Als ich von der Kampagne „Grundgesetz für alle“ hörte, keimte zunächst etwas Freude in mir auf. In Anbetracht der Tatsache, dass derzeit massive Grundrechtseinschränkungen vorgenommen werden, erschien mir die Idee, explizit auf das Grundgesetz und seine Relevanz hinzuweisen, absolut sinnvoll.
Doch dann folgte die herbe Enttäuschung. Wieder mal.
Denn bei dieser Kampagne geht es nicht etwa um den Kampf für die Grundrechte, die womöglich dauerhaft zu Staub zerfallen, wenn nichts dagegen unternommen wird.
Nein, es geht um die Frage, ob der Begriff „Rasse“ aus dem Grundgesetz gestrichen werden soll. Und wenn es nach der Kampagne geht, soll doch auch gleich noch „endlich das Diskriminierungsverbot zum Schutz von sexueller und geschlechtlicher Identität“ erweitert werden.
Bis heute lautet der Artikel 3, Absatz 3:
Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Das reicht offenbar nicht mehr. Unterstützer der Kampagne sind unter anderem Anne Will, Udo Lindenberg und Carolin Kebekus.
Gibt’s denn nichts Wichtigeres?
Normalerweise kann ich diese Frage nicht ausstehen, denn wann immer sie gestellt wird, soll ein Thema kleingeredet, als irrelevant einsortiert und dementsprechend als komplett überflüssig tituliert werden. Ich habe das nie gemocht, denn wer soll denn bitte entscheiden, ob etwas wichtig ist oder nicht? Und wer sagt dann, worüber stattdessen gesprochen werden soll?
Aber heute, hier und jetzt, mache ich eine Ausnahme und frage: Gibt’s denn nichts Wichtigeres?
Nun kann man vortrefflich über den Begriff „Rasse“ diskutieren. Es gibt zahlreiche Definitionen und Bereiche, in denen er Anwendung findet oder auch nicht mehr.
Weitgehend einig sind sich aber nahezu alle Betrachtungen des Begriffes darin, dass er einen Unterschied aufzeigt. Auf „spectrum.de“ heißt es:
Während im englischen und französischen Sprachgebrauch »race« oft einfach eine Gruppe von Menschen oder die gesamte Menschheit (»human race«) bezeichnet, ohne damit die Absicht einer Klassifizierung oder tiefgreifender Unterschiede zu verbinden, steht »Rasse« im Deutschen für Menschengruppen, die durch genetische Verschiedenheit definiert werden sollen. Im Streit um diesen Rassenbegriff steht biologisch nicht in Frage, daß es genetisch bedingte Unterschiede zwischen Menschen gibt. Fraglich ist aber, ob das biologische Konzept der Rasse und die mit ihm verbundenen Kategorien geeignet sind, die augenfällige Vielfalt der Menschen angemessen zu erfassen.
Selbstverständlich mag es besonders im Zusammenhang der deutschen Geschichte brisant sein, einen Begriff wie „Rasse“ auf eine bestimmte Art zu besetzen. Doch ihn zu streichen, führt nicht dazu, Rassismus zu beenden. Wer Rassist ist, findet andere Wörter, um seiner Haltung freien Lauf zu lassen. Wenn die Leser sich jetzt alle die Augen zuhalten, in der Hoffnung, dann von niemandem mehr gesehen zu werden, spricht das schließlich auch nicht für eine differenzierte Sicht auf die Sachlage.
Zudem: Im Grundgesetz steht ja eindeutig, dass niemand wegen seiner Rasse diskriminiert werden darf. Wozu dann einen Begriff streichen, der auch im historischen Kontext eine wichtige Rolle spielt?
Etwas streichen zu wollen, dessen Ziel die Verhinderung von Diskriminierung ist, wäre absurd und vergleichbar mit folgendem Satz:
Niemand darf wegen seiner Haarfarbe diskriminiert werden.
Wäre es da zielführend zu fordern, dass der Begriff „Haarfarbe“ aus dem Grundgesetz gestrichen wird? Eher nicht, denn wer Blondinen hasst, wird das sicher auch weiterhin tun.
Und last but not least: Rassismus per se ist nicht strafbar. Nur wenn damit die Verbreitung von Hass oder Gewalt einhergeht, liegen strafbare Handlungen vor. Das ist zwar nicht schön, aber es gehört zur Meinungsfreiheit.
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass der Begriff „Rasse“ durchaus im Sinne des Gegenteils von Rassismus angewendet wird, etwa von Soziologen oder Historikern.
Das Grundgesetz: sehr queer
Aber zurück zur Kampangne. Auf der Seite „bz-berlin“ ist nachzulesen:
Der Sammelbegriff „queer“ beschreibt laut der Kampagne Menschen vielfältiger sexueller und geschlechtlicher Identitäten, Geschlechtsausdrücke und Geschlechtsmerkmale. Es geht also nicht nur um Schwule oder Lesben, sondern auch beispielsweise um trans- oder intersexuelle Menschen.
Da fragt sich der verwirrte Leser: Geht es nicht genau darum im Grundgesetz, wenn es heißt, dass niemand wegen seines Geschlechts benachteiligt werden darf? Das schließt schließlich Männer, Frauen und Diverse (also das „dritte Geschlecht“) mit ein.
Streiten könnte man – und das geschieht ja auch schon seit Langem – darüber, ob die sexuelle Ausrichtung ins Grundgesetz mit aufgenommen werden sollte oder müsste. Wenn allerdings das Geschlecht bereits vor Diskriminierung geschützt ist Zumindest auf dem Papier), sollte es folglich auch die sexuelle Ausrichtung sein.
Doch die Kampagne „Grundgesetz für alle“ arbeitet auf einer ganz anderen Baustelle.
Auf der Internetseite heißt es:
Als das deutsche Grundgesetz 1949 in Kraft trat, war es geprägt von den Lehren aus der menschenverachtenden Politik des Nationalsozialismus. Ganz vorn, in Artikel 3, Absatz 3, ist deshalb das Diskriminierungsverbot verankert (siehe oben, der Autor).
Doch trotz ihrer systematischen Verfolgung unter der NS-Diktatur fanden queere Menschen keine Erwähnung.
Als Folge dessen war es möglich, dass jahrzehntelang schwule und bisexuelle Männer unter dem Schandparagraphen §175 strafrechtlich verfolgt werden konnten.
Bis heute bleiben queere Menschen vom im Grundgesetz verankerten Schutz vor Diskriminierung in Deutschland ausgeschlossen. Das wollen wir jetzt ändern.
Abgesehen davon, dass im Jahr 1949 andere Dinge als politisch korrekt galten als heute (und ganz sicher in 50 Jahren gleichfalls andere Dinge als politisch korrekt angesehen werden als heute) – der § 175 ist seit 11. Juni 1994 nicht mehr gültig.
Was allerdings – anders als der § 175 – nicht angetastet wurde, sind die Urteile gegen Schwule, die zwischen 1949 und 1969 gefällt wurden. Nobel hatte sich die Bundesregierung zwar entschlossen, alle Urteile aus der Nazizeit für unwirksam zu erklären. Doch die Urteile aus der Zeit der BRD haben nach wie vor Bestand, und so kann es kommen, dass ein heute fast 90-Jähriger nach wie vor als vorbestraft gilt – wegen „Unzucht zwischen Männern“.
Die Kampagne „Grundgesetz für alle“ ist also nicht mehr als eine Blase, die nicht mal Krach machen wird, wenn sie platzt.
Im Übrigen wäre beispielsweise eine Kampagne sinnvoller gewesen, die auch schwulen Männern erlaubt, Blut zu spenden. Faktisch ist das nämlich noch immer verboten, es sei denn, der Mann, der spenden will, verzichtet ein Jahr lang auf Sex.
Interesse an Diskriminierung, um etwas dagegen zu tun?
Dieses Blutspender-Beispiel eignet sich prächtig.
Grundgesetz für alle!
Die Idee und insbesondere der Zeitpunkt der Kampagne sind ein Schlag ins Gesicht all jener, die jetzt mit massiven Grundrechtseinschränkungen leben müssen. Es ist ein Schlag ins Gesicht all jener finanziell Verzweifelten, die ohne eigenes Verschulden mit einem Berufsausübungsverbot belegt werden. Die Kampagne ist ein Schlag ins Gesicht all der Kinder und Jugendlichen, denen das Recht auf Bildung verwehrt wird. Sie ist zudem ein Schlag ins Gesicht der alten und kranken Menschen, die unter den Auswirkungen der Maßnahmen seit einem Jahr in einem Maß leiden, das oft genug lebensverkürzend ist. Und sie bedeutet noch viele weitere Schläge ins Gesicht von unzähligen Menschen, die auf andere Weise unter der Krise leiden.
Wie Prominente wie die oben genannten in dieser Phase eine solche Kampagne aufziehen bzw. öffentlichkeitswirksam begleiten können, erschließt sich mit den Mitteln des gesunden Menschenverstandes nicht.
Ja, das Grundgesetz muss für alle gelten. Mehr noch, in einer Zeit wie dieser ist es umso wichtiger, auf die Notwendigkeit von Grundrechten hinzuweisen und sie mit aller Deutlichkeit zu fordern. Denn das Grundgesetz zerbröselt gerade wie alte Kekse, und die politisch Verantwortlichen kümmern sich darum herzlich wenig. Im Gegenteil, wenn Grundrechte als „Privilegien“ abqualifiziert werden, die man sich verdienen muss, dann stimmt etwas Grundlegendes nicht.
Daher noch einmal, Frau Will, Frau Kebekus, Herr Lindenberg: Gibt’s denn nicht gerade Wichtigeres?