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Rasen auf der Autobahn und Böllern zu Silvester: Ist das Freiheit?

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In den sozialen Netzwerken wird zurzeit enthusiastisch über Freiheit diskutiert. Genauer: über Freiheit, die man sich nicht nehmen lassen will. Zum Beispiel das schnelle Autofahren. Oder das Knallen an Silvester. Ganz ehrlich, es wäre ziemlich armselig, wenn wir den Begriff der Freiheit über solche Beispiele definieren.

Man könnte vermuten, dass die Deutsche Umwelthilfe (DUH) eine masochistische Ader in sich trägt. Nachdem sie sich vehement für Fahrverbote schmutziger Dieselfahrzeuge eingesetzt hatte, legte sie eine Schippe oben drauf. Zunächst ging die Meldung durchs Netz, dass die DUH ein Tempolimit auf Autobahnen fordert: 120 km/h sollten genügen. Und kurz danach sprach sie sich auch noch für ein Böllerverbot an Silvester aus (genau genommen: eine Knallerlaubnis nur an bestimmten Orten). Im Netz war schnell der Teufel los, und immer wieder musste sich die DUH den Vorwurf gefallen lassen, die persönliche Freiheit von Autofahrern und Böllerfreaks einzuschränken bzw. gleich ganz abschaffen zu wollen. Letzteres ist natürlich absurd, denn wenn jemand genötigt wird, auf der Autobahn ein Tempolimit einzuhalten oder zum Böllern an vorgeschriebene Orte zu gehen, ist das keine Abschaffung von Freiheit. Doch hier soll es eher um die Frage gehen, was mit „Freiheit“ eigentlich gemeint sein könnte. Und was das mit Wurst und Käse zu tun hat.

Von Wurst, Käse und Freiheit

Dann wollen wir mal. Freiheit also. Es lohnt sich, diesen von allen möglichen Seiten aus zu betrachtenden Begriff auf seine Alltagstauglichkeit zu prüfen, bevor wir ihn etwas genauer beleuchten.

Eine Frau fährt mit 185 Stundenkilometern über eine Autobahn. Sie hat es nicht eilig, sie liebt es vielmehr, schnell zu fahren. Erfreulicherweise kommt die Frau an ihrem Zielort an, ohne sich oder andere zu verletzen oder zu töten. Die Frau ist der Meinung, von ihrem freiheitlichen Recht des schnellen Fahrens Gebrauch gemacht zu haben (sie erreicht ihr Ziel übrigens nicht früher als eine andere Frau, die lediglich 120 Stundenkilometer gefahren ist, aber im Stadtverkehr umsichtiger war und so eine gute Portion Zeit aufholen konnte).
Ein Mann steht die ganze Nacht zum Jahreswechsel vor seinem Haus und zündet einen Feuerwerksböller nach dem anderen an. Das Wetter ist schlecht, es nieselt (weshalb zahlreiche der Böller nicht explodieren, sondern zischend vor sich hinsterben), es ist kalt, ein beißender Wind macht das Anzünden der Knaller zur Tortur. Dennoch steht der Mann dort, er meint, dass es ein Teil seiner Freiheit ist, die ganze Nacht zu knallen. Der Mann gehört nicht zu der Sorte, die vorher oder nachher Böller anzünden, er will seine Freiheit schließlich nicht ausnutzen und keine Grenzen überschreiten.

Sind die beiden nun also frei in dem, was sie tun? Könnte man meinen, und wenn man das Wort Wahlfreiheit einsetzt, wird gewissermaßen auch ein Schuh draus. Aber mit Freiheit hat das nicht viel zu tun, und somit ist die Forderung, man dürfe weder eine Geschwindigkeitsbegrenzung noch ein Knallverbot an Silvester einführen, keine Forderung nach Freiheit, sondern lediglich nach der Wahl, ob man schnell oder langsam fährt, ob man an Silvester böllert oder es bleiben lässt.

Das Ehepaar im Supermarkt, das sich darüber streitet, ob es den Käse oder die Wurst kauft, streitet auch nicht über Freiheit. Die Entscheidung, die die beiden letztlich treffen (sie können sich übrigens nicht darauf einigen, Wurst und Käse zu kaufen, und erfreulicherweise für die Debatte der beiden ist niemand von ihnen Vegetarier oder Veganer, was den Streit sicher in die Länge ziehen würde), beruht nicht auf dem spontanen Beschluss des Paares. Auch nicht darauf, dass sich einer durchsetzt, während der andere nachgibt. Die Entscheidung beruht vielmehr auf einer Vielzahl von Einflussfaktoren, die die Kaufentscheidung beeinflussen. Gut möglich, dass der Mann im Fernsehen Werbung gesehen hat und deshalb den Käse (oder die Wurst, das ist einerlei) haben will. Auch denkbar, dass andererseits die Wurst (oder eben der Käse) von einer Freundin oder einem Bekannten in höchsten Tönen gelobt wurde, was auf die Entscheidung Einfluss nahm. Womöglich hat der Mann (oder die Frau) schon seit der Kindheit zusammen mit dem geliebten Vater genau diesen Käse, genau diese Wurst gegessen und verbindet damit einzigartige Erlebnisse. Die sogenannte Freiheit, die am Ende steht – in diesem Fall der Besuch im Supermarkt – ist eine Lüge. Denn die Wahlfreiheit, die das Ehepaar hat, ist eine winzig kleine Entscheidung. Und es wäre extrem schade, wenn eine solche Situation tatsächlich stellvertretend für Freiheit an sich stehen würde.

Böllern und Rasen als Definition von Freiheit?

Und was ist mit den beiden anderen, die oben genannt wurden? Die rasende Frau und der Böller werfende Mann? Sind sie frei in ihrer Entscheidung? Und bedeutet es Freiheitsentzug, wenn ihnen die Möglichkeiten, die sie heute noch haben, genommen werden?

Autofahrerin und Böllerwerfer könnten theoretisch auch das Ehepaar aus dem Supermarkt sein (gehen wir doch einfach mal davon aus), die das Einkaufen, das schnelle Fahren und das Zünden von Feuerwerkskörpern als Zeichen der Freiheit ausgemacht haben. Die Frau, die gerne rast, ist aber geprägt durch ein Bild, das sich in unserer Gesellschaft durchgesetzt hat: Fahren, erst recht schnelles Fahren, bedeutet Freiheit! Die ganze Nacht Krach zu machen, zumindest einmal im Jahr und ohne, dass es sanktioniert wird, bedeutet ebenfalls: Freiheit! Was wäre aber, wenn die Gesellschaft ein anderes, genau in die entgegengesetzte Richtung gehendes Bild forciert hätte? Freiheit ist langsam und still?
Beide haben ihre Entscheidungen nicht aus einer Laune, einem Gefühl oder dem unbändigen Wunsch nach Freiheit getroffen, sondern weil sie sich keine Gedanken mehr darüber machen, woher der Impuls ihrer Handlungen kommt. Nämlich nur zu einem kleinen Teil aus ihnen heraus, und zu einem erheblichen größeren aus den Erfahrungen, die sie im Laufe ihres Lebens gesammelt haben. Man könnte also sogar überspitzt sagen: Wirkliche Freiheit bedeutet in diesen konkreten Fällen, die entgegengesetzte Entscheidung zu treffen, also: nicht schnell zu fahren und sich das Geld für die ganze Nacht Ballerei aufzusparen für andere Dinge.

Und was ist Freiheit nun wirklich?

Schwer zu sagen. Wirklich. Aber man nähert sich der Sache, wenn man nicht (zumindest nicht sofort) von der individuellen Freiheit ausgeht, sondern von der Freiheit, die uns alle betrifft bzw. die im besten Fall für uns alle gilt.

Und schon bei diesem Gedanken wird klar, wie vertrackt die Lage ist. Wer mehr Geld als andere hat, verfügt über mehr Freiheit. Er kann sich Dinge kaufen, die sich andere nicht leisten können und ist wahrscheinlich auch in der Lage (meistens ist das so), Einfluss zu nehmen, zum Beispiel auf die Politik. In diesem Fall ist Freiheit mit Macht gleichzusetzen, wobei wir uns von der Freiheit schon wieder entfernen, denn wir wissen ja nicht, was der Mensch mit dem vielen Geld alles anstellen musste, um es zu erlangen. Womöglich gab es unzählige Situationen, die diesen reichen Menschen so unfrei gemacht haben, dass er die Freiheit, die er heute hat, teuer, sehr teuer bezahlt hat. Andererseits könnte es auch sein, dass er schlicht eine üppige Erbschaft sein Eigen nennen kann, also im Grunde überhaupt nichts für seinen Reichtum tun musste. Das macht ihn freier, aber wenn er den Anspruch haben sollte, in einer freien Gesellschaft leben zu wollen, hilft ihm das auch nicht weiter (zugegeben: die wenigsten Erben großer Vermögen machen sich diese Gedanken, aber es gibt sie wohl doch).

Kant hat Freiheit mit einem sehr einfachen und schwer zu widerlegenden Satz in seinem „Kategorischen Imperativ“ beschrieben:

Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.

Mit anderen Worten:

Was Du nicht willst, was man Dir tut, das füg‘ auch keinem andern zu.

(Kant tat sich schwer damit, seinen Satz mit dem zweiten hier genannten gleichzusetzen, er distanzierte sich von dem „Trivialen“ des zweiten Satzes. Da der Vergleich dennoch ein gutes Bild vermittelt, sei Kants Kritik daher hier mit aller Dreistigkeit, die das mit sich bringt, zwar erwähnt, aber weitgehend trotzdem ignoriert.)

Wichtig in diesem Zusammenhang: Kant geht bei seinem Kategorischen Imperativ vom Menschen als „vernunftbegabtes Wesen“ aus. Und stellt uns damit vor eine erhebliche Herausforderung, denn wir leben in einer Zeit, in der man nahezu täglich an der Begabung der Vernunft des Menschen zweifeln kann, ja, oft zweifeln muss. Man kann sich jetzt leicht rausreden und behaupten, dass Kant den zwischenmenschlichen Umgang gemeint haben mag, Freiheit ist allerdings eine ganz andere Baustelle. Könnte man so machen, bringt aber nicht viel, denn wenn man Freiheit als etwas betrachtet, das ein menschliches Bedürfnis und ein menschliches (Grund)recht ist, dann kommt man an Kant nur schwerlich vorbei.

Möge der Leser also in den sauren Apfel beißen und anerkennen, dass Freiheit nur in zweiter Linie eine Errungenschaft des Individuums ist und in erster Linie etwas, das jedem Menschen zusteht, stehen wir vor einem Problem. Möglicherweise nicht wir alle, aber in jedem Fall das rasende, böllernde, Wurst und/oder Käse kaufende Ehepaar.

Denn die beiden können zwar behaupten, dass sie kein Problem mit Kant haben, weil sie selbst ja auch kein Problem mit 180 Sachen auf der Autobahn, mit der Knallerei in der Silvesternacht und schon gar nicht damit haben, Wurst und/oder Käse zu essen. Es sollte also gemäß Kant allen gut gehen, sie tun ja nichts, was man ihnen nicht auch zufügen dürfte. (Wir ahnen, dass Kant mit seiner Kritik am „Trivialen“ wohl doch richtig gelegen haben könnte, ignorieren ihn aber in diesem Punkt trotzdem weiterhin.)

Nun sprach Kant aber vom Menschen auch als vernunftbegabtes Wesen (obwohl er anerkennt, dass diese Begabung wahrlich nicht immer sehr ausgeprägt ist). Und sind wir ehrlich: Ist es vernünftig, mit beinahe 200 Stundenkilometern über die Autobahn zu rasen (wegen der eigenen Sicherheit, der tödlichen Gefahr für andere Menschen, des Benzinverbrauchs, der Umweltverschmutzung und dem inneren Stress, der Anspannung, die dieses Fahrverhalten auslöst)? Wohl eher nicht, es ist hochgradig unvernünftig, und selbst wenn man es eilig hat, hatte man zuvor ja immerhin die „Freiheit“, zeitiger loszufahren.
Die Frage nach der Vernunft der Knallerei an Silvester ersparen wir uns, denn natürlich ist daran überhaupt nichts vernünftig. Und was die Wurst und/oder den Käse angeht, könnte man auf einer anderen Ebene – nämlich der der Lebensmittelherstellung – die Vernunftfrage erneut stellen, und die Antwort wäre wohl die gleiche: nein, alles in allem nicht vernünftig, eher effizient und destruktiv.

Jetzt aber ehrlich: Die Frage nach der Freiheit ist nach wie vor unbeantwortet

Stimmt, das ist sie. Kant bringt uns auf einen guten Weg, aber das beschriebene Ehepaar versaut uns die Nummer. Beide handeln ja nach der Maxime, dass alles, was sie tun, auch gerne „allgemeines Gesetz“ werden könnte. So gesehen müssen sie frei sein und dürften die Definition der Freiheit geliefert haben.

Allerdings könnte man das auch von einem Mörder behaupten. Oder von einem Vergewaltiger. Oder auch von einem korrupten Geschäftsmann, einem Dieb, Einbrecher oder von jemandem, der es liebt, täglich um Mitternacht von einem Kirchenturm voller Inbrunst „Last Christmas“ zu singen (und der das auch noch falsch tut, während er sich selbst mit einem zuvor aufgenommenen Dudelsack begleitet). Diese Leute könnten womöglich von sich behaupten, dass ihr Tun gern in ein Gesetz gegossen werden könnte, doch alles in allem hätten sie ein Problem, die Menschen, die unter ihnen leiden oder sterben müssen, ebenso, und die Gesetzgebung insgesamt würde auch nicht einfacher werden (was man ihr wirklich nicht wünschen kann, sie ist ja schon heute der helle Wahnsinn!).

Der Unterschied, der hier beschrieben wird, ist der zwischen Freiheit und Willkür. Unser Ehepaar agiert nicht nur nicht vernünftig, es interessiert sich auch nicht für die Belange anderer Menschen (oder Tiere). Könnten wir alle alles tun, was wir wollen, wären zahllose andere Beteiligte unserer Willkür ausgesetzt. Schlimmer noch: Könnten wir alle tun, wonach uns gerade der Sinn steht, würde – noch viel mehr als heute schon – das Gesetz des Stärkeren herrschen. Der Muskelprotz vermöbelt den Schwächeren, der Reiche beutet den Armen aus (hoppla, wir stecken mitten drin in der Willkür!), der Schnellere gewinnt gegen den Langsameren. Soll das Freiheit sein? Wollen wir wirklich diese Definition?

Freiheit kann nur die Freiheit aller sein

Davon sind wir weit entfernt. Denn Freiheit bedeutet auch, dass sich jeder verwirklichen kann, die Mittel (und damit die Freiheit) hat, sein Leben selbstbestimmt gestalten zu können. Zur Freiheit gehört auch, bestehende Absprachen, Vereinbarungen, Gesetze, zu hinterfragen, neu zu deuten, zu interpretieren und zu formulieren. Darüber hinaus aber heißt Freiheit eben auch, die Freiheit des anderen zu achten, sich so zu verhalten, dass es anderen nicht schadet. Mit Freiheit ist also auch Verantwortung verbunden, Verantwortung gegenüber anderen, Freiheit erfordert gewissermaßen eine Disziplin im Umgang miteinander, und diese Tatsache ist keine Einschränkung, sondern die verantwortungsvollste Form der Freiheit, die man sich vorstellen kann.

Willkür wird oft als Freiheit beschrieben, als die eigene Freiheit, die nicht beschnitten werden darf. Aber Willkür ist eben nur die individuelle Freiheit, sich über die Wünsche und Bedürfnisse anderer hinwegzusetzen. Das mag sich frei anfühlen für den Einzelnen, doch ganz sicher nicht für jene, denen das individuelle Wohlgefühl nicht ausreicht. Willkür ist letzten Endes nichts anderes als Egoismus, der sich über andere erhebt, deren Bedürfnisse ignoriert oder sogar verurteilt.

Der Großkonzern, der seine Arbeiter und Angestellten ausbeutet und Arbeitsbedingungen schafft, die menschenunwürdig sind, ist für sich genommen frei, dies zu tun, so lange niemand von staatlicher Stelle aus dagegen etwas unternimmt. Er kann aber ganz sicher nicht von sich behaupten, für die Freiheit an sich zu stehen, denn er verhindert die Freiheit oder auch nur ein Stück von Freiheit derer, die er für sich arbeiten lässt. Das ist Ausbeutung, das ist Willkür, es ist Egoismus und Gier, es ist aber definitiv keine Freiheit. Wer so handelt und dabei auch noch die Frechheit besitzt, das mit dem Begriff Freiheit zu titulieren, ist mindestens ein Heuchler, wahrscheinlich aber eher ein Lügner, der den Begriff der Freiheit und seine Arbeiter und Angestellten mit Füßen tritt.

Und unser rasendes, böllerndes und einkaufendes Ehepaar?
Na ja, es mag Freiheit empfinden, wenn es den Dingen nachgeht, die es gerne tut. Eines aber sollte es unbedingt vermeiden, um sich nicht der Lächerlichkeit preiszugeben: sich als Freiheitskämpfer zu bezeichnen.

Eine Nummer kleiner wäre dann doch … vernünftig.  [InfoBox]

Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen und ist für unsere Podcasts der »Technik-Nerd«.

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