19.4 C
Hamburg

Die Niederländer sind die entspannteren Deutschen

Published:

Die Niederländer sind weltoffen – was heute heißt: Ziemlich woke. Sie stehen den Deutschen in nichts nach. Nur entspannter sind sie.

Ein Gastbeitrag von Mathilde van der Linden.

Die verklemmtesten unter den Deutschen wollen es nicht wahrhaben: die Niederländer sind die entspannteren Deutschen. In den Niederlanden bewegen die Menschen sich mit einer Leichtigkeit und Offenheit durchs Leben, die ich hier manchmal vermisse. Vor allem während der sogenannten Pandemie war es eine Erleichterung dort in den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht von anderen Fahrgästen auf das nackte Gesicht angesprochen zu werden – trotz Maskenpflicht. In Deutschland hingegen bekam ich zu oft den inneren Polizisten meiner Mitbürger zu spüren.

Tot slaaf gemaakte

Nichtsdestotrotz muss ich gestehen: Nicht alles in den Niederlanden ist besser als hier. Die Leichtigkeit, mit der die Niederländer etwa das Bargeld aufgeben, schockiert mich. Es gibt an Bahnhöfen sogar kleine Läden, wo man überhaupt nicht mehr mit Bargeld zahlen kann. Auch in Museen und Konzerthäusern kann seit der sogenannten Pandemie nur noch mit Karte bezahlt werden. Dazu kommt, dass die niederländischen Kulturstätten noch »woker« sind als die deutschen.

In einigen niederländischen Museen wird ad nauseam die Sklaverei thematisiert, sogar bei alten Stillleben wird erklärt, wie das schöne Geschirr durch den Sklavenhandel finanziert worden war. Die Botschaft ist klar: So wie die Deutschen sich bis in die Ewigkeit schuldig fühlen sollen wegen der Verbrechen der Nazis, so sollen die Niederländer sich bis in die Ewigkeit schuldig fühlen wegen des Sklavenhandels. Man darf einen Sklaven in den Niederlanden übrigens keinen »slaaf« mehr nennen, sondern man muss »Versklavter« sagen, was sich im Niederländischen mit dem komplizierten »tot slaaf gemaakte» ausdrücken lässt. Auch in den Niederlanden wird die Sprache durch die Wokeness verstümmelt.

Auf der Herrentoilette

Noch ein Zeichen von »woke«: Im ehrwürdigen Konzerthaus von Amsterdam, ein Tempel der Musik aus dem 19. Jahrhundert, wo die moderne Zeit nie so richtig angekommen war, gibt es jetzt nicht nur Damen- und Herren-, sondern auch Unisex-Toiletten. Das wurde mir erst klar, als ich in einer Schlange von Damen vor den Toiletten einen Mann sah und ihm sagte, dass er bitte zu den Herrentoiletten gehen soll.

»Das hier sind Unisex-Toiletten«, sagte er und wies auf ein verstümmeltes Püppchen auf der Tür hin, das zur einen Hälfte männlich und zur anderen weiblich war.

»Die Toiletten hier waren immer Damentoiletten. Schämen Sie sich nicht, dass wir Frauen jetzt noch länger in der Schlange warten müssen, weil Sie jetzt auch unsere Räumlichkeiten benutzen?«

»Du kannst doch die Herrentoiletten benutzen, wenn es dir hier zu lange dauert,« erwiderte er.

»Und was soll ich dort machen?«, fragte ich. »Meinen Schwanz aus der Hose holen?«

»Es gibt dort auch Kabinen«, sagte er.

»Großartig, es gibt bei euch auch Kabinen. Toll, dass ich das jetzt weiß.«

Als ich mir nach meinem Toilettenbesuch die Hände wusch, stand neben mir ein Mann mit vielfarbigem Nagellack auf den Nägeln. »Gott, ich will das alles nicht«, dachte ich angekotzt. Genau das Gleiche dachte ich, als sich während des Konzertes die Musiker auf der Bühne einander anbrüllten. Sie bekamen nach dem Ende des Stückes einen begeisterten Applaus von einem Publikum, das wahrscheinlich erleichtert war, dass keine echte Kacke in den Saal geschmissen worden war.

Wirklich wache Leute

»Ich würde nicht mehr hingehen«, sagte eine niederländische Freundin, die ich nach dem Konzert traf. »Wenn ich irgendwo nicht mit Bargeld zahlen kann, bleibe ich dort weg.« Ihr Mann nickte.

»Es ist unfassbar«, sagte ich, »aber ich kenne einen Widerständler in Deutschland, der immer alles mit Karte zahlt.«

»Zu faul, um zum Geldautomaten zu gehen, oder was?«, fragte die Freundin.

»Ich psychoanalysiere meine Freunde ungerne«, antwortete ich.

»Durch Bequemlichkeit in die Sklaverei,« gab sie zur Antwort.

Ihr Mann erzählte, dass die beiden jede Woche ihr Wochenbudget am Geldautomaten abheben und ALLES mit Bargeld zahlen. Wenn sie verreisen, heben sie vorher genug Bargeld im eigenen Wohnort ab, damit sie in ihrem Urlaubsort keinen Geldautomaten mehr benutzen müssen. Sie sind ein Teil eines Netzwerkes »wacher Leute«, die bevorzugt bei anderen wachen Leuten einkaufen und beispielsweise einen wachen statt eines geimpften Klempners anrufen. »Wie gerne ich doch einen wachen Klempner in Frankfurt kennenlernen würde!«, sagte ich meinen Freunden, nicht nur weil ich auf Blaumänner stehe, sondern auch weil ich tatsächlich manchmal einen Klempner brauche. »Für Deutschland gibt es keine Hoffnung mehr«, sagte die Freundin, »komm doch zurück in die Niederlande.«

»Für die Niederlande gibt es keine Hoffnung mehr«, sagte der Mitarbeiter des Bordbistros im ICE zurück nach Frankfurt. Er hatte begeistert reagiert, als ich meinen Tee mit Bargeld zahlte. »Sie sind die Ausnahme, die meisten Niederländer zahlen nur mit Karte. Aber ohne Bargeld geht es ab in die Sklaverei«, und er brachte seine Handgelenke zusammen, als wären die angekettet. »Gottseidank sind wir Deutschen standhaft«, sagte der Deutschtürke, »und zahlen weiter mit Bargeld.« Diese Idee der Standhaftigkeit fand ich sehr schön und ich war froh, auf beiden Seiten der Grenze wahrlich standhafte Alltagshelden zu kennen.

Gastautor
Gastautorhttps://staging.neulandrebellen.de/
Der Inhalt dieser Veröffentlichung spiegelt nicht unbedingt die Meinung der neulandrebellen wider. Die Redaktion bedankt sich beim Gastautor für das Überlassen des Textes.

Related articles

spot_img

Recent articles

spot_img