Ich hatte vor einigen Jahren mit einem Beamten aus dem Finanzministerium eine Diskussion über Migration und Migranten in Deutschland. Mein Gesprächspartner vertrat die These, jemand, der in Deutschland leben möchte, müsse sich der hier herrschenden Kultur und Tradition anpassen. Man sei hier in Deutschland und die Werte der Deutschen seien zu respektieren und zu achten. Wer das nicht will und sich nicht darum bemühe, hätte sein Recht verwirkt, in Deutschland zu bleiben.
Nun entspann sich eine kleine Diskussion darüber, was denn nun diese spezifisch deutschen Werte seien. Ich bin zwar Deutscher, könnte das jetzt aber nicht so ohne weiteres in einer allgemeingültigen Form benennen. Ich weiß lediglich, was das für mich bedeutet. Das geht vermutlich vielen so und ist kein Zufall. Deutschsein ist kein kollektives, sondern ein individuelles Erleben.
“Papperlapapp”, war die Antwort auf die Überlegung. Es sei die deutsche Kultur, wurde ich belehrt. “Na dann sag mal ein Gedicht von Goethe auf”, erwiderte ich und blickte in vor Erstaunen geweitete Augen. “Oder nenn einfach sein Geburtsdatum, oder sag irgendein anderes deutsches Gedicht auf.” Das war meinem Gegenüber alles viel zu praxisnah.
„Sag mal ein Gedicht von Goethe auf.“
Es ging ihm um was ganz Grundlegendes, was er aber leider nicht benennen konnte. Irgendwie sowas wie das Deutschsein an sich. Eine kulturelle Identität an der Fähigkeit zum Aufsagen von Gedichten festzumachen, war ihm jedenfalls zu doof. Mit anderen Worten, er wusste auch nicht, was das spezifisch Deutsche genau sein soll. Damit verdeutlichte unser Gespräch ein grundsätzliches Problem, das jetzt wieder vermehrt in den Fokus der inszenierten deutschen Öffentlichkeit rücken wird.
Die CDU will sich nämlich ein neues Programm geben. Der nun veröffentlichte Programm-Entwurf trägt deutlich erkennbar die Handschrift des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz. Deutschland sei ein Land der Sparer, sollte aber ein Land der Aktionäre und Investoren werden, liest man da und ist beunruhigt. Es drängt sich unmittelbar der Verdacht auf, dass sich Friedrich Merz seinem alten Arbeitgeber Blackrock allem Anschein nach weiter deutlich stärker verpflichtet fühlt als den Deutschen.
Dass Merz im Fall eines Zugewinns an Macht und Einfluss Deutschland zu Blackrockland umbauen wird, war immer die Befürchtung, die sich nun zu bewahrheiten scheint. Das wird für jeden von euch teuer, kann ich schon jetzt versprechen.
Die wiederkehrende Debatte
Vor allem aber wird im Entwurf auch eine alte Debatte wieder angestoßen. Die CDU kramt allen Ernstes den Begriff der Leitkultur aus der Mottenkiste hervor. Dass er darin verschwand, hatte eigentlich gute Gründe. Schon im Jahr 2000 befand Friedrich Merz den Begriff der Diskussion würdig und veröffentlichte einen entsprechenden Beitrag in der “Welt”. Anschließend hangelte er sich durch die Talkshow-Sessel der Republik und machte Werbung für den Begriff – mit allerdings mäßigem Erfolg. Es wurde den Bundesbürgern nicht ganz klar, was damit gemeint ist.
Das wiederholte sich einige Jahre später. Es war Bundestagspräsident Norbert Lammer, ebenfalls von der CDU, der es im Jahr 2005 noch einmal wissen wollte. Es wurde erneut ein Rohrkrepierer. Dennoch fand die “Leitkultur” Eingang ins damalige Parteiprogramm der CDU und soll es nun in die aktualisierte Version wieder tun. Deutsche Leitkultur ist irgendwas mit Humanismus, irgendwas mit philosophischer Aufklärung und christlichem Abendland. Das Problem ist nur, dass dies für praktisch den ganzen europäischen Kontinent gilt. Was das spezifisch Deutsche daran ist bleibt weiter unklar.
Die deutsche Geschichte sei’s, wird nun mancher sagen und das Freiheitlich-Demokratische. Aber die deutsche Geschichte ist vergleichsweise kurz und das Freiheitlich-Demokratische in dieser kurzen Geschichte noch kürzer. Die Reichsgründung war spät und die deutsche Geschichte ist insgesamt auch nicht wirklich rühmlich. In Krisen greift Deutschland nicht zu Freiheit und Demokratie, sondern zu Gewalt, Zensur und Repression als Mittel zur Lösung. Man sagt der Diplomatie ab und setzt alles auf Sieg. Das war im Ersten Weltkrieg so, im Zweiten ebenfalls und im Ukraine-Konflikt als auch in Nahost bleibt Deutschland dieser Tradition treu: Gewalt soll es richten. Ob das die vielbeschworene deutsche Leitkultur ist? Ich weiß es nicht. Ich sehe darin eher den permanenten deutschen Zivilisationsbruch.
Kultur und Alltag
Es sei die Sprache, Deutschland ist schließlich das Land der Dichter und Denker. Nun gut, dann sind wir doch wieder beim Gedichte Aufsagen angekommen. Das Problem ist, dass dies alles im deutschen Alltag überhaupt nicht verankert ist. Das ist hier in Russland anders. Es gibt den Tag der russischen Sprache, der nicht ganz zufällig mit dem Geburtstag von Puschkin zusammenfällt. Das heißt, wann der Geburtstag des für Russland wichtigsten Poeten ist, weiß schon mal jeder Russe. Das unterscheidet ihn von vielen Deutschen, die das in Bezug auf ihren wichtigsten Dichter nicht wissen – auch hohe Beamte in den Ministerien anscheinend nicht. Und natürlich kann hier eigentlich auch jeder mit einem Gedicht von Puschkin aufwarten.
Im russischen Fernsehen gibt es eine Serie nach der andren über Katharina die Große und Ivan den Schrecklichen. Ich wüsste nicht, dass es sowas über Friedrich den Großen gibt. Die russische Geschichte spiegelt sich in den Feiertagen wieder. Tag der Verfassung, Tag des Beschützers des Vaterlandes, 9. Mai als Tag des Sieges über den Faschismus. Die deutschen Feiertage sind nahezu alle religiös und warum die Wiedervereinigung am 3. Oktober und nicht am viel symbolträchtigen 9. November begangen wird, bleibt unklar.
Man kann das, was in Russland passiert, alles spießig und gestrig finden, aber genau das ist das Problem der Deutschen. Das, was die eigene Kultur ausmacht, ist hier in Russland viel stärker im Alltag präsent als das in Deutschland der Fall ist. Die Deutschen haben den Kontakt zur eigenen Kultur in den letzten Dekaden verloren und es war wohl auch beabsichtigt. Das lässt sich nicht so ohne weiteres umkehren.
Wenn daher die Deutschen ihre Migranten über das nun spezifisch Deutsche belehren wollen, muss das verunglücken. Man fordert ein Bekenntnis zu etwas, von dem die Deutschen selbst nicht wissen, was es sein soll und das sie selbst nicht leben. Aus diesem Grund wird auch dieses Mal die Diskussion über die deutsche Leitkultur wieder im Sande verlaufen. Vermutlich ist das auch gut so.