19.4 C
Hamburg

Von der Illusion der Wahlen

Published:

Alle vier Jahre schlurfen wir in die Wahllokale, um der ungeschriebenen Bürgerpflicht des Ankreuzens nachzukommen. Das Gefühl, damit an der Demokratiebildung teilgenommen zu haben, ist jedoch dem einer müden Geste gewichen.

Erst kürzlich machte die CDU der SPD ein verlockendes Angebot. Man könnte doch zusammen mal wieder eine große Koalition bilden. Die Ampel-Konstellation funktioniere eh nicht so gut, warum also nicht mal wieder die Farben Schwarz und Rot kombinieren?

Vermutlich war das Angebot nicht ernstgemeint, sondern eine wahltaktisch motivierte Maßnahme. Der Einwand, dass aber doch derzeit gar keine Wahlen anstehen, muss als irrelevant abgetan werden, denn unsere auf der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehenden, oder besser: auf ihr trampelnden Parteien sind immer im Wahlkampf. Und damit sind wir auch schon beim ersten grundlegenden Problem.

Immer im Wahlkampf

Was auch immer ein Politiker sagt, er sagt es, weil er sich davon einen Vorteil verspricht. Dem könnte man entgegnen, dass dies ein normales Verhalten ist, schließlich befinden sich unsere Parteien in einem Wettkampf um die Gunst der Wähler. Das würde stimmen, wenn ebendiese Gunst anhand von praktischer Politik im Wählersinne erzielt werden würde. Doch das ist nicht der Fall.

Man bedenke einmal, wie Wahlplakate aufgebaut sind. Davon gibt es zwei Kategorien, die, die Inhaltliches zumindest andeuten, und die, denen nicht einmal das gelingt. Andeutungen klingen dann so:

„Klimaschutz mit Wirkung: sichere Arbeitsplätze“ (die Grünen)

Oder so:

„Kanzler für stabile Renten“ (SPD)

Oder auch:

„Für einen starken Sozialstaat“ (die LINKE)

Zuweilen verirrt sich auch einmal eine konkrete Forderung auf Wahlplakaten, etwa, wenn die SPD mit dem Scholz-Konterfei plakatiert:

„12 Euro Mindestlohn wählen – Scholz packt das an“

Die zweite Kategorie ist die des lauten Schweigens, was dann so klingt:

„Respekt für dich. Olaf Scholz“ (SPD)

Oder so:

„Gemeinsam für ein modernes Deutschland“ (CDU)

Oder etwa so:

„Nie gab es mehr zu tun“ (FDP)

Sehr schön und gnadenlos banal klingt auch dies hier:

„Zwei für Deutschland – Alice Weidel und Tino Chrupalla“ (AfD)

In der Summe könnte man sagen, dass den im letzten Bundestagswahlkampf angetretenen Parteien ein modernes, soziales, auf Respekt basierendes mit dem Klima und der Wirtschaft harmonisierendes System ohne finanzielle Sorgen und mit knackigen Renten vorschwebt, in dem es jede Menge Arbeit gibt. Die Realität sieht eine Nuance anders aus, aber vor der Wahl ist nach der Wahl ist vor der Wahl. Und so ist es eine maßlose Verschwendung, zu jeder Wahl neue Plakate zu produzieren, da die Forderungen und Ankündigungen der alten ja tragischerweise immer noch nicht umgesetzt wurden. Andererseits verlassen sich die Behindertenwerkstätten sicher auf regelmäßige Aufträge, und die brauchen ja etwas Planungssicherheit.

Forderungen? An wen?

Was auffällt, ist der Forderungscharakter der meisten politischen Botschaften. Das ist besonders schizophren, wenn sie von Parteien kommen, die ohnehin gerade die Verantwortung in Berlin tragen. An wen wenden sich ihre Forderungen, sind sie es doch selbst, die für ihre Realisierung zuständig wären? Man denke nur an die Forderung nach mehr Wohnraum. Sie wurde gewissermaßen von der Bundesregierung in spe an die de facto-Bundesregierung gestellt. Geworden ist daraus nichts, neuer (und bezahlbarer) Wohnraum ist nach wie vor Mangelware.

Das Sahnehäubchen des Absurden kommt einmal mehr von Sawsan Chebli (SPD). Die Gute hat sich im Sommer 2023 für eine Petition eingesetzt, die laut („laut!“ ist ja ganz in Cheblis Sinne) gegen die Elterngeldstreichung der Bundesregierung aufschreit.

Nun ist das bemerkenswert, weil von dieser Streichung Eltern mit mehr als 150.000,- Euro Jahreseinkommen betroffen sind, zuvor waren es 300.000,- Euro. Das hätte die Chebli gern wieder zurück. Ungeachtet dessen, wie die SPD-Frau Notlagen definiert, ist etwas ganz anderes merkwürdig: Sie gehört einer der Regierungsparteien an, die diese Kürzung beschlossen hat und unterschreibt dann eine Petition dagegen.

Es wird aber noch absurder. Die Initiatorin der Petition ist Verena Pausder. Über die steht in der Wikipedia geschrieben:

„Pausder entstammt in zehnter Generation aus der Unternehmerfamilie des Textilunternehmens Delius aus Bielefeld, bei dem sie auch Gesellschafterin ist. Nach dem Abitur 1998 am Ratsgymnasium in Bielefeld schloss Verena Pausder 2002 ein Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Universität St. Gallen, Schweiz, als lic. oec. als HSG ab.

Pausder absolvierte zunächst ein Trainee-Programm im Beteiligungsmanagement bei der Rückversicherungs-Gesellschaft Münchener Rück. Danach wechselte sie in die Tech- und Startup-Szene, zunächst bis 2008 bei be2 GmbH in München, dann bis 2010 bei scoyo GmbH in Hamburg und schließlich bis 2012 als Geschäftsführerin der Young Internet GmbH.

2012 gründete sie Fox & Sheep in Berlin, heute einer der größten Entwickler für Kinder-Apps in Deutschland. Parallel dazu gründete Pausder 2016 die HABA Digitalwerkstatt. Bis 2019 war sie in beiden Unternehmen Geschäftsführerin. Seit 2020 ist sie gemeinsam mit Miriam Meckel und Léa Steinacker Co-Gründerin der ada Learning GmbH, an der auch die Handelsblatt Media Group beteiligt ist.“

Jetzt wissen wir also, wer für Chebli als notleidend gilt. Und wir bekommen auch eine Ahnung davon, an wen sich die Wahlkampfforderungen bzw. -bitten der Politik wenden: An Banken, Versicherungen, Medien, und wenn wir schon dabei sind, auch noch an die Pharmaindustrie, die Rüstungsindustrie, die IT-Branche und die Vermögensverwalter, um nur einige wenige zu nennen.

Es ist wohl nicht übertrieben, wenn man den schon heute berühmten Satz bemüht und ihn auf die Möglichkeiten der Gestaltung durch die Politik anwendet.

„Du wirst nichts besitzen und glücklich sein.“

Verpflichtende Wahlprogramme

Wahlprogramme sind Schall und Rauch. Sie sind das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt werden. Das ist keine neue Weisheit, aber die Grünen haben mit ihrer Politik erneut deutlich gemacht, wie lächerlich so etwas wie ein Wahlprogramm ist.

Tatsächlich werden Wahlprogramme bei der Bevölkerung kaum noch wahr- und auch nicht ernstgenommen. Man hat sich daran gewöhnt, dass nach der Wahl ohnehin alles ganz anders ist und die programmatischen Punkte kaum eine oder keine Rolle mehr spielen.

Wenn aber Wahlprogramme nicht mehr als verbindliche Dokumente für politische Handlungen empfunden werden, fragt man sich, was schiefgelaufen ist. Das Hinnehmen, das Akzeptieren der Tatsache, dass die Programme der Parteien bedeutungslos sind, ist eines der wesentlichen Probleme unserer Demokratie. Und das muss, wenn Wahlen künftig überhaupt noch eine oder wieder eine Bedeutung haben sollen, zwingend geändert werden.

Bei jedem Produkt, das wir kaufen, bei jeder Dienstleistung, die wir beauftragen, erwarten wir, dass Verpackung und Inhalt stimmig sind. Wir bekommen das, was wir bestellt haben, und wenn es anders ist, sind wir – zu Recht – empört und erwarten Umtausch oder Reparatur. Für die Politik scheint das nicht zu gelten. Es hat sich zu einer Art Naturgesetz entwickelt, dass nach der Wahl die Wahlprogramme in irgendeiner Schublade landen und nicht weiter beachtet werden.

Das Beispiel der Grünen und den Waffenlieferungen mag ein besonders drastisches sein, aber es spiegelt das Kernproblem wider, das sich auf nahezu alle anderen Themen anwenden lässt.

Es wird Zeit für verbindliche und bindende Wahlprogramme. Denn der Kampf um die Gunst der Wähler hat sich zu einem rhetorischen Spiel entwickelt, bei dem der Inhalt hinter der Rhetorik faktisch keine Rolle mehr spielt. Wenn eine oder mehr Parteien vor der Wahl ankündigen, den Wohnungsbau nach vorn zu treiben, sollte es ihre Pflicht sein, dies auch im Koalitionsvertrag zu fixieren. Und der Koalitionsvertrag ist bindend, die Parteien müssen also einen Arbeitsnachweis erbringen, regelmäßig und von unabhängiger Stelle überprüft. Hat ein Koalitionspartner mit dem Wohnungsbau Probleme und will die Pläne so nicht übernehmen, kann keine Koalition zustandekommen.

Schlussbemerkung

Ich habe diesen Text sozusagen aus der Vogelperspektive geschrieben, denn ich selbst wähle schon eine ganze Weile nicht mehr. Darüber ist schon viel gesagt und geschrieben worden, aber ich möchte einen meiner vorrangigen Gründe für meine Entscheidung dennoch kurz darlegen:

Wählen zu gehen bedeutet für mich, mich innerhalb eines grundlegend funktionierenden Systems zu bewegen. Anders ausgedrückt: Es muss inhaltliche Unterschiede zwischen den Parteien geben, die über die unverbindlichen Wahlprogramme hinausgehen. Die Parteien müssen so etwas wie eine voneinander abweichende DNA haben. Für die LINKE muss also die soziale Frage im Vordergrund stehen, für die Sozialdemokraten die Arbeiterschaft, die FDP steht für liberale Politik und die Unionsparteien für christliche und konservative Werte. Die Grünen – und jetzt wird es wirklich absurd – vertreten Umweltschutz und Friedenspolitik.

Natürlich soll es Überschneidungen geben, doch jede Partei braucht eine eigene Charakteristik, über die sie sich von den anderen Parteien abhebt und absetzt. Das ist nicht mehr der Fall. Ich glaube, es war Oskar Lafontaine (kann mich aber irren), der die deutsche Parteienlandschaft einmal als „Ein-Parteien-System“ bezeichnet hat, in dem keine Unterschiede mehr auszumachen sind. Das trifft es meiner Meinung nach sehr gut.

Wenn man mir also vorwirft (es ist der Klassiker der Gegenargumente), ich würde als Nichtwähler meine Stimme der Konkurrenz geben, frage ich zurück: Welche Konkurrenz? Es bringt mir nichts, wenn ich die SPD wähle, damit die CDU nicht stärkste Kraft wird, weil ich keine Unterschiede zwischen den beiden Parteien ausmachen kann. Wir sprechen also von einer Parteienlandschaft, in der sich die Parteien leichtfüßig und höchst zufrieden bewegen, die aber meinen Anspruch an sie als Bürger nicht widerspiegelt.

Das ist in aller Kürze der Grund dafür, dass ich mich für das Nichtwählen entschieden habe.

Schlussbemerkung nach der Schlussbemerkung

Noch ein paar Worte zum „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW). Ich schätze die Politikerin Wagenknecht sehr, ich schätze sie, weil sie immer wieder, ohne zu ermüden, die soziale Frage in den Raum stellt. Sie bringt diese auch ins Spiel, wenn andere damit gar nicht rechnen oder meinen, das Thema sei in diesem oder jenem Zusammenhang unpassend. Das ist es nicht, denn die soziale Frage wird – davon bin ich überzeugt – mit darüber entscheiden, ob der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland wieder herzustellen ist. Insofern legt Wagenknecht den Finger immer wieder in die Wunde, die die Mutter aller Probleme ist.

Es gibt noch mehr Züge, die ich an Wagenknecht mag, und es ist unter anderem ihre Ausdauer, sich wieder und wieder den gleichen, teilweise völlig absurden Argumenten zu stellen. Ihre Positionen im Ukraine-Krieg deckten sich nicht immer mit meinen, aber das kann ich auch nicht erwarten.

Ob die angestrebte Partei von Sahra Wagenknecht erfolgreich sein wird, wird man sehen. Denn zunächst einmal ist sie eine zwar neue Partei, aber eben auch eine, die sich in das bestehende System einfügen muss, zumindest wenn sie über den Weg von Wahlen Veränderungen erzielen will. Das ist für mich die Schwachstelle der Partei. Zum einen wird sie vermutlich ähnlich behandelt werden wie die AfD, die zwar an Wählern hinzugewonnen hat, aus der politischen Diskussion aber weitgehend ausgeschlossen wird. Zum anderen dürfte der mediale Gegenwind erheblich sein, denn die Journalisten der „Qualitätsmedien“ werden von derselben Hand gefüttert wie die Politiker der Altparteien.

Es gibt natürlich noch jede Menge „Kleinigkeiten“, die zum Problem werden können. Unterwanderung der Partei etwa, Rufmord, konstruierte oder tatsächliche Skandale, um nur einige zu nennen. Und auch die Frage, wie und ob es vermeidbar sein wird, vom System der Altparteien früher oder später eingefangen, eingekauft zu werden, dürfte mittelfristig relevant werden. Ich bin ziemlich sicher, dass Wagenknecht hier ungefährdet ist. Sie ist lange genug im Geschäft und hat sich meines Wissens nicht korrumpieren lassen, daher halte ich es für unwahrscheinlich, dass sie an diesem Punkt gefährdet ist. Aber es gibt nicht nur Sahra Wagenknecht, und die Politik ist ein Mikrokosmos, von dem man nie weiß, wie nach einer Weile die Sterne für wen stehen.

Alles in allem aber ist es nicht zielführend, zum jetzigen Zeitpunkt Spekulationen anzustellen, die im Zweifel der neuen Partei gleich zu Beginn nur schaden. Es braucht, wenn schon keine generelle systemische Veränderung, eine neue Partei, die sich die soziale Frage auf die Fahne schreibt, und zwar aufrichtig und konsequent.

Mit Sahra Wagenknecht kann es diese geben. Und womöglich bin ich in Zukunft sogar wieder bereit, zum Wahllokal zu schlurfen und mein Kreuz an eine Stelle zu setzen, von der ich glaube, es könnte die Chance auf Verbesserungen bringen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen und ist für unsere Podcasts der »Technik-Nerd«.

Related articles

spot_img

Recent articles

spot_img