Dieser Text entstand, bevor sich die Große Koalition am Sonntag, den 9. November 2019 erneut zusammensetzte, um über die Eckpfeiler der Grundrente zu diskutieren. Das Treffen der Koalitionäre ist in diesem Zusammenhang sowieso egal, denn das Konstrukt der Grundrente an sich ist so menschenverachtend, dass die Details keine große Rolle spielen.
(Nachtrag vom 11.11.2019: Nun haben die Koalitionäre also Monate gebraucht, um zu beschließen, was schon im Vorfeld offensichtlich war. Glückwunsch!)
Ich möchte auf zwei Aspekte der Grundrente eingehen
Die Grundrente als empörende Respektlosigkeit
Die SPD hat inzwischen aufgehört, von der „Respektrente“ zu sprechen, und das aus gutem Grund. Die Grundrente hat nicht einmal ansatzweise etwas mit Respekt zu tun. Sie kommt der Darreichung einer Krücke gleich, nachdem dem Empfänger von dem, der sie großzügig verschenkt,
zuvor die Beine gebrochen wurden.
Was einfach nicht mehr gesagt wird: Die Grundrente ist überhaupt nur ein Diskussionspunkt geworden, weil die Löhne sich seit Einführung der Agenda 2010 so dramatisch nach unten entwickelt haben. Was Schröder einst als den größten Niedriglohnsektor in Europa feierte, ist der Grund für das, was die Koalitionäre jetzt debattieren.
Es ist ein Skandal, wenn Hubertus Heil (SPD) davon spricht, dass Menschen etwas für ihre Lebensleistung erhalten sollen, nachdem sie 35 Jahre gearbeitet haben. Denn unter normalen Umständen würden sie sich selbst für ihre Lebensleistung belohnen können. SPD und Union tun so, als würden sie Geschenke an die Rentner verteilen, wenn sie sich – in welcher Form auch immer – auf ein gemeinsames Konzept der Grundrente einigen würden. Sie haben die Menschen jahrzehntelang bestohlen und tun nun so, als wäre es eine noble Geste, wenn sie diesen Diebstahl mit ein paar Euros ausgleichen, die an der Situation der vielen Rentner sowieso kaum etwas ändert.
Die Grundrente ist nichts weiter als eine Geste, die überdecken soll, dass der eigentliche Skandal ihre Notwendigkeit ist.
Noch respektloser: die Bedürftigkeitsprüfung (Jetzt! Neu! Die Einkommensprüfung!)
Der Widerspruch tut weh: Einerseits argumentieren sowohl SPD als auch Union damit, dass sie die Lebensleistung der Rentner anerkennen möchten. Andererseits wird allen Ernstes über eine Bedürftigkeitsprüfung gesprochen. Das ist schon deshalb grotesk, weil eine Überprüfung der Lebensleistung eines Menschen impliziert, dass sie nicht ausreichend ist, dass sie keine „Belohnung“ verdient hätte. Wer 35 Jahre gearbeitet hat – egal, wie viel oder wie wenig er verdient hat -, hat per se eine Lebensleistung erbracht. Dabei ist es völlig egal, ob man 60.000 Euro im Jahr oder 16.000 Euro verdient hat (wohlgemerkt: bezogen auf den Begriff der Lebensleistung, nicht hinsichtlich des Verdienstes).
Verdeutlichen wir das so:
Frau hat bei einem guten Verdienst 35 Jahre in die GRV eingezahlt. Mann ist Zahnarzt. Frau bekommt Rente gemäß der Einzahlungen in die Rentenversicherung. Eine Bedürftigkeitsprüfung findet nicht statt.
Frau hat im Niedriglohnsektor 35 Jahre in die GRV eingezahlt. Mann ist Lagerarbeiter. Frau bekommt Rente gemäß der Einzahlungen in die Rentenversicherung und muss Grundrente beantragen. Eine Bedürftigkeitsprüfung findet statt.
Was soll das?
Man könnte argumentieren, dass es kein Wunder ist, dass die Geringverdienerin auf ihre Bedürftigkeit hin überprüft werden müsse. Schließlich erhält sie ja zusätzlich zu ihrer Rente weiteres staatliches Geld. Das ist bei der Zahnarztfrau nicht der Fall.
Der Argumentation der Befürworter der Bedürftigkeitsprüfung zufolge müsste die Zahnarztfrau aber dennoch überprüft werden. Weil sie ja faktisch so viel Rente gar nicht braucht, die Bedürftigkeit liegt also nicht vor. Warum sollte man ihr beispielsweise eine Rente von 1.800 Euro im Monat gewähren, wenn der Gatte doch jedes Jahr 100.000 Euro nach Hause trägt. Von Bedürftigkeit kann also hier gar nicht die Rede sein.
Doch tatsächlich wird die Gattin des Zahnarztes natürlich nicht überprüft. Und das ist auch richtig so. Sie hat 35 Jahre lang eingezahlt und sich ihre Rente verdient, völlig unerheblich, wie viel ihr Ehemann verdient. Und das müsste auch dann der Fall sein, wenn die Frau während ihrer 35 Jahre nur wenig verdient hätte. Denn ihre Lebensleistung darf nicht an das Einkommen des Mannes gekoppelt werden, sofern es eine Lebensleistung bleiben soll.
Und die Niedrigverdienerin? Sie wird doppelt bestraft, denn sie musste 35 Jahre lang für einen Hungerlohn arbeiten, der nicht ausgereicht hat, ihr eine auskömmliche Rente zu sichern. Sie musste also 35 Jahre lang, obwohl sie gearbeitet hat, jeden Euro diverse Male umdrehen. Dafür wird sie am Ende bestraft. Wenn ihr Mann „zu viel“ verdient oder „zu viel“ Rente bekommt, werden die beiden nochmals bestraft, denn selbst wenn die Einkünfte des Mannes einigermaßen in Ordnung sind, werden diese mit der Rente der Frau zusammengerechnet. Am Ende stehen die Chancen „gut“, dass die Frau die Grundrente nicht bekommt und beide Einbußen hinnehmen müssen. Die Lebensleistung der Frau spielt hier nicht die geringste Rolle. Im Gegenteil, sie wird komplett ignoriert.
Die Grundrente gibt es also zu Ende gedacht nur, wenn sichergestellt ist, dass der oder die Rentner/in auch nach dem Eintritt in die Rente möglichst arm bleibt. Man könnte zynisch sagen, dass eine Bedürftigkeit vorliegen muss, um in eine andere Kategorie der Bedürftigkeit zu rutschen.
Die Diskussion über die Grundrente lenkt ab vom Problem
Das wirklich Üble an der Grundrente ist die Tatsache, dass kaum jemand darüber spricht, wie unmenschlich die Idee an sich ist. Unmenschlich, weil in einer funktionierenden Demokratie ein solches Konstrukt nicht notwendig sein würde. Man mag es kaum noch für möglich halten, aber wer früher einmal einen Job hatte, konnte davon meist sogar als Alleinverdiener seine Familie ernähren, inklusive Urlaub und netten Weihnachtsgeschenken.
Wer heute Löhne fordert, die so ein – nicht gerade ausschweifendes – Leben ermöglichen, steht schnell als Zerstörer der Wirtschaft und des Wohlstandes da.
Nur ist es ja so, dass wir, wenn wir über die Grundrente sprechen, gar nicht mehr über den Wohlstand reden. Die Grundrente würde – in welcher Form auch immer sie letztlich umgesetzt wird – die Armut im Alter kaum schmälern, von Wohlstand ganz zu schweigen. Und dann soll es also eine Belohnung der Lebensleistung sein, wenn man sich im Herbst und Winter seines Lebens kaum über Wasser halten kann?
Die Frage ist also nicht, ob und in welcher Form wir eine Grundrente brauchen. Die Frage muss lauten, wie diese Form der Rentenaufstockung vermieden werden kann. Aber das wird natürlich nicht diskutiert. Weil die verantwortliche Politik weder willens noch in der Lage ist, den Arbeitsmarkt so retour zu reformieren, dass Rentner von dem, was sie in ihrem Arbeitsleben geschaffen haben, auch gut leben können.