In Russland sind die ersten Tage des Jahres arbeitsfrei. Vom 31. Dezember bis einschließlich dem 8. Januar ist hier in Russland das öffentliche Leben heruntergefahren. Nach der großen Sause am 31.12. bleibt daher in den darauffolgenden ersten Tagen des neuen Jahres viel Zeit für gegenseitige Besuche im Freundeskreis.
Auch wir hatten in den letzten Tagen viel Besuch. In den Gesprächen ging bisher um ganz unterschiedliche Themen. Gescheiterte Beziehungen, frühere Auslandsurlaube im Schengenraum im Vergleich mit den aktuellen Urlauben in der Türkei, in Dubai, Ägypten oder in Thailand. Es ging um die kleinen wie großen privaten sowie öffentlichen Skandale. Es ging selbstverständlich auch viel um den Krieg in der Ukraine und die Sanktionen.
Ein Freund von uns – als Regisseur beruflich sehr erfolgreich, aber beileibe kein Oligarch – hatte sich vor einiger Zeit ein Haus in Italien gekauft. Das ist wohl futsch. Das hat allerdings nicht dazu geführt, dass er nun Putin den Rücken kehren würde. Er findet einfach die EU scheiße. Ein anderer besitzt ein Haus in Odessa. Er hofft, dass Russland auch den westlich von Cherson gelegenen Teil der Ukraine befreien wird, denn sonst ist sein Haus wohl ebenfalls futsch. Er versichert, die Mehrheit der Menschen in der gesamten dortigen Region würde sich eine Loslösung von der Ukraine schon lange wünschen.
Von der Geduld Putins und Atombomben auf Berlin
Unser Freund mit dem Haus in Italien äußerte sich bewundernd zur Geduld Putins. Putin ließe sich eine Provokation, eine Unverschämtheit nach der anderen bieten und bliebe immer noch ruhig und besonnen. “Ich könnte das nicht. Ich hätte schon längst nicht nur Kiew, sondern auch Washington, Berlin, London und Paris mit Atomwaffen dem Erdboden gleichgemacht.“
Das ist übrigens keine Einzelmeinung. Ich habe das schon häufiger gehört. Es ist die Haltung der russischen Opposition. Die Kritik ist, Putin hat zu lange gezögert, gehe jetzt zu langsam vor, schont die Zivilbevölkerung zu sehr und folgt der Eskalation aus dem Westen auf dem Schlachtfeld, statt selbst die Eskalationsschritte vorzugeben, mit der die Ukraine und die NATO dann mithalten müssten – und nicht könnten.
Das wird in Deutschland natürlich kaum berichtet. Das aber sind die Orignaltöne der echten Opposition in Russland, hinter der sich eine deutlich größere Zahl an Menschen sammelt als hinter beispielsweise Nawalny, der laut deutschen und westlichen Medien der angeblich wichtigste russische Oppositionelle sein soll. Das ist er nicht. Man wird sich in der EU und in Deutschland eines Tages Putin mit ganz großer Sehnsucht zurückwünschen. Putin war für Europa eine große Chance, die vertan wurde. Dass man sich in Deutschland Opposition in anderen Ländern immer nur als Hinwendung zum Westen, aber niemals radikal davon weg vorstellen kann, ist ein schwerer Fehler.
Man hofft natürlich auch in Russland, dass der Krieg bald zu Ende geht. An einem Sieg Russlands zweifelt hier eigentlich niemand. Das Töten im Donbass, die ukrainischen Kriegsverbrechen sollen ein Ende haben und die Verantwortlichen bestraft werden. Verantwortlich macht man hier in Russland nicht allein Selensky, in dem man eine bloße Marionette sieht. Die Verantwortlichen sitzen dort, wo man auch Atombomben abwerfen würde.
Von Autos und Eselskarren
Wenn es sich ergibt, streue ich in diese Unterhaltungen gerne ein, wie man in Deutschland über Russland berichtet und wie viele Deutsche über Russland denken. Dass Russland eine Diktatur sei, beispielsweise. Je nach Stimmung ernte ich damit entweder einen Lacher, weil hier in Russland kaum jemand Deutschland für ein souveränes Land, sondern für einen Vasallenstaat der USA hält. Oder ich ernte Erstaunen darüber, was die Deutschen für einen Unsinn erzählt bekommen. Auch das Sanktionsregime, das Deutschland gerade das ökonomische Rückgrat bricht, war heute Thema.
Es ergab sich, weil sich Andreij ein neues Auto gekauft hat. Einen Chery. Es sei ein Spontankauf gewesen. Eigentlich hätte es sein altes noch eine Weile getan, aber er sei in Kauflaune gewesen. Daraus entspann sich eine allgemeine Diskussion darüber, welche Marken und Hersteller den russischen Markt verlassen und welche inzwischen wieder zurückgekehrt waren. Die Automobilhersteller sind noch nicht wieder da, auch die deutschen nicht. Man kann zwar deutsche Autos über Drittländer kaufen, aber das ist teuer, es gibt keine Garantie und mit den Ersatzteilen ist das so eine Sache.
In Deutschland würde man leider nicht verstehen, wie Märkte funktionieren, sage ich. Viele denken, wenn es VW, Daimler und BMW in Russland nicht mehr gibt, seien die Russen wieder mit Eselskarren unterwegs. Das ist natürlich nicht der Fall, sie kaufen einfach andere Autos, einen chinesischen Chery zum Beispiel. Auch die russischen Automarken verzeichnen enoreme Wachstumsraten. Ich füge noch an, dass eigentlich alles, was ich sage, von vielen in Deutschland schon deshalb als unwahr abgetan wird, weil ich für RT arbeite. Während man in Russland sehr wohl das, was in Deutschland passiert, zur Kenntnis nimmt, und dem, was in deutschen Medien berichtet wird, Aufmerksamkeit schenkt, gilt in Deutschland jede Information aus Russland schon deswegen als Fake, Desinformation und Propaganda, weil sie aus Russland kommt. In dieser Hinsicht ist Russland deutlich freier, offener und handelt aufgeklärter.
Von deutscher Desinformation und russischer Lebenswirklichkeit
So gelingt es, viele Deutsche davon zu überzeugen, dass es ihnen trotz eines Einbruchs der deutschen Wirtschaft besser geht als den Menschen in Russland, wo die Wirtschaft im vergangenen Jahr um über drei Prozent gewachsen ist. Das in diesem Zusammenhang gebrachte Argument ist regelmäßig, dass die Russen außerhalb Moskaus noch in Plumpsklos kacken würden. Auch das sorgt hier regelmäßig für Lacher angesichts der Ahnungslosigkeit vieler Deutscher über die russischen Lebensverhältnisse.
An der Verbreitung des Arguments lässt sich eigentlich das ganze Ausmaß der Desinformation erkennen, mit dem die Deutschen täglich abgefüttert werden. Fakten spielen in Deutschland längst keine Rolle mehr. Viele merken das, manche aber eben nicht und verkünden in den sozialen Netzwerken den größten Blödsinn im Brustton der Überzeugung. Sie liefern mir damit gleichzeitig Material zur Erheiterung meiner russischen Freunde angesichts der deutschen Ignoranz.
Es geht dann in einem weiteren Gespräch wieder um den Krieg. Mein Freund und Lebenspartner Pawel hat eine kleine Firma. Einer seiner Mitarbeiter wurde bei der Mobilisierungs-Welle im Herbst 2022 eingezogen. Seitdem ist er in der Nähe von Robotino stationiert. Pawel erzählt uns, dass sich sein Mitarbeiter, ab und zu meldet. Wenn er auf Heimaturlaub ist, schaut er in der Firma vorbei. Ausflüge an freien Tagen würden die Soldaten nach Rostow am Don führen. Dort würden sie sich dem Kaufrausch überlassen, denn die Bezahlung der Soldaten, die im Donbass kämpfen, ist sehr gut. Noch ein neues Handy, noch dieses und jenes. Auch diese Geschichte ist so ganz anders als der in Deutschland verbreitete Fake, dass russische Soldaten in der Ukraine Waschmaschinen und Toiletten klauen. Sie verdienen so gut, dass sie sich jeden Monat gleich zehn Waschmaschinen leisten könnten und eine Toilettenschüssel ist dann immer noch drin.
Das war zum Jahresauftakt von mir ein bisschen aus dem russischen Nähkästchen geplaudert. Ich halte es für wichtig zu verstehen, worüber man hier im Alltag spricht. Mit dem Russlandbild, das man in Deutschland vermittelt bekommt, hat die russische Lebenswirklichkeit nämlich absolut nichts zu tun.