Es ist der Wahnsinn! Gestern habe ich ein Buch fertiggestellt, an dem ich 24 Jahre gearbeitet habe. Es trägt den Titel „Blutrausch“ und handelt von meiner Großmutter, die Telefon-Schach mit einem Mafiosi spielte. Heute dann, als ich aufwachte, war ich plötzlich non-binär. Das eröffnete ungeahnte Möglichkeiten.
Das Buch habe ich sofort zu einem Verlag gebracht, der es scheiße fand. Doch dann ließ ich die Bemerkung fallen, mich keinem Geschlecht zuzurechnen. Die Augen der Frau mir gegenüber wurden ganz groß, sie sagte: „Heiliger Strohsack, das wusste ich ja gar nicht!“ Sie befragte mich dann nach meiner Großmutter … nein, das ist natürlich Schwachsinn, sie wollte überhaupt nichts wissen über meine Großmutter.
Ich sagte ihr dann aber doch, dass meine Großmutter die eigentliche Heldin meiner Geschichte ist, und dass ich sie erzähle, die Geschichte, also: meine Geschichte. Weil ich ohne meine Großmutter diese Geschichte gar nicht hätte schreiben können. Die Frau mit den aufen Augen wollte aber gar nicht so viel über meine Großmutter wissen, was gut ist, denn ich weiß auch nicht viel von ihr. In mir ist eine Lücke, eine Erinnerungslücke, ich habe das Vergessen vergessen, und ich erinnere mich nicht mehr genau daran.
Genau. Und so kam es, dass wir über mein Geschlecht sprachen. Also, nein, nicht so, sondern über meine Sache, dass ich non-binär bin und was das mit mir macht. Sie wollte alles wissen, aber ich konnte gar nicht viel sagen. Irgendwie hängt das mit meiner Großmutter zusammen, ich weiß es nicht genau, aber ich spiele bis heute kein Schach. Weil ich die Regeln nicht kenne, und weil ich es irgendwie nicht will, ist so ein Mafiosi-Ding. Die aufen Augen der Frau wurden immer größer, sie sagte, sie müsse telefonieren.
Ich ging dann nach Hause. Und am Abend klingelte das Telefon. Da war ein Mann dran, der etwas von einem Buchpreis sagte. Ich antwortete ihm, dass ich mich da nicht auskenne, aber Taschenbücher seien günstiger als gebundene. Er sagte, er wisse das, wolle aber über mein Buch sprechen, „Blutlache“. Ich sagte ihm, dass mein Buch aber „Blutrausch“ heiße, und er sagte, das sei egal, Hauptsache, ich sei non-binär. Das konnte ich bejahen.
Ich muss jetzt Schluss machen, den ganzen Abend rufen Leute an und fragen nach meinem Buch „Blutsbrüder“, ich sage dann immer, dass ich non-binär bin und mein Buch so nicht heißt. Alle sagen, das sei egal, denn ich sei ja non-binär, hätte eine politische Botschaft für alle.
Gleich stelle ich das Telefon auf stumm und rasiere mir den Kopf. Die Frauen im Irak wollen das so, meinte jemand, der mich auch heute angerufen hat. Oder war es Iran? Ich erinnere mich nicht mehr. Aber der Mann am Telefon sagte, dass es eine gute Aktion sei, mir den Kopf zu rasieren, ich solle aber bloß den Lippenstift drauf lassen. Was für ein alberner Hinweis, natürlich mach ich das!
Ich wünschte, meine Großmutter könnte das alles noch erleben. Aber die ist längst tot, spielt kein Schach mehr. Ein Freund von mir sagte mir, sie sei genau das, was ich auch sei: ein Bauernopfer.