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Endlich keine Angst mehr vor der Politik: Kritischer Journalismus und Gratismut

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Der deutsche Journalismus wirkt geradezu befreit, seit die Ampel eigenhändig ihre Lichter ausgeschaltet hat. Nachfragend, kritisch und ohne Scheu konfrontiert er die Koalitionäre mit Fragen und Einordnungen, die das Herz eines jeden kritischen Bürgers höher schlagen lassen. Doch der Gratismut hat einen faden Beigeschmack.

Theo Koll ist ein Journalist, wie er im Buche steht. In Interviews mit der AfD wirkt er angriffslustig, kommt auf den Punkt und lässt unbeantwortete Fragen nur ungern zu. Er hakt nach, er provoziert, ist meist gut vorbereitet und weiß, was wer wann in welchem Zusammenhang gesagt hat (auch wenn er sich meist sehr flexibel in seinen Deutungen zeigt). Vorbei ist es mit dem unbequemen Journalismus aber spätestens, wenn Koll es mit einem Regierungsmitglied zu tun hat. Wer die letzten drei Jahre der Ampel an sich vorbeiziehen lässt und dabei Koll in den Fokus nimmt, wird einen weichgespülten, devoten und dabei die Regierungserzählung brav wiederkäuenden Journalisten sehen, vor dem niemand Angst haben muss, der der SPD, FDP oder den Grünen angehört.

Kürzlich bei Maischberger aber überraschte derselbe Theo Koll, als er die Persönlichkeit des Noch-Kanzlers Olaf Scholz (SPD) als „autistisch“ bezeichnete. Er ist mit dieser Art der Ansprache nicht allein, auch Melanie Amann vom SPIEGEL und zahlreiche andere Kollegen sind seit dem Ampel-Aus in Höchstform. Sie bezeichnen die Politiker und ihre Handlungen, Äußerungen und Dummheiten als das, was sie sind, nämlich als unwürdig, lächerlich, absurd und unverschämt. Sie ordnen den urplötzlich ausgerufenen Bundeswahlkampf ohne Gnade als Theater ein und drängen in direkten Gesprächen die nun schwächelnden Regierungsmitglieder gekonnt in die Ecke.

Der deutsche Journalismus zeigt sich kampfeslustig und immer hart an der Sache. Doch das Loblied muss an dieser Stelle beendet werden, denn nichts von den hier aufgeführten Attributen entspricht der Wahrheit.

„Ihr könnt uns gar nichts!“

Man kann den genauen Zeitpunkt der Liebesbeziehung zwischen Politik und Medien nicht genau bestimmen, aber es ist sicher nicht ganz falsch, wenn man die Kanzlerschaft Angela Merkels (CDU) als Ausgangspunkt der heutigen Symbiose bezeichnet. Im Laufe der Zeit wurde diese immer enger, journalistische Distanz, wie man sie erwarten würde, gibt es heute faktisch nicht mehr. Solange die aktuelle Regierung noch an der Macht und handlungsfähig war, gab es kaum kritische Stimmen von der journalistischen Seite. Brav wurden noch bravere Fragen gestellt, ausweichende Antworten von Politikern wurden gnädig hingenommen, Widersprüche ignoriert.

Die Tatsache, dass das nun vorbei zu sein scheint, hat nicht mit der Erkenntnis vieler Journalisten zu tun, sich nie mit einer Sache gemein zu machen – auch nicht mit einer Guten -, sondern hängt damit zusammen, dass die Ampel-Koalitionäre einfach nichts mehr zu sagen haben, keine Türen öffnen, Journalismus also keinen Profit aus ihr schlagen kann. Regelrecht befreit wirkt es, wenn auf Olaf Scholz, Robert Habeck (Grüne) oder Christian Lindner (FDP) eingetreten wird. Endlich frei und ohne Hemmungen sagen, was ist, was sein könnte und was sein sollte, das wirkt wie Balsam auf jene Journalisten, die jahrelang die Bücklinge vor der herrschenden Politik gemacht haben.

Es ist absolut undenkbar, dass ein Theo Koll vor ein paar Wochen Olaf Scholz einen Autisten genannt hätte, viel zu duckmäuserisch ist dieses Exemplar eines deutschen Journalisten.

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Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen und ist für unsere Podcasts der »Technik-Nerd«.

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