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Narzisstische Kränkung und Liberalismus

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Die Fähigkeit, Meinungsfreiheit zu gewähren, ist an einige Voraussetzungen geknüpft. Ich meine damit gar nicht so sehr den Staat, der diese im Rahmen der Grundrechte gewährt. Ich meine damit, auf der persönlichen Ebene auszuhalten, dass mein Gegenüber nicht meiner Meinung ist und es ihm dennoch zuzugestehen. Eine andere Meinung, ein offener Widerspruch stellt eine Kränkung dar. Diese Kränkung ist zudem gleichzeitig eine Hürde, die das Bemühen um weiteres Verstehen erschwert. Ein “Nein”, ein “Das sehe ich aber ganz anders” ist eine Zäsur, ein Widerstand, den es wahrzunehmen und zu überwinden gilt.

Ich weiß nicht, wie es entwicklungspsychologisch genau funktioniert, aber eigentlich scheint mir, ist es uns angeboren, uns um Verstehen zu bemühen. Wenn wir uns von vornherein dem Verstehen verweigern würden, gäbe es keinen Spracherwerb, wir blieben isolierte Monaden. Das Bemühen um Verstehen scheint daher etwas Natürliches zu sein, das man im Lauf der persönlichen Entwicklung allerdings wieder verlieren kann und in der Herausbildung des Ich vermutlich auch ein Stück weit verlieren muss.

Ich gebe zu, das ist meine ganz persönliche Theorie. Ob sie sich halten und empirisch belegen lässt, weiß ich nicht. Ich möchte aber gern daran glauben, dass wir uns zunächst einmal nicht feindlich und in Ablehnung gegenüberstehen, sondern dass es in uns eine Art Motor zur Solidarität gibt. Grundsätzlich wollen wir einander verstehen und einander helfen. Der russische Anarchist und Schriftsteller Pjotr Kropotkin sah in der Solidarität und in der gegenseitigen Hilfe gar einen Selektionsvorteil.

Die andere Meinung und die narzisstische Kränkung

Problematisch wird es wohl dann, wenn man mit dem Erwachen des Ich anfängt, sich in dieses zu verlieben und es für wichtiger und bedeutender als die vielen anderen Ichs zu halten, von denen man umgeben ist. Dann wird die durch eine andere Meinung erlittene Kränkung zu einem unüberwindbaren Hindernis. Die Tendenz, sich nur noch mit gleichen Meinungen zu umgeben, ist stark. In Kulturen, in denen das Individuum und das Individuelle als höchstes Gut gefeiert wird, muss es die freie Meinungsäußerung daher schwer haben, zumal dann, wenn bestimmte Meinungen und Sichtweisen als Staatsräson gelten.

Das Prinzip der freien Meinungsäußerung muss daher in liberalen Gesellschaften dann besonders hart umkämpft werden, wenn der Liberalismus vollständig die Macht ergriffen hat. Die Meinungsfreiheit muss dann gegen genau jenen verteidigt werden, die meinen, als Liberale schon automatisch für die demokratischen Freiheiten zu stehen.Die aktuellen Entwicklungen in Deutschland und in anderen Ländern des liberalen Westens geben dem Recht.

In einer aktuellen Studie wird belegt, dass es genau die urbane, gebildete gehobene Mittelschicht ist, die zwar für sich reklamiert, für Werte wie Toleranz und Weltoffenheit zu stehen, genau das aber nicht ist. Die Vertreter der liberalen Mittelschicht sind überdurchschnittlich intolerant und engstirnig. Wer nicht ihre Werte, Haltung und Ansichten teilt, wird belehrt und schnell ausgegrenzt. Gleichzeitig halten sie sich wegen ihrer Unterstützung für LGBT, Flüchtlinge und ihrer Solidarität mit der Ukraine für die Speerspitze der Toleranz und der offenen Gesellschaft.

Die liberale Mittelschicht ist besonders intolerant

Es ist nicht zufällig jene gesellschaftliche Schicht, die sich einerseits den Werten des Liberalismus verpflichtet fühlt und diese Werte auch in einigen Segmenten lebt, die gleichzeitig aber zentralen Werten des Liberalismus zum Feind wird.

Ich glaube, das ist kein Versehen und kein Unfall. Es scheint mir vielmehr die logische und konsequente Folge der eingeschlagenen Entwicklung. Die liberalen Gesellschaften des Westens haben die Messlatte für Freiheit und Offenheit an nur einigen wenigen Phänomenen ausgerichtet, während sie andere nicht nur ausgeschlossen, sondern diskriminiert haben. Sexuelle Identität und ihre Darstellung in der Öffentlichkeit ist eins der Phänomene.

Kritik daran wird unmittelbar als antiliberal, als Einschränkung der Freiheit eingeordnet. Man darf sie daher nicht äußern. Sie wird unterdrückt. Ein Bemühen um Verstehen gibt es nicht mehr. Es ist eine absolute Setzung. Analoges gilt für beispielsweise die Kritik an Zuwanderung und die Infragestellung der Maßnahmen gegen den Klimawandel. Die Notwendigkeit von Zuwanderung ist ebenso gesetzt, wie feststeht, was gegen den Klimawandel zu tun ist. All das steht nicht mehr in Frage. Wer die Setzung in Frage stellt, gilt nicht als kritisch, sondern als rechts, Schwurbel, Querdenker und damit als nicht gesellschaftsfähig.

Totalitarismus als Resultat der Herrschaft des Liberalismus

Das liberale Bürgertum hat sich in einem Kokon der Illiberalität verschanzt, in dem es sich weiter liberal fühlen kann, ohne es zu sein. Das zeitgenössische liberale Ich hat sich, seine Individualität um genau diese Setzungen konstruiert. Werden sie hinterfragt und offen diskutiert, dann gibt es in diesem Setting eben keinen Erkenntnisgewinn, keinen geistigen Fortschritt, sondern es zerbricht ein Ego.

Der Kontakt nach außen, zum Anderen, zum Gegenüber ist unterbrochen. Das Gegenüber wird nicht mehr als Möglichkeit der Ergänzung verstanden, als die Erweiterung des Selbst und Bereicherung, sondern nur noch als das fremde und in seiner Fremdheit ängstigende Andere. Jede Kritik wird dann zur narzisstischen Kränkung, die Maßnahmen notwendig macht, dass diese Kränkung sich nicht wiederholt. Das ist der Ausschluss, das Verbot.

Genau in diesem Zustand befinden sich die westlichen, liberalen Gesellschaften. Das ist Deutschland. Die liberalen Gesellschaften haben damit ihre finanle, autoritäre, repressive Phase erreicht. Das Ende des Liberalismus hat begonnen.

Gert-Ewen Ungar
Gert-Ewen Ungar
Gert Ewen Ungar legte sich kurz nach dem Abi sein Anagramm zu. Er und seine Freunde versprachen sich damals bei einem Kasten Bier, ihre Anagramme immer für kreative Arbeiten zu verwenden. Dass sein Anagramm jemals mehr als zehn Leuten bekannt werden würde, war damals nicht abzusehen und überrascht ihn noch heute. Das es dazu kam, lag an seinem Blog logon-echon.com. Mit seinen Berichten über seine Reisen nach Russland stiegen die Zugriffszahlen und es entwickelte sich eine Zusammenarbeit mit RT DE. Anfang 2022 stieß er zu den neulandrebellen und berichtet über Russland, über Politik, über alles Mögliche.

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