Die Bundeskanzlerin stellt die Demokatie in Frage und Gauland verniedlicht das Dritte Reich: Stimmt das alles so? Die schlimmste Waffe im Zeitalter sozialer Medien: Entkontextualisierung. Sie macht Sentenzen zu Selbstläufern und macht – Politik.
Wir sollten piccobello schreiben. So hatte sie es von uns Kindern gefordert, die gute Frau Grundschullehrerin, deren Namen ich im Laufe von mehr als dreißig Jahren vergessen habe. Gleich am ersten Schultag unsere erste Hausaufgabe: »Schreibt piccobello in das Schwungheft, liebe Kinder.« Im Unterricht hatten wir noch bescheiden das große A geübt. Daheim sollte es jetzt also in die Vollen gehen. Und so kam ich mittags heim und berichtete begeistert: »Wir müssen piccobello ins Heft schreiben!« »Piccobello?«, fragte meine Mutter. »Ihr sollt wahrscheinlich schön sauber ins Heft schreiben.« »Neinneinnein, piccobello müssen wir da reinschreiben«, antwortete ich. »So hat es die Lehrerin gesagt. Wirklich!« So ging es hin und her, ich war damals schon ein sturer Mensch. Irgendwann resginierte meine Erziehungsberechtigte: »Das gibt es doch nicht – sind das also die neuen pädagogischen Ansätze?«, fragte sie sich Mitte der Achtziger. Und dann fragte sie sich gleich noch, wie man dieses piccobello eigentlich schreibe. Herrgott, muss es denn gleich ein italienisches Wort sein? Später, beim ersten Elternabend, bestätigte sich dann freilich das, was meine Mutter schon vermutete: Ich hatte es zu wörtlich genommen – man könnte mit etwas zeitlichem Abstand und analytischer sagen: Mir entging damals der Kontext des Auftrages.
Ich war mal wieder meiner Zeit voraus. Entkontextualisierung wurde erst viel später, mit Eintritt der sozialen Netzwerke in unsere Welt, zu einer Massenpsychose. Der selektiven Wahrnehmung verhalf es immens zum Durchbruch, dass plötzlich jeder seine Affekte in Echtzeit in den Äther klopfen konnte. Denn die zeitliche Barriere, die zwischen dem Hinkritzeln einer Notiz und etwaiger Veröffentlichung vor Publikum einstmals herrschte, die war ein ziemlich gut funktionierender Filter. Als zwischen Schreiben und Veröffentlichen kein gravierender zeitlicher Unterschied mehr herrschte, haben wir damit auch gleich einen ganz natürlichen Filter der Publizistik aufgegeben. Schade eigentlich.
Der zeitliche Druck ist auch dafür verantwortlich, dass man keine Zeit mehr für Kontexte hat. Entkontextualisierung wird gewissermaßen aus der Not der Eile geboren. Schnell hinhorchen, Schlüsse ziehen, Meinung haben: Die Trias der unter Zeitnot leidenden Gesellschaft, die sich jetzt Community nennt.
Ein berühmtes Beispiel, das über Jahre im Netz kursierte und immer noch mal hie mal da auftaucht, ist die Aussage der Kanzlerin, wonach Demokratie keine Selbstverständlichkeit sei. Sie hat einen solchen Satz vor vielen Jahren tatsächlich fallen gelassen, bei jener Rede, die sie zu ihrer Überreichung des Karlspreises in Aachen hielt. Damit war für viele Menschen klar, die gute Frau habe es auf die Demokratie abgesehen. Sie wolle klarmachen, dass man sich als Bürger nicht zu sicher fühlen sollte, denn wenn gewisse Kreise es wollten, wäre es aus und vorbei mit der Demokratie. Tatsächlich hat die Bundeskanzlerin aber ausgeführt, dass gerade sie als Ostdeutsche wisse, dass man um demokratische Grundrechte kämpfen müsse. Natürlich war die Frau nie die hellste Kerze auf dem Volksvertretungskuchen – aber das, was man ihr da unterstellte, war völlig haltlos und aus dem Zusammenhang gerissen. Kontext bei der analytischen Betrachtung? Fehlanzeige! Damit hielt man sich erst gar nicht auf.
Aktuelles Beispiel der Greis, der zwischen Badehose und Provokation die Gemüter vieler nicht nur er-, sondern auch überhitzt. Na klar, wir kennen Gauland mittlerweile ganz gut, er kann ohne ein bisschen Aufmerksamkeit für seine lausigen Sprüche nicht mehr kraftvoll zubeißen. Über Jahrzehnte war er eine klitzekleine Nummer innerhalb der Union und nun darf er seinen ausgewaschenen Pulli sogar als Vorsitzender einer Partei austragen. Aber die ganze Angelegenheit mit dem Vogelschiss, der das Dritte Reich gewesen sei, war auch wieder so ein Fall von Entkontextualisierung. Denn er hat ja auch noch gesagt, dass er von den Nazis nichts halte. Ob das stimmt oder nicht: Man weiß es nicht so genau. Man muss aber, wenn man Gesagtes kommentiert, auch alles Gesagte inklusive beachten.
Vogelschiss ist aber doch ehrlos und pietätlos, das könne man doch nicht sagen, ohne etwas Bestimmtes damit zu meinen. Echt? Vor Jahren habe ich mich mal mit einem Linken unterhalten, der meinte, wenn er an Deutschland denke, dass sehe er im Grunde nur eine ewige Fortführung der deutschen Nazi-Geschichte. Mir war das damals schon zu einseitig, Deutschland gab es vor und nach Hitler – und da ich bildhafte Sprache mag, habe ich festgestellt, dass diese zwölf Jahre doch nur ein Fliegenschiss in einer durchaus komplexeren Geschichte seien. Ein Klacks in einem weitaus größeren Gemälde quasi. Klacks? Fliegenschiss? Der Diskussionspartner nahm mir das nicht krumm. Er kannte den Kontext unseres Gesprächs, immerhin war er ein aktiver Part davon.
Der Witz ist ja, dass Gauland sicher ganz genau weiß, dass man seine Aussagen ohne Kontext zitiert und darauf die Empörungsmaschinerie anwirft. Das sagen ja sogar die, die immer wieder auf diese Masche reinfallen. Und trotzdem entkontextualisieren sie munter mit. Sie behaupten dann analytisch, dass er ja diese Absicht habe, damit kokettiere und nur darauf warte, daher sei die Empörung richtig. Das ist so, als würde Rafael Nadal nur freundliche Bälle zu Novak Djokovic spielen, weil der ihm ja auch so zuspielt, dass er mühelos rankommt mit dem Racket. Andersherum würde doch ein Schuh aus der Sache: Den Mann beim Wort und beim Kontext nehmen und ihn damit ausbremsen. Aber dafür haben wir natürlich keine Zeit, denn Kontext bedeutet Zeit und Zeit ist Geld und Geld haben wir alle zu wenig.
Ohne Kontext reduziert man nicht nur die Aussagen seiner Mitmenschen auf einen Kern, der spekulativ bleibt. Man engt auch seine eigene Sichtweise ein. Der Kontext muss als Syntax des irdischen Daseins begriffen werden, denn nichts existiert isoliert und ohne Einflussnahme äußerer Umstände. Die Entkontextualisierung ist eine Masche, die auf Vereinfachung und Überblickung abzielt. Sie möchte Ordnung in ein Chaos bringen, in dem eine unsympathische Kanzlerin eben nur als Demokratieabbauerin wahrgenommen werden und ein alter verbitterter Mann bloß als klarer Fall eines Nazis begriffen werden kann. Grauschattierungen sind in einer Wahrnehmung ohne Kontext nicht vorgesehen. Die Entkontextualisierung möchte klare Fronten, baut auf Schwarz und Weiß, Gut und Böse – Nischen kommen in diesem Kontext absolut nicht mehr vor.
Das ist an sich keine kleine Sache, denn der Vorgang greift als Massenpsychose um sich und kollektiviert Fehlannahmen und auch falsche Vorgehensweisen. Mit einem, der vielleicht eine Meinung hat, die nicht die Mehrheit seiner Bubble teilt, wird eben nicht mehr diskutiert, man zielt auf Eskalation ab. Einem Kontrahenten, dem man keinen Kontext gestattet, also keinen Rahmen, in dem er gewisse Aussagen und Ansichten bettet, den spricht man im Grunde das menschliche Recht auf Komplexität und Irrationalität ab. Der eindimensionale Blick der Entkontextualisierung entmenschlicht nicht nur aus Zufall gewisse Diskussionen und eröffnet dem Hass ein Forum – er entmenschlicht faktisch denjenigen, dem man eine kontextlose Aussage ankreidet.
Ich möchte nun freilich nicht so tun, als sei jede Empörung Folge einer Entkontextualisierung. Das sicher nicht. Aber ich habe den Eindruck, dass immer häufiger Empörungsthemen genau mit dieser Fehleinschätzung eingeleitet werden. Und das ist Gift: Für die Diskussionskultur – aber auch für die Meinungsfreiheit. Dass dieser Angriff nicht von rechts alleine erfolgt, kann man ausgezeichnet bei der Diskussion um Sahra Wagenknecht erkennen. Die Entkontextualisierung ergreift uns alle. Sie ist nicht ideologiegebunden – sie ist die neue Ideologie eines Zeitalters, in dem wir keine Zeit mehr aufbringen wollen, um über Gesagtes nachzudenken.
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