Seit 2014 steht die Halbinsel Krim im Schwarzen Meer unter russischer Kontrolle. Nun hat Kiew einen Zwölf-Punkte-Plan für ihre „Befreiung“ vorgelegt. Von „Säuberung“ und „Entnazifizierung“ ist die Rede. Der Sekretär des ukrainischen Sicherheits- und Verteidigungsrats hat einen Plan vorgelegt, wie die Krim nach dem Ende der Besetzung aussehen soll. Den Zwölf-Punkte-Plan veröffentlichte er auf Facebook. „Säuberung nach dem Vorbild der Entnazifizierung“ Die Vertreter des Machtapparates in Moskau bezeichnete er als „Müll“. Die Staatsdiener auf der Krim, die sich bei der Annexion mit den russischen Besatzern eingelassen hätten, würden einer Säuberung unterzogen nach dem Vorbild der Entnazifizierung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, teilte Danilow mit. Besonders erwähnte er auch Richter, Staatsanwälte und Angehörige der Sicherheitsorgane, die sich 2014 auf die Seite Russlands geschlagen hätten. Ukrainer, die für die von Moskau eingesetzte Regionalregierung gearbeitet haben, sollen strafrechtlich belangt werden, staatliche Pensionen verlieren und von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen werden. Alle russischen Bürger, die nach 2014 auf die Krim gezogen sind, sollen dem Plan zufolge vertrieben werden. Grundstückskäufe und andere Verträge sollen annulliert werden. Außerdem sollten alle politischen Gefangenen, darunter viele Krim-Tataren umgehend freigelassen werden. „Es wird ein umfassendes Programm der „Entgiftung“ umgesetzt, das die Folgen des langjährigen Einflusses der russischen Propaganda auf das öffentliche Bewusstsein eines Teils der Bevölkerung der Halbinsel neutralisiert“, schreibt Danilow in Punkt 9.Passend dazu schließt die TAGESSCHAU:
Danilows Überlegungen kommen in einer Phase des Krieges, in der die ukrainischen Streitkräfte vermutlich eine Offensive zur Rückeroberung russisch besetzter Gebiete vorbereiten. Dabei könnten auch vom Westen gelieferte Kampfpanzer und andere moderne Waffensysteme zum Einsatz kommen. Russische Truppen konzentrieren ihre Angriffe derzeit auf die Stadt Bachmut im Donbass. Die Kämpfe dauern seit acht Monaten an, ohne dass sie die Stadt vollständig erobert haben.Was bei allen Artikeln auffällt: Sie kommen als reine Berichte ohne jegliche Emotionen und Kommentierungen daher. Ganz anders war das noch, als im Februar über einen anderen 12-Punkte-Plan berichtet wurde: Die Friedensinitiative Chinas. Es gibt kein Verbrechen, keinen Kniff, keine Ignoranz, keine Selbstgefälligkeit, keine Dummheit, keinen Trick, keinen Schwindel, keinen Betrug, kein Laster, das der Auseinandersetzung und der Offenlegung vorenthalten bleiben soll. Begegnet ihrer fehlenden Achtung durch Achtung, offenbart ihr Schweigen als Feigheit, ihre Logik als verlogen, ihre Reden zum Eigen- statt Gemeinnutz, ihre Intriganz anstelle ihrer Integrität, doch macht sie nicht vor aller Augen lächerlich, denn wir sind ein Volk, das nur zusammen eine Zukunft hat: Macht euch nicht mit ihnen gemein, sondern verändert euch durch die Auseinandersetzung mit ihnen. Und früher oder später wird die Meinung der Öffentlichkeit den Wert erkennen. Die Auseinandersetzung und die Wahrheit allein genügen wahrscheinlich nicht – aber sie sind die einzigen Mittel, ohne die alle anderen versagen. Damals meinte die TAGESSCHAU, das sei „Keinesfalls ein umfassender Friedensplan“, im ZDF durfte Außenministerin Annalena Baerbock sagen, „Chinas Zwölf-Punkte-Plan unterschlage, dass die Aggression von Russland ausgeht.“, DER SPIEGEL meinte, „Der nutzlose Plan aus China“, ZEIT ONLINE erkannte, „China ist ein Komplize des Aggressors“, die Süddeutsche Zeitung war sich sicher, „Frieden in der Ukraine? Darum ging es Peking nie“ und die FAZ sah nur „Chinas dürres Friedenspapier“. Und noch etwas anderes fällt auf: Im Gegensatz zu der Auseinandersetzung mit dem Plan Chinas sucht man diesmal vergeblich nach Kommentierungen des ukrainischen Plans durch das politische oder journalistische Establishment: Das Land der Ahnungslosen muss nicht über ein paar Meldungen hinaus unnötig gestört werden, mit denen man am Sonntagnachmittag zwischen 14.19 Uhr und 16.28 Uhr journalistischen Pflichten nachkommt. Eigentlich sollte jeder halbwegs gebildete Deutsche über den Begriff „Entgiftung“ stolpern, wenn er im Zusammenhang mit Menschen verwendet wird. So sagte Adolf Hitler in seiner Rede vor dem Deutschen Reichstag am 23. März 1933 – sie wurde als Rede zum Ermächtigungsgesetz bekannt: „Die Regierung ist entschlossen, die „politische und moralische Entgiftung unseres öffentlichen Lebens durchzuführen“. Die weitere Entwicklung ist Geschichte und so ist zu erklären, was ich unmittelbar nach der ersten Wahrnehmung auf meinem Handy in dem oben schon erwähnten Tweet schrieb:
Sind wir schon so weit, Herr @UlfPosh, dass die Medien Werbung für faschistische Ideologie machen: Anstelle der Entgiftung Deutschlands von den Juden die der Krim von russlandfreundlichen Russen durch Ukrainer? https://m.hausarbeiten.de/document/318169Dem entrüsteten Mainstream über einen solchen unangemessenen Vergleich kann entgegengetreten werden. Am 14. Oktober vergangenen Jahres titelte der TAGESSPIEGEL: „Gerüchte um Umgang mit Kollaborateuren: Selenskyj wirbt nach Rückeroberungen um Vertrauen in besetzten Gebieten“. Schon in der Subline lässt man den Leser wissen, „Der ukrainische Präsident betont, dass nur solche Ukrainer, die die Okkupanten unterstützen, etwas zu befürchten haben.“ und fügt sinnigerweise hinzu: „Russland hatte zuvor offenbar Angst geschürt.“ Am 14. November zeigt das ZDF einen freudestrahlenden Präsidenten, der das befreite Cherson besucht. Nach Sätzen über die feiernde, aber notleidende Bevölkerung findet man auch das:
Russische Soldaten, die zurückblieben, als ihre militärischen Befehlshaber in der vergangenen Woche die Stadt verließen, wurden nach Angaben des ukrainischen Präsidenten festgenommen. Die ukrainische Polizei hat die Bevölkerung zudem aufgerufen, bei der Identifizierung von Personen zu helfen, die mit den russischen Streitkräften kollaborierten.Will man wissen, wie es in Cherson weiterging, muss man auf Quellen wie den ANTI-SPIEGEL zurückgreifen. Will man die darin umfangreich diskutierten Kriegsverbrechen in Zweifel ziehen, stolpert man u. a. über ein Foto von Associated Press und kann darüber spekulieren was der ukrainische Präsident meint, wenn er die „Neutralisierung von Saboteuren“ ein laufendes Projekt für die ukrainischen Soldaten nennt. Was sich in dem 12-Punkte-Plan für die Krim manifestiert, bewegt sich in der Nähe der Wannseekonferenz und des Kommissarbefehls. Sicher kann darüber spekuliert werden, dass die gerade jetzt erfolgende Veröffentlichung dem Ziel dient, die gegenwärtigen Truppenkonzentrationen im Raum Saporischschja zu erklären – deren Ziel es auch wäre, sich der Krim zu nähern –, und Russland sozu bewegen, noch größere Anstrengungen zur Verteidigung der Krim zu unternehmen, aber bei der erwarteten ukrainischen Offensive an einer ganz anderen Stelle anzugreifen. Aber das Papier ist in der Schublade und wenn es der Ukraine tatsächlich gelänge, die Krim zu erobern, wissen die Soldaten, was zu tun ist. Der Unterstützung des Westens und insbesondere Deutschlands kann sich die Ukraine dabei sicher sein. Im Januar vergangenen Jahres antwortete Außenministerin Annalena Baerbock auf die Frage, ob ihr erklärter Wille, die Ukraine müsse den Krieg gewinnen, auch die Rückeroberung der Krim beinhalte: „Die Krim gehört zur Ukraine und sie wurde 2014 völkerrechtswidrig von Russland besetzt.“. Auf der Krim-Konferenz im August sicherte Bundeskanzler Olaf Scholz der Ukraine dann zu, sie so lange zu unterstützen, wie es nötig wäre und meinte, die internationale Staatengemeinschaft würde „die illegale, imperialistische Annexion ukrainischen Hoheitsgebiets durch Russland niemals akzeptieren“ – was heutzutage nun bedeutet, die Ukraine so lange zu unterstützen, bis sie in die Lage versetzt ist, den 12-Punkte-Plan umzusetzen. Um sich zu vergegenwärtigen, was das für die Bevölkerung auf der Krim bedeutet, kann man sich neben den Erfahrungen in Cherson auch mal mit den Lebensverhältnissen auf der Krim beschäftigen. Auch hier muss auf den ANTI-SPIEGEL zurückgegriffen werden, der von einer Verdreifachung der Gehälter und Renten nach dem Referendum 2014 schreibt und immer wieder auch Einblicke in den russischen Lebensstandard gibt (1, 2). Dem stehen Berichte über das hochgerüstete Armenhaus Europas und das neue Mexiko gegenüber, aus dem sich Europa mit billigen Arbeitskräften bedient. Man kann sich vorstellen, wie bei einer solchen Perspektive die russische Bevölkerung auch auf das deutsche Engagement schaut. Das darüber hinaus die Weltgemeinschaft sehr genau verfolgt, wie der Westen in seinem Kampf für Frieden und Freiheit eskaliert, und sich fragt, wann für das eigene Territorium ein 12-Punkte-Plan auf der Tagesordnung steht, darf als sicher betrachtet werden – wenn eine zunehmende Anzahl von Erfahrungen der letzten Zeit berücksichtigt wird. Ein Sonntag in Deutschland im April des Jahres 2023: Im Jahr 34 der „Zeitenwende“ des Mauerfalls – in dem ich mich schon eine Weile frage, wie lange wir noch brauchen, um in das Jahr 39 vorzudringen. Gegen 1 Uhr wachte ich auf und meine Gedanken kreisten nur noch um die Informationen des zurückliegenden Tages. Gegen 2 Uhr stand ich auf, machte mir eine Tasse Tee und setzte mich an den Computer. Gegen 6 Uhr legte ich mich wieder für eine Stunde ins Bett. Dann begann ein neuer Tag.
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Bernd Liske (Jg. 1956 / studierter Mathematiker) ist Inhaber von Liske Informationsmanagementsysteme. In seinen Büchern und Artikeln setzt er sich mit sozialen, politischen und wirtschaftlichen Problemen unserer Gesellschaft auseinander, um so Beiträge für die Erhaltung des Wirtschaftsstandortes Deutschland zu leisten. Die in seinem Buch Aphorismen für die Menschwerdung des Affen – Wie der Mensch zum Menschen und wie die Demokratie ihrem Anspruch gerecht werden kann veröffentlichten Aphorismen betrachtet er als Open-Source-Betriebssystem zur Analyse und Gestaltung individueller, unternehmerischer und gesellschaftlicher Prozesse. Das den Aphorismen vorangestellte Essay über die „Auseinandersetzung als Beitrag für die Menschwerdung des Affen“ beschäftigt sich insbesondere mit der Natur der Demokratie und stellt Wege zur Diskussion, wie die westlichen Demokratien eine nachhaltige Zukunft gestalten können.