Es gibt ein Phänomen in Russland, das ich “metaphysische Babuschka” nenne. Babuschka bedeutet sowas ähnliches wie “Oma”, metaphysisch bedeutet, jeder hat eine Vorstellung davon, um was es geht, aber die Vorstellung manifestiert sich nicht konkret in der physischen Welt. Man kann den Gegenstand nicht genau bestimmen, dennoch ist er maßgeblich für unsere Vorstellungswelt und damit für unser Leben. Liebe ist Metaphysik, das Gute und das Wahre ebenso wie das Schöne. Natürlich ebenso das Gegenteil von all dem. Die russische Babuschka ist maßgeblich für die Vorstellungswelt der Russen – ich will es erklären.
Die metaphysische Babuschka, die es in der Vorstellung der russischen Gesellschaft gibt, ist sehr arm. Sie geht gebeugt unter der Last ihrer russischen Existenz, die Falten in ihrem Gesicht erzählen die Geschichte eines Lebens voller Entbehrungen und Mühsal. Ihre Pension reicht kaum für das Notwendigste. Ihre Kleidung ist daher verschlissen. Ein kleines Stückchen Fleisch, sagte mir neulich ein Bekannter, bleibt ihr versagt. Medikamente, die sie dringend braucht, kann sich die metaphysische russische Babuschka ebenfalls nicht leisten. Sie lebt daher nicht, fügte eben jener Bekannte hinzu, sie überlebt lediglich. Schuld daran ist irgendwie die Regierung. Die metaphysische russische Babuschka ist für viele Russen ein Sinnbild für ein Leben in Russland, von dem sie gehört haben, mit dem sie mitfühlen, von dem sie selbst aber nicht betroffen sind.
Spricht man mit Russen, dann sind sie überzeugt, dass es die russische Babuschka in der realen Welt gibt. Nicht nur einmal, sondern millionenfach. Sie und ihr imaginisiertes Schicksal sind zudem einer der Maßstäbe für die Bewertung der Politik der russischen Regierung. Es ist natürlich paradox, eine metaphysische Figur zum Gradmesser der Politik zu machen, aber nicht alles, was wir tun, ist rational und vernünftig.
Fit durch die Rente
Natürlich gibt es in Russland Rentner. Ich beispielsweise begegne ihnen in meinem Fitness-Studio. Pensionäre bekommen das Abo zum ermäßigten Preis. Schon kurz vor Öffnung des Studios sammeln sie sich morgens vor dem Eingang und verbringen dann den Vormittag mit Sport und Wellness. Ich habe davor großen Respekt. Ein ähnliches Phänomen kenne ich aus Deutschland nicht.
Frühsport, im Anschluss ins Schwimmbad, dann in die Sauna, eventuell noch eine Runde Tischtennis oder einen Gruppenkurs. Es wird geplauscht, man tauscht sich aus. Ich beschränke mich auf 20 Minuten Kardio und ein paar Übungen, denn für mehr fehlt mir die Zeit. Die Rentner in meinem Fitness-Studio repräsentieren nicht die metaphysische Babuschka, aus Gesprächen jedoch weiß ich jedoch, dass man auch in diesem Personenkreis an ihre Existenz glaubt.
Ein guter Freund von mir pflegt gerade seine Großmutter. Er gibt zu, dass ihre Pension nicht schlecht ist. Das Problem ist ihre Demenz. Demenz ist nicht heilbar, aber es gibt Medikamente, durch die sich die psychischen Auswirkungen abmildern lassen. Der zuständige Arzt hat ein entsprechendes Medikament zur Dämpfung von Unruhezuständen verschrieben. Russland setzt auf die Eigenproduktion von Generika. Sie sind unschlagbar günstig. Mein Freund glaubt jedoch, das deutsche Originalprodukt in ansprechender Verpackung, versehen mit dem entsprechenden deutschen Qualitätsversprechen, sei deutlich wirkungsvoller und mache seine Oma zufriedener.
Russische Generika und Staatsversagen
Es ist einfach besser, meint mein Freund, obwohl das Medikament eigentlich den gleichen Wirkstoff enthält. Das deutsche Qualitätsprodukt ist natürlich schon deshalb schweineteuer, weil man den Ruf von „deutscher Qualität“ mitbezahlen muss. Die Oma meines Freundes kann es sich eigentlich nicht leisten, mein Freund ist empört und bezahlt es aus eigener Tasche. Dass Oma mit einem russischen Generikum ruhig gestellt werden soll, ist für ihn eine Form des Staatsversagens. Man kann sich da den Mund fusselig reden, er bleibt dabei: Es herrschen furchtbare Zustände in Russland, von denen Pensionäre und seine Oma in besonderer Weise betroffen sind.
Die inzwischen pensionierten Eltern eines anderen guten Freundes pendeln zwischen Stadtwohnung und Sommerhaus auf dem Land. Ein gutes Beispiel für russisches Rentnerelend sind auch sie nicht. Ich könnte die Liste der Beispiele verlängern, ich will es auf eine etwas abstraktere Ebene heben.
Rentner bekommen in Russland zahlreiche Vergünstigungen, fahren umsonst mit dem ÖPNV, bekommen Rabatt im Supermarkt, haben Anrecht auf regelmäßige Kuraufenthalte und so weiter und so fort. Nun mag es natürlich dennoch Rentner geben, die durch das aufgespannte soziale Netz durchrutschen – das will ich gar nicht bezweifeln. Aber es gibt die bettelarme russische Babuschka eben nicht als Massenphänomen. Als Massenphänomen gibt es sie nur in der Vorstellungswelt vieler Russen. Damit sind wir beim eigentlichen Problem.
Antirussische russische Propaganda
Die allerschlimmste, alle Fakten grob verzerrende antirussische Propaganda machen die Russen selbst. Sie sind zudem noch eine gute Referenz, denn wer könnte besser über die Zustände in Russland Bescheid wissen, als nun gerade sie. Da wird die in Rubel ausgezahlten Pension in Euro umgerechnet, alle Zusatzleistungen werden ebenso unterschlagen wie die Tatsache, dass all die Pensionäre keine Miete bezahlen, weil sie in ihrer Eigentumswohnung wohnen, und schwupp – hat man das russische Elend in harten Euro ausgedrückt. Da springt die gehässige deutsche Presse natürlich gern drauf an.
Es ist eine Frage der Mentalität. Ich war häufiger in den USA. Die Haltung dort ist grundsätzlich anders. Man bekommt erzählt, was für ein tolles Land die USA seien und nur auf den zweiten Blick erschließen sich die Schwierigkeiten. Viele bezahlen drei Kreditkarten ab, die ganze Existenz ist auf Kante geschnitten, der Druck ist enorm – dennoch sind die Amis von sich, ihrem Land und Lebensstil absolut überzeugt. Yeah!
Russen haben dagegen die Tendenz, nachweisen zu wollen, dass es niemandem auf diesem Globus so schlecht geht, wie ihnen. Es gab vor einiger Zeit eine Umfrage, die ergab, dass ein großer Teil der Russen – ich meine es waren 50 Prozent – nicht das Geld für eine neues Paar Schuhe habe. Präsident Putin war darüber sehr erstaunt. Ich auch. Ich habe daraufhin überall, wo ich war, auf Schuhe geschaut und tue es auch heute noch.
Meine persönliche Einschätzung ist, die Befragten haben ihrer Leidensmentalität und nicht den Fakten entsprechend geantwortet. Man könnte auch sagen, sie haben gelogen, aber das wäre zu kurz gegriffen. Sie haben in ihre Antworten die Sorge um die metaphysische Babuschka einfließen lassen, ist meine Interpretation des Ergebnisses. Wichtig ist, dass man dies berücksichtigen muss, wenn Russen über Russland sprechen.
Russen achten sehr auf das Metaphysische, manchmal kommt das Konkrete dann etwas zu kurz: rund 4 Prozent Wirtschaftswachstum, historisch niedrige Arbeitslosigkeit, enormer Produktivitätsfortschritt, steigende Reallöhne, wachsende Binnennachfrage, enorme Investitionen in die Realwirtschaft und Infrastruktur – all das wird im Gespräch sofort beiseite geschoben und auf das Leiden der metaphysischen Babuschka verwiesen. Es gibt unter Russen einen unverbrüchlichen, durch nichts zu erschütternden Glauben daran, dass es ihnen auch dann schlecht geht, wenn es ihnen nachweislich gut geht. Die westliche Propaganda weiß dieses Spezifikum der russischen Mentalität für ihre Zwecke auszuschlachten.