Wenn Sie sich demnächst wie ein Arschloch aufführen, schieben Sie es doch einfach auf das Kind in Ihnen – dann sind Sie aus dem Schneider.
Ein Gastbeitrag von Mathilde van der Linden.
Weil Herr De Lapuente ein Baske ist, der kein Baskisch spricht, und in gewisserer Weise also heimatlos ist, hat unsere gute Freundin, Frau Meyer, ihm den psychologischen Ratgeber »Das Kind in dir muss Heimat finden« geliehen. Da es Herrn De Lapuente trotz einer fünfmonatigen Suche nicht gelang sein inneres Kind zu finden, gab er Frau Meyer das Buch während eines Abendessens bei ihr zu Hause zurück.
»Ich hatte keine Zeit es zu lesen«, sagte Herr De Lapuente verlogen.
»Sag doch einfach, dass das dein Ding nicht ist«, sagte ich.
»Ich habe wirklich keine Zeit!«, antwortete Herr De Lapuente mit Vehemenz.
»Hör doch auf! Das Buch ist einfach dein Ding nicht.«
»Okay«, gestand Herr De Lapuente seufzend, »es ist mein Ding nicht.«
Fräulein Fischer liest ein Buch
»Vielleicht solltest du mal was über das Buch schreiben«, sagte Frau Meyer hoffnungsvoll zu mir. Da sie gerade großzügig zwei herrliche Pizzas bereitet, mir drei erstklassige Gin-Tonics serviert und mir zudem eine Rolle vierlagiges Toilettenpapier für mein Zuhause mitgegeben hatte, stimmte ich zu. Für diejenigen, die das Buch nicht kennen: Auf der Vorderseite verspricht es »der Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme« zu sein. Auf der Hinterseite werden »Glückliche Verbindungen durch Urvertrauen« versprochen. Frau Meyer meinte es also wirklich gut mit mir.
Bevor ich mit meiner Besprechung des Buches anfange, möchte ich noch vermelden, dass eine andere Freundin von mir, Fräulein Fischer, das Buch gerade auch liest. Fräulein Fischer ist ein fast dreißigjähriges, harmoniebedürftiges Wesen, das immer bemüht ist, zu allen sehr nett und freundlich zu sein. Sie teilte eine Zeitlang das Büro mit einem österreichischen Kollegen, Herrn Schubert, der immer schlecht gelaunt war und sie oft mit sarkastischen Bemerkungen überzog. Mir gegenüber benahm er sich aber korrekt. Wäre das nicht der Fall gewesen, dann hätte ich ihm mit nur ein Paar verbalen Ohrfeigen zu verstehen gegeben, dass sein Platz zu meinen Füßen ist.
Fräulein Fischer ist aber viel netter als ich. Um Herrn Schubert zu zeigen, dass die Welt schön und sie selber lieb und gut ist, nahm sie für ihn mal selbst gemachten Kuchen mit ins Büro. Fräulein Fischer backt nur vegane Kuchen, von denen sie mir manchmal auch ein Stück schenkt. Ich sage dann immer, dass der Kuchen sehr lecker aussieht, aber dass ich gerade nicht so hungrig bin. Ich esse pro forma ein winziges Stückchen, sage »göttlich« und verspreche ihr »später« den Rest zu essen. Wenn sie dann wieder weg ist, schmeiße ich den Kuchen in meine Schadstoffmülltonne.
Ausflippen wegen einer Wurst
Fräulein Fischers selbst gemachter Kuchen hatte nicht den gewünschten Effekt auf die Laune von Herrn Schubert. Im Gegenteil, der benahm sich seitdem noch gehässiger und sarkastischer zu ihr.
Fräulein Fischer besprach darauf ihre Beziehung zu Herrn Schubert mit dem Heilpraktiker ihres Vertrauens. Bei ihm war sie schon jahrelang wegen ihrer Hautprobleme und Menstruationsbeschwerden in Behandlung, ohne dass ihre Beschwerde jemals gelindert wurden.
Als Herr Schubert schon wieder nach Österreich zurückgekehrt war, kam der Heilpraktiker zu der Schussfolgerung, dass Herr Schubert während seiner Jugend bestimmt sehr viel gelitten habe. Er empfahl Fräulein Fischer darauf das Buch »Das Kind in dir muss Heimat finden« zu lesen. Fräulein Fischer hatte das Buch gerade dabei, als sie einen anderen Kollegen, Herrn Müller, kennenlernte, bei dem das gleiche Buch zufälligerweise auf seinem Bürotisch lag. »Wie geil«, sagte sie zu mir, »ein Mann, der an sich arbeitet.« Was Menschen alles nicht scharf finden.
Mit viel Stolz kann ich sagen, dass ich im Buch weitergekommen bin als Herr De Lapuente. Wo er nicht mal mit Lesen angefangen hat, habe ich es doch bis Seite 15 geschafft – obwohl ich ehrlichkeitshalber gestehen muss, dass der Text des Buches erst auf Seite 13 anfängt. Auf Seite 15 behauptet die Autorin, Stephanie Stahl, dass wir auf der bewussten Ebene unabhängige Erwachsenen sind, aber in unserem Unterbewusstsein (»eine sehr machtvolle psychische Instanz (…), die zu 80 bis 90 Prozent unser Erleben und Handeln steuert«) das innere Kind das Sagen hat. »Wie sind diese 80 bis 90 Prozent berechnet worden?« frage ich mich als Buchhalterin. Das erklärt der Text nicht und ich bin dann sofort skeptisch.
Ein Beispiel im Buch soll aber Abhilfe schaffen: »Michael bekommt immer wieder Wutanfälle, wenn seine Lebensgefährtin Sabine etwas vergisst, was ihm wichtig ist. Neulich vergaß sie beim Einkaufen seine Lieblingswurst, und er ist richtiggehend ausgeflippt (…) Michael ist sich nicht darüber bewusst, dass es das innere Kind in ihm ist, dass sich von Sabine nicht genügend beachtet und respektiert fühlt, wenn sie seine Lieblingswurst vergisst.« Ich fühle mich sofort angewidert von Michael, zumal der Vorname von Frau Meyer auch Sabine ist. Sie hat wirklich was Besseres als Michael verdient. Der Text geht weiter: »Er weiß nicht, dass der Grund für seine enorme Wut nicht Sabine und die vergessene Wurst ist, sondern eine tief liegende Verletzung aus der Vergangenheit: nämlich der Umstand, dass seine Mutter seine Wünsche als Kind nicht ernst genommen hat.«
Jemand zu Hause?
Was wenn Michaels Mutter seine Kinderwünsche immer erfüllt hätte und er dann auch ausflippen würde, wenn Sabine seine Lieblingswurst vergisst? Was würde die Psychologie uns dann sagen? Sehr wahrscheinlich, dass Michael sich nicht darüber bewusst ist, dass es das innere Kind in ihm ist, dass sich von Sabine nicht genügend beachtet und respektiert fühlt, weil Sabine nicht so wie seine Mutter ist. So erklärt die Psychologie alles und gleichzeitig nichts und verschafft zudem Ausreden für schlechtes Benehmen.
Inzwischen benimmt sich Herr Müller Fräulein Fischer gegenüber sehr selbstverliebt und egoistisch. Sie ist aber davon überzeugt, dass hinter der Fassade seines schlechten Benehmens ein ganz liebes inneres Kind steckt (wieso würde er sonst »Das Kind in dir muss Heimat finden« lesen?), das sie gerne besser kennenlernen würde. Ich befürchte aber, dass hinter der Fassade niemand zu Hause ist.
Der deutsche Widerstand hat sich während der sogenannten Pandemie leider wie Fräulein Fischer benommen. Als steckten hinter der Fassade der Politik ganz süße Kinder, die nur auf unsere liebevolle Umarmung warteten. Der rechtmäßige Platz der Politiker ist aber nicht in unseren Armen, sondern zu unseren Füßen. Während in Amsterdam die Menschen trotz verbotener Demo am 2. Januar 2022 durch die Stadt zogen, auch nachdem man Polizeihunde auf sie hetzte, wurden in Deutschland in derselben Periode Maskenpflicht und Mindestabstände weitgehend auf Demos respektiert. »Wir wollen ja nicht, dass die Demo verboten wird.« Dieses Land, liebe Leser, kann nur gerettet werden, wenn wir aufhören, Fräulein Fischer zu spielen.
Mathilde van der Linden ist Buchhalterin aus den Niederlanden. Sie arbeitet und wohnt in Frankfurt am Main.