jahren. Die Tatsache, dass er dort kritische Beiträge unter anderem zu deutschen Medien realisiert, stand dabei in keinem Konflikt mit seiner Arbeit als Grafiker beim ZDF bzw. 3-SAT. Doch kürzlich änderte sich das plötzlich.
Völlig überraschend erfuhr Schickentanz, dass einige Leute an einigen Schreibtischen des ZDF der Meinung waren, er sei nicht mehr tragbar. Und so erhielt der Grafiker die fristlose Kündigung. Für Schickentanz kein Grund, mit seinem Sender aufzuhören, im Gegenteil.
In unserem Gespräch vom 2. August 2018 geht es natürlich um die Kündigung und die Gründe dafür, es geht aber darüber hinaus um die Meinungsfreiheit insgesamt. Schließlich ist Schickentanz nicht der erste, der wegen vermeintlich zu kritischer Äußerungen und Haltungen seinen Job verlor.
Die Frage liegt also nahe: Wohin geht die Reise unserer Meinungsfreiheit?
Hier geht’s zum Podcast:
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Weiterführende Links:
Mainz FREE-TV: MEDIEN im Juli 2018 … also ich bin raus! • BREAKING NEWS aus Mainz
MEDIEN-AMOKLAUF im Juli 2018 … also ich bin raus! • BREAKING NEWS von Mainz FreeTV
9/11 und die Flugzeuge • Interview mit Bruno Häfliger, ehem. Flugzeugmechaniker bei Swissair
Der Fall SKRIPAL und die „Querfront der Hirntoten“! • Mainz FreeTV-Medienanalyse
SUN WOLF, in DIR SELBST ist die WAHRHEIT, sonst NIRGENDWO • 720p
MEDIEN-Schelte und die Geschichte des „Feuerroten Spielmobils“ (Beitrag vom 5. August 2018)
Kaeser vs. AfD: Ein weltanschauliches Ringen zwischen Neoliberalen
Joe Kaeser hat es geschafft. Der Vorstandsvorsitzende von Siemens hat sich im Anti-AfD-Mainstream etabliert. Schon vor längerer Zeit hat er Frau Weidel die Leviten nicht nur gelesen – er hat sie ihr, ganz dem staatsmännischen Gebaren unserer Zeit, auch gleich noch getwittert. Und was fast noch wichtiger ist: Er hat seine Ablehnung später noch bestätigt und erneuert. Und so wurde aus dem Manager und Arbeitsplatzrationalisierer ein grundanständiger Mann – einer mit dem man rechnen kann im weltanschaulichen Kampf gegen die AfD. Während mancher bei Siemens um seinen Arbeitsplatz bangt, ganze Standorte auf dem Prüfstand müssen, erntet Kaeser in der Öffentlichkeit Lob für sein Engagement gegen die Rechtsaußenpartei.
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Eine Wertzerstörungs-verhinderungsteuer ist notwendig
Mineralwasser ist uns 19 Prozent Mehrwertsteuer wert; Eier und Honig immerhin noch sieben Prozent. Und Aktien? Auch für ihren Kauf wird künftig »ein Mehrwert« entrichtet. Satte 0,2 Prozent sollen es werden. Viel zu wenig!
Was war das neulich noch für ein Ringen um den Mehrwertsteuersatz. Es ging um Tampons, die man mit dem 19-Prozent-Satz verkaufte, als Ware aus dem Luxussegment gewissermaßen. Nun kann man ja streiten, ob das der ganz große Kampf für mehr Gerechtigkeit war oder nicht. Ich lasse das hier bewusst aus der Debatte. Aber immerhin bewegte sich mal was, denn wir sprachen von der Mehrwertsteuer, ob sie denn gerecht sei oder nicht. Überhaupt ist es ja so, dass sie eine Steuer ist, die besonders diejenigen trifft, die über wenig Geld verfügen. Sie bezahlen denselben Satz wie Vermögende: 19 Prozent auf Mineralwasser oder eben sieben Prozent auf Tampons – ganz genauso wie Frau Generaldirektorin.
Bei Aktien sprechen wir hingegen nicht von der Mehrwertsteuer. Es gibt ja auch keine. Immer wieder wurde darüber gesprochen in den letzten Jahren. Dann aber unter dem Label der Finanztransaktionssteuer. Der Kabarettist Volker Pispers hat schon vor Jahren erklärt, dass dieses Stichwort verschleiern soll. Würde man von einer Mehrwertsteuer beim Aktienkauf sprechen, würden die ganz normalen Leute ja verstehen, um was es da wirklich geht. Aber wenn sich ein besorgter Politiker hinstellt und mahnt, dass Finanztransaktionssteuern den Standort gefährden, dann kann sich zunächst nicht jeder dabei was vorstellen. Tendenziell gibt man dem Mahner dann vielleicht sogar recht.
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