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Identitätspolitik ohne Beißhemmung

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Woher kommt die Zunahme teils aggressiver Identitätspolitik? Und warum reagiert die Politik so positiv darauf? Es ist an der Zeit, ein paar Fragen zu beantworten.

Dieser Artikel erschien zuerst beim „stichpunkt“-Magazin.

Wir müssen zunächst verstehen, dass Identität und Identitätspolitik nicht identisch sind. Identitätspolitik beschäftigt sich nicht mit der Identität der Bevölkerung, im Gegenteil. Vielmehr geht es um eine bestimmte Gruppe, der man sich widmet. Aktuell sind das in Deutschland zum Beispiel die „Queeren“, also Menschen, die nicht heterosexuell sind, sich als Mann wie eine Frau fühlen und als Frau wie ein Mann. Mit dabei sind auch die non-binären, die sich überhaupt keinem Geschlecht zuordnen wollen. Wenn es stimmt, dass es die Erkenntnis gibt, zwischen insgesamt 72 Geschlechtern wählen zu können, hat die Identität des Individuums es deutlich schwerer als die Identitätspolitiker es je haben könnten.

Für einen Außenstehenden wirkt es jedenfalls anspruchsvoll, sich zwischen transgender, genderqueer, genderfluid, bigender, pangender, agender, demigender, abinär und den ganzen anderen Geschlechtern entscheiden zu müssen. Aber auch wenn wir es mit 72 Geschlechtern zu tun hätten, bleibt es doch dabei: Es betrifft nur eine Minderheit. Und genau auf die ist die Identitätspolitik zugeschnitten.

„Ihr seid die Wichtigsten!“

Die aus den USA „eingewanderte“ Identitätspolitik betraf in ihren Anfangszeiten Indigene und Schwarze, die sich – zu Recht! – mit ihren Identitäten nicht gleichberechtigt fühlten. Daran hat sich im Kern nichts geändert, auch wenn es im Laufe der Jahrzehnte zu punktuellen Verbesserungen kam. Grob gesagt könnte man die Forderungen der Indigenen und der Schwarzen in den Vereinigten Staaten als Anerkennung ihrer Geschichte und Gegenwart bezeichnen, aber eben auch als den Wunsch dazuzugehören. Radikale Teile dieser Bevölkerungsgruppen mögen sich zwar bewusst für die Abspaltung von der restlichen Bevölkerung entscheiden. Das hängt aber in der Regel mit historischen Gegebenheiten, persönlichen Erfahrungen oder schlicht individuellen Charaktereigenschaften zusammen. Der Mensch neigt grundsätzlich dazu, sich einer Gruppe zugehörig fühlen zu wollen.

Die Gemeinde der 72 Geschlechter in Deutschland tickt anders. Sie wollen nicht dazugehören, sondern in ihrem Anderssein akzeptiert und respektiert werden. Dagegen ist zunächst einmal nichts einzuwenden, jedem Menschen sollte dieser Wunsch erfüllt werden. Wenn die Teilnehmerin einer LGBTQ-Veranstaltung bei einer Befragung ins Mikrofon sagt, sie sei eigentlich ein vier Monate alter Fuchs und ein anderer Teilnehmer sich für einen Rudelführer hält, fordert das die allgemeine gesellschaftliche Toleranz aber ohne Frage heraus. Trotzdem könnte man sagen: Ok, wenn du das so siehst, mir soll’s recht sein.

Was wir jedoch im Augenblick erleben – und das wird sich sicher auch wieder ändern, so wie sich alles im Laufe der Zeit ändert -, ist eine gewisse Erwartungshaltung. Man muss die Rudelführer und jungen Füchse nicht einfach nur erdulden, sondern sie mögen, irgendwie. Man muss ihre Forderungen verstehen, sich ihrer Sorgen und Nöte annehmen, und man muss sie ganz, ganz vorsichtig behandeln, damit die zerbrechlichen Seelen nicht verletzt werden.

Das mag wie eine provokante Formulierung klingen, jedenfalls hoffe ich das, denn genauso ist es auch gemeint. Denn es gibt Menschen, die interessieren sich schlicht nicht für die Schicksale von LGBTQ-Leuten, Mensch*innen oder Non-Binären. Die wollen in Ruhe Fußball gucken, ein gutes Buch lesen oder Pilze sammeln und mit 72 Geschlechtern einfach nichts zu tun haben. Doch da sind sie schief gewickelt. Wenn in Berlin feierlich die Regenbogenfahne gehisst wird, weiß man, was die Stunde geschlagen hat. Von nun an betrifft uns das alle. Was genau, weiß nicht jeder, aber alle müssen sich positionieren, solidarisch sein und Verständnis haben.

Als jemand unter einem Facebook-Post den Christopher-Street-Day betreffend vorsichtig den Poster fragte, ob es denn in Ordnung sei, wenn ihm dieser Tag ziemlich egal sei, musste er die Antwort über sich ergehen lassen, dass er in diesem Fall ein „homophobes Arschloch“ sei. Er fand sich damit ab, kündigte die Facebook-“Freundschaft“ und ging seiner Wege. Doch dieses Beispiel macht deutlich, dass die Identitätspolitik gnadenlos ist. Wenn die Politik sich erst einmal entschieden hat, sich auf die Seite einer bestimmten Minderheit zu schlagen, gibt es weder Gnade noch ein Zurück für den Rest der Menschen. Sie werden kollektiv in Haft genommen und verantwortlich gemacht für alles, was nicht zu 100 Prozent konform läuft.

Der Bundestag (ge)denkt

Am 27. Januar wird bekanntlich der „Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“ begangen. Für Bundestagsmitglieder eine Pflichtveranstaltung, und wer fehlt, muss sich erklären. Für nicht erklärungsbedürftig hielt das Hohe Haus dagegen die Idee, auch den „queeren Opfern“ des Nationalsozialismus zu gedenken. Judith Basad schrieb dazu in einem Kommentar:

„Zu behaupten, dass diese heutigen Lifestyle-Aktivisten Opfer von NS-Verbrechen wurden, ist vor allem eines: Geschichtsklitterung und eine Relativierung der NS-Verbrechen. Denn es gab keine „queeren Opfer“ in der NS-Diktatur, weil es sexuelle Identitäten wie „agender“, „non-binär“, „genderfluid“ oder gar „FLINTA+“-Personen zu dieser Zeit nicht gab.“

Tatsächlich gibt es unterschiedliche Meinungen zu der Frage, ob man am 27. Januar ausschließlich an die Opfer des Holocaust oder auch an andere Leidtragende des Nationalsozialismus erinnern soll. Die einen argumentieren, dass eine Ausweitung des Gedenkens die Singularität des Holocaust in Frage stelle und somit die Shoa relativiere. Andere sagen, dass jedem Opfer gedacht werden müsse, weil das Leid vielfältig und nicht gegeneinander aufgerechnet werden solle.

Zum Leid der Opfer gehörte auch das von Homosexuellen, die fraglos unter den Nazis Grauenhaftes erleben mussten bzw. zu Tode kamen. Der Vorwurf, der Bundestag relativiere die NS-Verbrechen, wenn er den „queeren Opfern“ gedenkt, ist jedoch gerechtfertigt, und damit sind wir wieder mitten in der Identitätspolitik. Es gab nun einmal damals keine „Queeren“, wenn sich also jetzt die, die non-binär oder was auch immer sind, als Hitlers Opfer darstellen, ist das in höchstem Maße falsch. Doch das identitätspolitische Problem ist noch etwas anders gelagert, denn Trans-Aktivisten machen häufig das, was das Thema so ernst werden lässt: Sie positionieren sich als Opfer, denen es noch schlechter ging als den Juden.

Folgende Zitate sollen das verdeutlichen:

„Terfs wollen Endlösung, wollen Tote.“

„Terfs“, das sei kurz erläutert, sind Frauen, die sich gegen Trans-Aktivismus stellen. Ein weiteres Zitat:

„Die Binarität von Geschlechtern ist kein „Glaube“ das ist wissenschaftlicher Konsens in der Biologie. Es ist bis heute nicht widerlegt . Demnach wäre jeder Evolutionsbiologe gleichzusetzen mit einem Nazi.“

Den Höhepunkt stellt das dritte Zitat dar:

„Ich finde es auch so schlimm, dass bei den Massenvernichtungen in der NS Zeit vergessen wird, dass Menschen mit Behinderungen, Menschen mit psychischen Störungen und eben auch trans Menschen nicht nur ebenfalls ermordet wurden, sondern sogar die ersten waren.“

Das ist Identitätspolitik in Reinkultur. Es stellt das eigene Leid an die erste Stelle der Bedeutsamkeit und erhebt sich somit gegenüber allen anderen Opfern.

Mit dem Abschluss dieses Abschnitts sei betont, dass es völlig abwegig ist, jeder Transpersönlichkeit das Gefühl einer identitätspolitischen Überlegenheit zu unterstellen. Das Gegenteil ist der Fall, und aus den Erfahrungen meines Umfeldes weiß ich, dass die Betroffenen häufig sogar peinlich berührt sind, wenn sie dem Wahnsinn der Trans-Aktivisten begegnen. Es geht hier also tatsächlich weniger um eine Geschlechteridentität als vielmehr um eine gesellschaftspolitische Haltung, die auf Herablassung anderer und Erhöhung seiner selbst ausgerichtet ist.
Eine wesentliche Rolle spielt dabei übrigens die Politik.

Falsch verstandener Minderheitenschutz

Minderheitenschutz ist etwas Wundervolles! Denn bestimmte Gruppen vor Angriffen, Nachteilen und Diffamierungen zu schützen, ist wichtig, soll der gesellschaftliche Zusammenhalt das sein, was Bundespräsident Steinmeier so schön in Worte gefasst hat: der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält.

Nun kann man Transmenschen als Minderheit bezeichnen, es gibt laut trans-ident.de nämlich nicht sonderlich viele davon:

„Bei einem Bevölkerungsstand von 81.471.834 Einwohnern in der Bundesrepublik Deutschland im Juli 2011 entspricht dies 0,01413% der Bevölkerung, die in diesen 16 Jahren ein Verfahren nach dem Transsexuellengesetz durchlaufen haben.“

Neuere Zahlen lieferte 2020 der „Stern“. Demnach gibt es erhebliche Probleme bei der Zählung und der Definition, aber laut „Stern“ sieht die Sache so aus:

„Diese Zahl ist aufgrund der uneinheitlichen trans* Definitionen und fehlender Zählungen schwer zu bestimmen: Einen Hinweis geben die Verfahren zur Namens- und Personenstandsänderung, die Menschen nach dem Transsexuellengesetz bei den Amtsgerichten anstoßen (2687 Personen im Jahr 2020). Mit Blick auf die jährlichen Geburten (rund 773.100 im Jahr 2020) entspricht das etwa 0,35 Prozent der Bevölkerung.“

Klammern wir uns nicht an Stellen hinter dem Komma. In jedem Fall haben wir es hier mit einer Minderheit zu tun, die schützenswert ist, das kann man sagen.

Doch wie sieht dieser Schutz eigentlich aus? Immerhin gelten im Jahr 2023 noch immer hohe Hürden für Schwule, wenn sie Blut spenden wollen. Der Herr der Gesundheit, Karl Lauterbach, will das jetzt endlich ändern, man wird sehen, ob und wie es dazu kommt. Da es beim Transsexuellengesetz naheliegenderweise auch um Gleichberechtigung geht, müsste man genaugenommen auch die Ungleichheit bei der Bezahlung von Frauen im Berufsleben mit einbeziehen. Doch das geschieht nicht, und damit sind wir beim eigentlichen Punkt.

Denn wenn Minderheitenschutz bedeutet, dass Mehrheiten ignoriert werden, stimmt etwas mit der Herangehensweise nicht. Welche alleinerziehende Mutter hat etwas vom neuen Transsexuellengesetz? Welches Kind in Armut kann sich von dem Gesetz etwas kaufen? Welcher Bürgergeld-Empfänger profitiert davon? Welcher Niedriglöhner findet mehr in seinem Portemonnaie? Sie alle rücken immer weiter in den Hintergrund, erfahren kaum noch Beachtung, es sei denn, einmal im Jahr erscheint der neue Armutsbericht der Bundesregierung. Dann wird zwei Tage lang tief durchgeatmet, man ist schockiert, empört sich, gelobt Besserung und hisst die Regenbogenflagge.

Ein letztes Beispiel: Fridays for Future. Die Sprachrohre dieser Bewegung sind in aller Regel junge Menschen, die sich finanziell keine Sorgen machen müssen und sich ganz ihrem Thema widmen können. Bezeichnend ist ein Gespräch, das vor einiger Zeit in der Talkshow „Markus Lanz“ stattfand. Darin merkte der damals noch recht kritische Kevin Kühnert (SPD) an, dass für Menschen mit kleinen Renten oder Gehältern die Frage nach der Umsetzung der Klimaziele nicht so einfach sei. Sinngemäß sagte Kühnert, dass das Klima keine große Rolle spiele, wenn der Kühlschrank leer sei.

Neubauer antwortete sinngemäß, dass sie sich ja liebend gern Gedanken über ihre Rente machen würde, das Klima aber nun mal eben das größere und wichtigere Thema sei. Das stimmt für sie ganz sicher, ist aber ein Schlag ins Gesicht all jener, die sich sehr wohl Gedanken über ihre Rente machen müssen und dabei Blut und Wasser schwitzen.
Trotzdem ist der Klimaschutz das politische und gesellschaftliche Thema Nummer 1 geworden. Die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens hängen wie ein Damoklesschwert über einer Vielzahl von Menschen, die sich fragen: Wie soll ich das finanziell schaffen?

Identität ist für alle da!

Zumindest sollte es so sein. Es geht ja auch um das Identifizieren mit dem Land, in dem man lebt. Mit der Art des Lebens, der Mentalität. Aber eben auch um Wertschätzung, darum ernst genommen zu werden und sich als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu fühlen.
Dieses Gefühl, dazu zu gehören, geht vielen Menschen verloren oder ist längst verschwunden. Schuld trägt auch die Identitätspolitik, die sich auf kleine Gruppen und ausgewählte Themen fokussiert und unzählige Menschen in ihrem Alltag zurücklässt.

Letztlich kann man es auf einen Punkt zusammenfassen: Identitätspolitik klammert zu erheblichen Teilen soziale Fragen aus. Dadurch kann die Ungleichheit im Land stillschweigend zunehmen, während sich Politik, Medien und Gesellschaft auf die vermeintlich „größeren“ Fragen konzentrieren. Es ist bezeichnend, dass beispielsweise im Zusammenhang mit dem Klimaschutz die soziale Frage zwar durchaus angesprochen, aber letztlich in eine abstrakte Zukunft verschoben wird. Denn Klimaschutz muss man sich auch leisten können, und für die Menschen, die schon heute drastische Probleme haben, über die Runden zu kommen, ist das Jahr 2030 oder 2038 ziemlich uninteressant.

Um es zu unterstreichen: Die Anliegen von Transmenschen oder Klimaaktivisten haben ihre Berechtigung, auch wenn man geteilter Meinung darüber sein kann, wie wichtig sie letzten Endes für die gesamte Gesellschaft sind. Diese unterschiedlichen Bewertungen gehören zu einem gesunden gesellschaftlichen Diskurs. Doch dieser Diskurs wird mehr und mehr in eine Ecke gedrängt, sitzt oft auf einer „stillen Treppe“ und findet nicht statt. Dagegen werden bestimmte und gewünschte Meinungen in die Nähe einer Religion gerückt, die eine kritische Auseinandersetzung nicht mehr zulässt. Wir sind da auf einem Weg, der uns schon viel zu weit weg geführt hat von gesellschaftlichen Diskussionen, an denen unterschiedliche Meinungen nicht nur zugelassen, sondern erwünscht sind.

Die Folgen der Identitätspolitik sind gravierend und täglich zu spüren. Sie drücken der Gesellschaft Meinungsstempel auf, von denen sie sich nicht mehr befreien kann. Identitätspolitik trägt also vor allem zu einem bei: dem Verlust der Identität.

Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen und ist für unsere Podcasts der »Technik-Nerd«.

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