Die Bundesrepublik Deutschland hat zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine nationale Sicherheitsstrategie ausgearbeitet. Für die deutsch-russischen Beziehungen verheißt das Dokument nichts Gutes, denn Deutschland sieht in Russland die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit in Europa.
“Das heutige Russland ist auf absehbare Zeit die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist ein eklatanter Bruch mit der Charta der Vereinten Nationen und der kooperativen europäischen Sicherheitsordnung”, stellt der Text klar.
Als ich diesen Satz gelesen hatte, empfand ich vor allem eins – tiefes Bedauern. Der Satz bringt die Weigerung der Bundesregierung zum Ausdruck, in Abläufen zu denken. Damit verweigert sie sich einer gemeinsamen Suche nach einer ausbalancierten Sicherheitsarchitektur für Europa, die allen Ländern auf dem europäischen und eurasischen Kontinent zugutekommt.
Vereinfachte Klärung der Schuldfrage
Der Satz bringt zudem den Willen zum Ausdruck, Schuld immer nur bei Russland zu suchen. Das, was die Bundesregierung “russischen Angriffskrieg” nennt, passierte einfach so, plötzlich und ist daher ein “Zivilisationsbruch”. Da schwingt auch ein sehr deutscher Rassismus in der Formulierung mit. Wer deutsche Medien verfolgt, hat sicher bemerkt, der slawische Untermensch ist zurück. Das rassistische Klischee wird in der Berichterstattung über Russland und die Bürger Russlands regelmäßig bemüht.
Die Bundesregierung fällt mit ihrer nationalen Sicherheitsstrategie hinter den Geist der Aufklärung und sie fällt auch hinter den Gründungsgedanken der UNO zurück. Für die Bundesregierung geht es um die Schuldfrage und damit um die Frage nach der angemessenen Strafe – nicht um Lösungen. Es geht nicht um Diplomatie, nicht um Aushandeln und Ausbalancieren.Was die angemessene Strafe ist, hat die deutsche Außenminsiterin gleich zu Beginn der militärischen Spezialoperation deutlich gemacht: “Russland ruinieren”.
Dabei hat der Konflikt in der Ukraine eine lange Geschichte, an der auch Deutschland Anteil hat. Deutschland war Garantiemacht im Rahmen des Minsker Abkommens und ist seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen, die Ukraine zur Umsetzung zu drängen. Die ehemalige deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat zugegeben, es sei bei der Aushandlung nur darum gegangen, Zeit zu gewinnen, damit die Ukraine stärker werde.Dies teilte sie im vergangenen Jahr in einem Interview mit der deutschen Wochenzeitung “Die Zeit” dem erstaunten Publikum mit. Ziel war nicht, Frieden herzustellen, sondern Russland zu täuschen. Das Völkerrecht wurde dazu instrumentalisiert.
Das Völkerrecht gilt für alle außer für Deutschland
Im April hat der UN-Menschenrechtsrat eine Resolution verabschiedet, in der er die einseitigen Sanktionen als völkerrechtswidrig verurteilt. Sie verstoßen zudem gegen die Menschenrechte, weil sie die Armen und Ärmsten am härtesten treffen. Auch darüber spricht man in Deutschland nicht, sondern denkt aktuell über Sekundärsanktionen nach, um Länder und Unternehmen zu bestrafen, die an der Umgehung der Sanktionen beteiligt sind.
Schon vor 2014 hat sich die Bundesregierung und die EU massiv in die inneren Angelegenheiten der Ukraine eingemischt und einen maßgeblichen Beitrag zu ihrer Destabilisierung geleistet. Auch davon will man heute nichts mehr wissen. Man habe lediglich die Demokratiebewegung unterstützt.
Dass die Ukraine dank dieser westlichen Einmischung heute weiter entfernt von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist als jemals zuvor in ihrer jungen Geschichte, auch davor verschließt man in Deutschland die Augen.
Ebenso wird in Deutschland geleugnet, dass es die USA waren, die mit der Aufkündigung sämtlicher Abkommen zur Rüstungskontrolle die Sicherheitsarchitektur aus der Balance gebracht haben. Man bekennt sich zum transatlantischen Bündnis und begibt sich in eine gefährliche Abhängigkeit.
Deutschland will keinen Frieden – Deutschland will Recht haben
Ganz offen geleugnet wird auch der aggressive und expansive Charakter der NATO. Russland werde durch die NATO nicht bedroht, behauptet man in Deutschland. Bei der NATO-Osterweiterung sei es der Wunsch der jeweiligen Länder gewesen, der NATO beizutreten. Dass es ein Versprechen gab, die NATO nicht nach Osten auszudehnen, wird geleugnet, ebenso dass die NATO nicht unbedingt jeden Kandidaten aufnehmen muss, der beitreten will. Man verweist auf die Freiheit der Bündniswahl und übersieht, dass diese Freiheit dadurch eingeschränkt wird, dass ein Land seine Sicherheit nicht auf Kosten eines anderen Landes erhöhen darf. Auch das gehört zum Völkerrecht, über das man sich hinwegsetzt.Die nationale Sicherheitsstrategie ist leider Ausdruck davon, dass Deutschland keinen Frieden will. Es will Macht.
Was Deutschland dabei übersieht, ist, dass man die deutsche Sicht auf den Ukraine-Konflikt nirgendwo in der Welt teilt. Die Länder außerhalb des kollektiven Westens sehen aufgrund der Chronologie der Abläufe mindestens eine Mitschuld des Westens und auch Deutschlands an der Entstehung und der Eskalation des Ukraine-Konflikts. Hätte sich Deutschland und der kollektive Westen an die Prinzipien des internationalen Rechts gehalten, hätte es den Ukraine-Konflikt nie gegeben. Vor dieser Tatsache verschließt man in Deutschland die Augen. Dass Deutschland zu den Kriegstreibern zählt, weil das Land Waffen in ein Kriegsgebiet liefert, will man ebenfalls nicht wahrhaben. Man hält an der Praktik ebenso fest wie man sie für moralisch gut hält. Die Ukraine wurde grundlos überfallen und braucht alle Unterstützung, um sich zu wehren.
Was man in Deutschland außer Russland noch als große Gefahr wahrnimmt, ist übrigens Desinformation.
Hinweis auf Chronologie ist Desinformation
Als Desinformation zählt in Deutschland all das, was ich hier aufgezählt habe. Der Hinweis auf den historischen Ablauf “spielt dem Kreml” in die Hände, heißt es. Aus diesem Grund wurde in Deutschland das Strafrecht verschärft. Wer in Deutschland öffentlich infrage stellt, dass Russland die Ukraine grundlos überfallen hat, muss mit einer Gefängnisstrafe von bis zu drei Jahren rechnen.
Die nationale Sicherheitsstrategie ist Ausdruck davon, wie sehr sich Deutschland von der Realität abgeschottet hat. Deutschland denkt nicht mehr in Zusammenhängen, sondern nur noch in Begriffen der Moral – allerdings nur, wenn es um Länder außerhalb des kollektiven Westens geht.
Aus diesem Grund ist aus Deutschland in den nächsten Dekaden kein positiver Impuls zu erwarten. Man sollte das Land umgehen und isolieren, bis es wieder zu den Prinzipien aufgeklärten Denkens und zur Diplomatie zurückfindet. Es ist alles sehr bedauerlich.
Dieser Beitrag erschien zunächst auf Russisch in der Komosomolskaya Prawda.