Beteiligen sollen wir uns. Sagt man. Wählen sollen wir. Rät man uns. Mitreden, demonstrieren, uns in Parteien oder Organisationen verwirklichen. Heißt es. Machen wir alles. Oder auch nicht. Das Ergebnis ist das gleiche.
Die Tatsache, dass derzeit eine gewisse Melancholie über mir schwebt, hat private, aber auch politische, gesellschaftliche Gründe. Über letztere will ich schreiben.
Ich kann schon lange keine Demokratie mehr erkennen, doch wenn man gut drauf ist und das Ganze satirisch, zynisch oder sogar optimistisch betrachtet, ist es erträglich. Nur geht das im Moment nicht.
Und so sehe ich eine Petition, die sich gegen den Artikel 13 wendet, ich sehe Demonstrationen, und ich sehe die Entscheidung der EU: wir machen das. Ungeachtet des Widerstandes, ungeachtet der berechtigten Sorgen, und vor allem ungeachtet der inhaltlichen Schwächen des Artikel 13. Ich will darauf jetzt gar nicht eingehen, es gibt haufenweise Quellen, die das übernehmen.
Verbunden mit Artikel 13 ist auf Sicht auch die Frage, ob denn wenigstens sie noch zu retten ist: die Redefreiheit. In Gefahr ist sie allemal, auch wenn der Artikel 13 zum einen erst innerhalb von zwei Jahren in nationale Gesetze gegossen werden muss. Und zum anderen so wirr ist, dass man daraus alles oder nichts machen kann. Es könnte aber auch alles werden, um nahezu nichts übrigzulassen, von der Redefreiheit im Netz.
Und dann? Wir werden sehen, aber die jüngere Geschichte zeigt, dass beinahe nichts, was die europäischen Regierungen machen, im Sinne ihrer Bürger ist (und auch nicht und erst recht nicht im Sinne von Bürgern außerhalb der EU). Die deutsche Bundesregierung spielt sich dabei als monströses, unprofessionelles, aber höchst effektives Vorbildmonster auf. Die Bevölkerung geht der sich immer weiter ausbreitenden Verarmung entgegen, was sämtliche anderen Errungenschaften mit in den Abgrund zieht. Das Geld wird an den Bürgern vorbei und für jene ausgegeben, die es wahrlich nicht bräuchten, die kläglichen Argumente für dieses verantwortungslose Handeln sind Alternativlosigkeiten und – wenn es hochkommt – Kommissionen. Die sich dann aber auch nur mit Alternativlosigkeiten herumschlagen.
Statt im Sinne der Menschen zu handeln und sich dem Wohl des Volkes verpflichtet zu fühlen, wird im Geheimen regiert, werden Bündnisse geschlossen, die dem Wohl des wählenden Volkes komplett zuwiderlaufen.
Und nun sollen wir alle zur Europawahl gehen. Zu einer Wahl, die von der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen so weit entfernt ist wie die Vernunft von Mario Barth. Wir sollen nach der Entscheidung über den Artikel 13 frohen Mutes an die Wahlurnen schreiten, um unser Kreuz „für Europa“ zu machen.
Für Europa?
Was ist das?
Was tut es?
Es handelt sich um einen Verbund, der mit sich im Krieg liegt, während die Verantwortungsträger sich stolz rüsten, dass es in der EU seit Bestehen keinen Krieg mehr gegeben habe. Ist das so? Ich erinnere mich an das, was mit Griechenland gemacht wurde, da wurde im übertragenen und wahrsten Sinne des Wortes ausgehungert, Menschen begangen und begehen Suizid, und selbst die Psychotherapeuten müssen „auf die Couch“.
Ich sehe einen französischen Präsidenten, der auf sein Volk schießt, um abends im Lackschuh von einer europäischen Armee zu schwadronieren. Und die anderen applaudieren mit Häppchen in den raffgierigen Mäulern.
Bei genauerer Betrachtung ist nicht mehr viel übrig von der Demokratie. Und die Redefreiheit ist letztlich nur eine Krücke, um uns, die wir bewegungsunfähig geworden sind, das Gefühl zu vermitteln, wir könnten laufen. Menschen, die gegen Freihandelsabkommen auf die Straße gehen (TTIP wurde nicht etwa wegen des Widerstands auf Eis gelegt, sondern weil sich die Mächtigen nicht einigen konnten), werden ebenso ignoriert wie jene, die sich gegen den Artikel 13 auflehnen.
Und dann die Schüler-Demos gegen die verheerende Klimakatastrophe, die sich seit Jahrzehnten abzeichnet und mit nicht mehr als warmen Worten in Kommissionen, Arbeitskreisen oder Koalitionsvereinbarungen abgetan wurde. Es ist bezeichnend, dass den Schülern vorgeworfen wurde, während der Schulzeiten zu demonstrieren. So wie Erzieher möglichst nachts zwischen zwei und drei Uhr streiken sollen.
Doch noch schlimmer als die Verurteilungen und Vorwürfe, die sich die demonstrierende Jugend gefallen lassen musste (eben die, der so lange vorgeworfen wurde, sie wäre einfach zu unpolitisch), sind die wohlwollenden Reaktionen. Merkel sagte sinngemäß, dass sie es gut findet, dass die Schüler auf die Straße gehen, weil die Klimaziele nur mit der Zustimmung der Bevölkerung erreicht werden könnten. Was immer sie damit meinte, sie hat den Demonstrationen (beinahe!) den Todesstoß versetzt, denn wir wissen ja alle, dass das Schlimmste, was passieren kann, Merkels gnadenlose Unterstützung ist.
Aber ich verheddere mich im Konkreten. Denn das Konkrete ist längst bedeutungslos geworden. Beobachten müssen wir die Richtung, die Tendenz, und da sieht es gar nicht gut aus. Reduziere ich mich auf Deutschland, komme ich zum Schluss, dass von der Demokratie nur noch die Redefreiheit übriggeblieben ist. Und selbst die wird systematisch mit Begriffen wie „Querfront“, „Neurechts“ oder „AfD-nah“ diffamiert. Kritische Worte sind geduldet, aber nicht mehr wirklich erlaubt. Neben den Diffamierungen fällt mir beispielsweise der Entzug der Gemeinnützigkeit ein, der gerade seinen Anfang nimmt. Es werden weitere Fälle folgen, da bin ich sicher.
Wir machen uns etwas vor, wenn wir das, was uns umgibt, noch immer als Freiheit empfinden. Aber wir sind ja auch mehrheitlich der Meinung, dass das Rasen auf der Autobahn Freiheit bedeutet. Oder das Böllern am Jahresende. Oder die Frage, ob wir Wurst oder Käse kaufen, oder ob wir uns für die vegane Variante entscheiden.
Wenn das ausreicht, um uns in ein Gefühl der Freiheit zu versetzen, werden wir es wahrscheinlich glatt verpassen, wenn uns auch die Redefreiheit komplett entzogen wird. Auf dem Weg sind wir ja bereits.
Freiheitlich.
Demokratisch.
Grundordnend.