Sind Gesundheit und Freiheit in der Corona-Episode zwei gegensätzliche Pole? Oder wird die scheinbare Dissonanz nur genutzt, um die Freiheit mit dem Argument der Gesundheit einzuschränken?
Die Worte der Headline dieses Textes habe ich kürzlich in sozialen Medien zur Diskussion gestellt. Die Debatte, die daraus entstand, war merkwürdig bis verwirrend.
So schrieb ein Kommentator Folgendes:
Die Gesellschaft krankt, wenn notwendige Maßnahmen und die sonst üblichen bürgerlichen Ausbeutungsmechanismen nicht differenziert betrachtet, sondern miteinander vermanscht werden.
Ein anderer befand:
Leidet die Gesundheit, so leidet die Freiheit. Eine Gesellschaft, die diesen Zusammenhang nicht erkennt, ist tatsächlich krank.
In einem weiteren Kommentar hieß es:
Wer einmal ernsthaft krank war, der weiß wie sehr seine Freiheit eingeschränkt wird durch Krankheit und nicht nur seine, sondern auch die seiner Angehörigen.
Offenbar müssen wir uns entscheiden. Entweder Gesundheit oder Freiheit. Diese Entscheidung stand nie zur Debatte, solange es die Gesellschaft in der weitgehend heute bestehenden Form gibt.
Was also hat sich geändert?
Kosten-Nutzen-Rechnung? Fehlanzeige!
Was gerade passiert, ist nur schwer zu verstehen. Auf der einen Seite wurde uns jahrzehntelang der neoliberale Gedanke eingepflanzt, nach dem jeder seines Glückes Schmied sei. Eigenverantwortung wurde das unter anderem genannt. Und wer es nicht schaffte, war selbst schuld. Mit Mut, Kraft und Einsatz könne es jeder schaffen, aus Armut oder beruflicher Notlage herauszufinden. Entsprechend wurde das Sozialsystem ausgedünnt und neu aufgestellt. Mit unzureichenden finanziellen Mitteln für die Betroffenen, Sanktionen bei kleinsten Vergehen und dem Zwang, alles annehmen zu müssen, was an Jobs angeboten wird. Ausbildung, bisherige berufliche Laufbahn oder auch Begabungen oder Abneigungen spielen im Neoliberalismus keine Rolle mehr. Denn wer arbeitslos ist, muss schon dafür selbst verantwortlich sein, daher kann die Reaktion darauf nur Druck sein. Sonst verstehen die das ja nie …
Doch Corona stellt das Prinzip des Egoismus und das der Schmiede, die ihr eigenes Glück schmieden, auf den Kopf. Plötzlich geht es nur noch um das Kollektiv. Was unter neoliberaler Führung weitgehend als Freiheit und die Möglichkeit, durch eigene Kraftanstrengung alles erreichen zu können, eingeordnet wurde, gilt nun nicht mehr.
Seit die Corona-Episode begonnen hat, steht die Gesundheit an erster Stelle der Bürgerpflichten. Freilich nicht in erster Linie die eigene (die ist eher ein Begleiteffekt), sondern die der anderen. Wir müssen also alles tun, um unser Umfeld zu schützen, und weit mehr als das. Wir müssen Risikogruppen schützen, die bislang nicht geschützt wurden, die schlecht betreut, schlecht versorgt und mit zu wenig Personal begleitet wurden. Jene Risikogruppen werden nach wie vor nicht geschützt, jedenfalls nicht in ausreichendem Maße, im Gegenteil. Im Jahre 2020 wurde ihnen der letzte Rest Eigenständigkeit genommen, sie wurden isoliert, konnten ihre Verwandten nicht oder unter unwürdigen Bedingungen sehen, und ob und wann sie sterben durften, wurde ebenfalls nach der statistischen Lage beurteilt. Nebenbei wurde überdeutlich, dass das deutsche Gesundheitssystem in den letzten Jahren an allen möglichen Stellen kaputtgespart wurde, Krankenhäuser oder einzelne Stationen schließen mussten, Intensivbetten reduziert wurden und das ausgebildete Personal eingespart wurde.
Trotzdem hat die Gesundheit (oder vielmehr: ihre Instrumentalisierung) das Recht auf Freiheit abgelöst, sie schwebt über allem, was in unserer Gesellschaft passiert. Sie diktiert die Wirtschaft, das Privatleben, sie entscheidet darüber, ob wir Kunst und Kultur erleben dürfen, und sie vernachlässigt – und das könnte zynischer kaum sein – Menschen, deren Gesundheit stark angegriffen ist. OPs wurden bis auf Weiteres verschoben, Menschen mit psychischen Erkrankungen konnten ihre Therapien nicht weiterverfolgen, ihre so wichtige tägliche Routine wurde aus den Angeln gehoben, und damit ihr psychisches Gleichgewicht gleich mit.
Es wurde (meines Wissens) nie eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufgestellt, niemals ernsthaft darüber diskutiert, welche Folgen durch die Corona-Maßnahmen auftreten können. Es wird auch nicht über die eigenen Grenzen hinweg geschaut, nicht auf Volkswirtschaften, die unter den Corona-Maßnahmen leiden, nicht auf Gesundheitssysteme anderer Länder, in denen – bedingt durch die Corona-Politik – andere Krankheiten auf dem Vormarsch sind, die viel schlimmer sind als Corona, und weitaus tödlicher. Auch der weltweite Hunger, der durch die Maßnahmen gegen Corona in neue Höhen steigt, spielt bei den Aktivitäten der politisch Verantwortlichen keine Rolle.
Das Kollektiv als neues Ich
Jetzt also das Kollektiv. Jeder muss nun verantwortungsvoll sein, solidarisch, an die Gefährdeten denkend. Das ist wahrlich in dieser Zeit neu, denn die Kranken und die durch Krankheit Gefährdeten waren eine lange Zeit ein Teil der Gesellschaft. Mal kümmerte man sich besser um sie, mal weniger gut, alles eine Frage der aktuellen Prioritäten. Aber wer krank war, befand sich am Rand der Gesellschaft, und meistens bekam der Rest davon gar nichts mit.
Wie hätte das auch gehen sollen? Konnte es sich jemand leisten, den ganzen Tag darüber nachzudenken, wie es in diesem Moment gerade kranken Menschen ging? Ging uns jeder erkrankte Mensch nahe, jeder Armutstote oder jedes an Hunger gestorbene Kind? Selbst, wenn wir im Fernsehen Bombenangriffe sahen, berührte uns das im besten Fall einen kurzen Moment. Danach wurde im Kopf der Ausschalter gedrückt, das Leben musste ja weitergehen, man hatte Verpflichtungen, Mieten zu zahlen, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen, das Kind in den Kindergarten oder zum Klavierunterricht zu fahren, Flaschen zu sammeln oder sich einen Schlafplatz für die Nacht zu suchen.
Zwar leben wir seit Langem in einer Zeit des Gesundheits-Kults. Wir tun alles dafür, fit zu sein, arbeiten an unseren Muskeln, an der Kondition, essen gesundes Zeug, meditieren, halten uns im Kopf hoch konzentriert, um im Beruf besser als die Konkurrenz zu sein, weißen uns die Zähne und liften unsere Gesichter, um ein paar Jahre jünger und gesunder auszusehen. Krankheit hat da keinen Platz, und wenn sie uns ereilt, schweigen wir, fragen uns, was wir falsch gemacht haben, versuchen, uns – ganz wie des Glückes Schmied – aus der Krankheit wieder heraus zu arbeiten. All das ist privat, der gute Eindruck wird erklärungslos nach außen getragen, der schlechte wortlos im Inneren versteckt.
Jetzt aber ist die Krankheit das Thema Nummer 1 im Land. Nicht irgendeine, nein, es muss schon Covid-19 sein. Entstanden aus einem Virus ist das die einzige Krankheit, die uns alle betrifft, selbst, wenn sie es nicht tut. Wir müssen uns alle an sie anpassen, gleichgültig, ob wir gefährdet sind oder nicht. Wir müssen uns – so hieß es häufig in der jüngeren Vergangenheit – so verhalten, als habe jeder Mensch, dem wir begegnen, Corona. Sicher ist sicher, heißt es diesem Argumentationsmuster folgend.
Die Freiheit, die persönliche Entscheidungsmacht, wird der Krankheit geopfert. Die Folgen spielen keine Rolle. Und diese Folgen sind inzwischen weitreichend bekannt, sie gehen weit über die Wirkung des Virus hinaus, und oft hört man zahlreiche Fachleute (die im Übrigen nie großartig öffentlich in Erscheinung treten dürfen), die darauf hinweisen, dass die Nebenwirkungen dieser Krise schlimmer sind, als das Virus es in „Bestform“ leisten könnte. Aber all das wird ausgeblendet. Das Kollektiv muss handeln, wie das Kollektiv handelt.
Notwendigkeiten
Kommen wir zurück auf die Kommentare, die zu Beginn des Textes zitiert wurden. Bis uns Corona begegnete, konnte man das Argument, dass die Gesellschaft leide, wenn die „notwendigen Maßnahmen“ nicht eingeleitet werden würden, um die Gesundheit zu schützen, faktisch nirgends finden. Es geht hier nicht um ein Aufrechnen, Verharmlosen oder Dramatisieren, sondern um eine ganz nüchterne Betrachtung.
Schon
im Jahr 2015 starben allein an Feinstaub rund drei Millionen Menschen. Bis zum Jahr 2050 könnten es (auch wenn solche Schätzungen über lange Zeiträume schwierig sind) sechs Millionen werden. Von „notwendigen Maßnahmen“ ist zwar in regelmäßigen Abständen immer wieder die Rede. Aber effektive Umsetzungen scheitern immer wieder ausgerechnet an „der Wirtschaft“ und deren „Schutz“. An der Wirtschaft also, die jetzt in weiten Teilen lahmgelegt wurde – wegen des angeblichen Schutzes der Gesundheit.
Das Messen mit zweierlei Maß ist natürlich im Wesentlichen eine politische Entscheidung. Wir werden seit fast einem Jahr monothematisch geführt, es werden monothematisch Entscheidungen getroffen, die von monothematisch aufgestellten Virologen empfohlen werden. Niemand kommt an Corona vorbei, und von jedem wird erwartet, dass er sich positioniert. Wer die Maßnahmen kritisiert, erhält den Stempel „Corona-Leugner“ oder Schlimmeres, sicher ist ihm aber das Etikett des verantwortungslosen Bürgers, der auf seine Mitmenschen keine Rücksicht nimmt. Es ist eine übersichtliche Anzahl von Menschen, die diesem Druck standhält und weiter bei der geäußerten Kritik bleibt.
Man könnte natürlich jeden zur Verantwortung ziehen, der aktiv dazu beiträgt, die Feinstaubbelastung in die Höhe zu treiben, aber so funktioniert das Prinzip nicht. Feinstaub wird als existierend hingenommen, während ein Virus um jeden Preis bekämpft werden muss. Das hat durchaus absurde Züge, denn während ein Virus eine in der Natur auftretende Angelegenheit ist, verhält es sich naturgemäß beim durch den Menschen erzeugten Feinstaub anders.
Aber der eigentliche Punkt, der die aktuelle Corona-Episode so besonders macht, ist ein anderer: der Gedanke an eine Gefahr für den Einzelnen.
Betrachten wir die oben bereits zitierten Kommentare also einmal aus dieser Perspektive:
Leidet die Gesundheit, so leidet die Freiheit. Eine Gesellschaft, die diesen Zusammenhang nicht erkennt, ist tatsächlich krank.
Auf das Individuum bezogen bedeutet das eine Einschränkung der Freiheit, wenn das Individuum krank wird. Je nach Schwere der Krankheit stimmt das ja auch. Anders verhält es sich bei den erwähnten Feinstaubtoten. Sie sind zunächst einmal genauso abstrakt wie an Lungenkrebs Gestorbene für einen Raucher, wobei die Krankheiten austauschbar sind. Ehrlicherweise müsste der Kommentar also so lauten:
Leidet meine Gesundheit, so leidet meine Freiheit.
Der nächste Kommentar unterstreicht das:
Wer einmal ernsthaft krank war, der weiß wie sehr seine Freiheit eingeschränkt wird durch Krankheit und nicht nur seine, sondern auch die seiner Angehörigen.
Auch er bewegt sich im Vagen und wäre so deutlicher:
Ich war einmal ernsthaft krank und weiß, wie sehr das meine Freiheit eingeschränkt hat. Auch meine Angehörigen mussten darunter leiden.
Die Motivation hinter diesen von mir „korrigierten“ Kommentaren ist nachvollziehbar und nicht zu verurteilen. Niemand wünscht sich oder seinen Angehörigen Krankheit oder Tod. Das Problem ist das Generalisieren, das wir seit beinahe einem Jahr erleben. Es gab immer Krankheiten und wird immer Krankheiten geben, auch ansteckende. Doch Corona ist – auch auf die Gefahr hin, jetzt als Leugner bezeichnet zu werden – verhältnismäßig harmlos und betrifft vornehmlich bestimmte Risikogruppen, die zu schützen keine unlösbare Aufgabe wäre.
Doch diese Aufgabe wird von Medien und Politik an die Bevölkerung delegiert. Nun ist die aber nicht in der Lage (oder nur in sehr begrenztem Maße), Alten- oder Pflegeheime und Krankenhäuser zu schützen, das obliegt den Betreibern oder dem Staat. Das ist jedoch das ganze Jahr über kaum geschehen. Und so bleiben am Ende Glühweinstände, Weihnachtsfeiern oder das Abhängen im Park, das für die schlimme Lage verantwortlich gemacht wird.
Und um den Schaden zu begrenzen, dem wir alle so hilflos ausgeliefert sind (die Zahlen sind immer zu hoch, die Zahlen sind immer zu hoch, die Bevölkerung macht nicht mit, die Bevölkerung macht nicht mit), geben wir mit vollen Händen die Freiheit her, sie ist der letzte Hebel, an dem wir ansetzen können. So wird es uns gesagt, immer und immer wieder.
Ist es das wert?
Gesundheit um jeden Preis, unter Zuhilfenahme der Einschränkung oder Abschaffung bestimmter Freiheitsrechte? Das ist tatsächlich die Frage, die wir uns stellen müssen. Wir müssen uns zudem fragen, ob unsere politische Führung wirklich nicht mehr draufhat, als Freiheiten einzuschränken, um die Krise zu beenden. Und wenn es sich so verhält, steht die Frage im Raum, ob die Krise nicht willkommen aufgenommen wird, um genau diese restriktive Politik zu betreiben, die wir seit fast einem Jahr erleben. Da andere Ansätze nicht einmal diskutiert werden, muss man davon ausgehen, dass das Aushebeln von Freiheitsrechten die klar favorisierte Praxis ist und bleibt.
Die Gefahr, die davon ausgeht, ist enorm. Wir haben bereits nach 9/11 erlebt, dass einmal aus den Angeln gehobene Freiheitsrechte nicht wiederkommen. Die politischen Entscheidungsträger tun sich aus vielerlei Gründen schwer damit, ausgesetzte Freiheiten wieder einzuführen. Daher ist die Sorglosigkeit der Bevölkerung nur schwer zu verstehen.
Die Corona-Episode wird vergehen, so oder so, sie ist eine temporäre Erscheinung, die in jedem Fall ein Verfallsdatum hat.
Einmal beendete Freiheit dagegen ist in aller Regel permanent. Und dagegen wird es weder Medikamente noch Impfstoffe geben.