Wie man auch als Multimillionär ein Opfer sein kann – und warum Herr De Lapuente Frau van der Linden für die spanische Besatzung der Niederlande entschädigen sollte.
Ein Gastbeitrag von Mathilde van der Linden.
Wenn jemand während eines Bewerbungsgespräches für eine Stelle als Bankkaufmann gefragt wird, was seine schlechteste Eigenschaft sei, dann wird er wohl kaum ehrlich antworten, dass er zu Hause nie das Klo putzt –etwa weil er zu bekifft ist, um die Klobürste festzuhalten. Eher wird er darüber schwadronieren, dass er zu zielstrebig sei. In anderen Worten: ein nerviger Streber, vielleicht sogar ein Arschloch, aber hey, es ist für die gute Sache: für die Profite der Firma! Aus Erfahrung weiß ich: sowas hört man gerne in der Finanzwelt!
Würde diese Person sich für eine Führungsposition bewerben, würde sie wahrscheinlich sogar behaupten, sie habe sich mittels Introspektion geheilt und gelernt, andere Menschen nicht mit der eigenen Zielstrebigkeit zu überrennen, sondern stattdessen verständnisvoll zu motivieren. Abermals in anderen Worten: sie ist ein sehr penetranter Streber, höchstwahrscheinlich ein Arschloch, das mittels billiger psychologischer Techniken ihren Mitarbeitern die Scheißarbeit schmackhaft machen möchte. Aus Erfahrung weiß ich: Sowas hört man gerne in der Pharmaindustrie!
Ich war vor der sogenannten Pandemie mit einer Topmanagerin aus der Pharmaindustrie befreundet, die ihre Mitarbeiter sogar zu einer Art psychotherapeutischer Gruppenausbildung verpflichtete, damit auch sie von ihren psychologischen Blockaden geheilt werden konnten – natürlich während des Wochenendes, weil man seine Blockaden am Besten in der Freizeit heilt. Ob Sie wohl bemerken, dass es dank der Psychotherapeutisierung des gesellschaftlichen Diskurses übrigens keine Arschlöcher mehr gibt, sondern nur noch »Narzissten«?
Herr De Lapuente, ein Imperialist ohne Bargeld
Die Psychotherapeutisierung des gesellschaftlichen Diskurses geht so weit, dass auch über den ehemaligen, sehr erfolgreichen niederländischen Fußballspieler und Multimillionär, Clarence Seedorf, in einer der wichtigsten niederländischen Tageszeitungen, NRC, behauptet werden kann, dass seine Persönlichkeit stark durch die Traumata beeinflusst wurde, die seine Ahnen als Sklaven auf einer Plantage in Surinam, damals noch eine Kolonie der Niederlande, erleiden mussten.
Durch diese Traumata hatte Herr Seedorf lange Zeit zu viel Wut in sich, besonders wenn er mit Unrecht konfrontiert wurde. Anders gesagt: er war manchmal wutschnaubend, vielleicht sogar ein Arschloch, aber hey, es war für die gute Sache! Niemals weil seine Frau das Auto falsch parkte oder so. Durch reichlich Introspektion hat Herr Seedorf sich aber heilen können. Im letzten Jahr versuchte er dann als mens sana in corpore sano mit billigen psychologischen Techniken, Sportlern die Scheißimpfung schmackhaft zu machen.
Wie weit in der Geschichte muss man eigentlich zurückgehen, um von seinen Traumata endlich geheilt werden zu können? Von meiner Seite aus würde ich sagen: nicht weit genug. So bitte ich Herrn De Lapuente schon eine ganze Weile, mich für die spanische Besatzung der Niederlande zu entschädigen. Er hadert noch. Wenn er bedröhnt ist, schwurbelt er über die Errungenschaften der spanischen Kultur – aber auch im nüchternen Zustand kann er nicht richtig erklären, was er damit meint.
Das wirkliche Hindernis zur beschleunigten Heilung meiner Traumata ist aber die Tatsache, die ich schon mal auf diesen Seiten thematisiert habe, dass Herr De Lapuente nämlich selten eine ausreichende Menge Bargeld bei sich hat. Das wenige Kleingeld, das er dabei hat, reicht gerade noch, um die Frankfurter Kellner mit Trinkgeld zufriedenzustellen, aber für eine Wiedergutmachung fürs Schreckensregime Herzog Alvas ist das bei Weitem nicht ausreichend.
Vollkommen unvollkommen?
Natürlich gibt es da auch andere Stimmen, sowie die von Thomas Sowell, ein schwarzer Ökonom aus den Vereinigten Staaten, der sich stark gegen das Opferdenken im Allgemeinen und gegen die Idee der Entschädigung der Afro-Amerikaner für die Sklaverei im Besonderen ausspricht. Er meint, dass Sklaverei ein beständiger Bestandteil der Weltgeschichte gewesen sei – und nicht nur Schwarzafrikaner waren Opfer.
Thomas Sowell ist auch Autor eines der meines Erachtens wichtigsten sozialwissenschaftlichen Bücher des 20. Jahrhunderts: »A Conflict of Visions: Ideological Origins of Political Struggles«. In diesem Buch behauptet er, dass alle wichtigen politischen Meinungsunterschiede davon abhängen, ob man die Menschen von ihrer Natur her grundsätzlich als unvollkommen betrachtet oder eher grundsätzlich als vollkommene Wesen, die leider Opfer der gängigen Gesellschaftsstrukturen sind. Im ersten Fall wird man auch nie an die perfekte Machbarkeit der Gesellschaft glauben, behauptet Sowell, im zweiten Fall schon.
Mein Problem mit der Psychotherapeutisierung des gesellschaftlichen Diskurses ist genau, dass da die Idee des vollkommenen Menschen und der vollkommenen Gesellschaft dahintersteckt. Wenn wir nur alle in Psychotherapie gehen würden, unsere Traumata heilen würden, so scheint der Grundgedanke zu sein, dann würden wir in einer heilen Welt leben. Wir wären dann produktive Mitarbeiter, die sich nie wegen Liebeskummer krankmelden müssten, weil wir uns sowieso nicht mehr in den falschen verlieben würden. Burnouts gäbe es dann auch nicht, weil wir alle unsere Arbeit lieben würden.
Da keine Berufsgruppe in den letzten Jahren, mit einigen mutigen Ausnahmen, so gescheitert ist, wie die der Psychotherapeuten und Psychiater (man denke nur an die vielen von denen, die Kinder gezwungen haben, in ihrer Praxis eine Maske aufzusetzen), scheint mir das eine sehr gewagte These. Das Leben ist nicht Heilung, sondern der Mut immer neue Fehler (eigene Fehler!) zu machen, zu stürzen, wieder aufzustehen und trotz allem weiterzugehen.
Mathilde van der Linden ist Buchhalterin aus den Niederlanden. Sie arbeitet und wohnt in Frankfurt am Main.