Was ist Macht eigentlich? Und führt sie auch Gutes im Schilde? Autor Roland Rottenfußer hat sich mit diesen und weiteren Fragen in seinem neuen Buch »Strategien der Macht« befasst.
Eine Rezension von Mathilde van der Linden.
Es ist Jahre her, da kam Beatrix, damals noch Königin der Niederlande, zu Besuch in die Behörde, in der ich arbeitete. Schon Wochen vorher wurde uns von der Behördenleitung mitgeteilt, wie wir uns während des Besuches der Königin zu benehmen hätten: Man dürfe nur mit ihr reden, wenn sie als erstes das Wort an jemanden richte. Wenn sie so gnädig sei, mit dir zu reden, sollte man sie als »Majestät« ansprechen. Nach der zweiten E-Mail mit derartigen Instruktionen gab ich zu verstehen, dass ich Frau Von Amsberg nicht treffen wolle.
Auf einmal hatte ich auf allen Fluren einen Ruf als Revolutionärin weg, obwohl ich gar keine Absicht hegte, die existierenden Machtverhältnisse in den Niederlanden mit Gewalt zu ändern. Ich verstand meine Kollegen nicht: »Warum machen die da mit?«, fragte ich mich damals. »Warum stört es sie nicht, bevormundet zu werden? Aber warum stört es sehr wohl, dass ich nicht mitmache?« Dass ich die meisten Menschen nicht verstehe, damit dachte ich mich Ende 2019 schon längst abgefunden zu haben, aber dann fing im Jahr 2020 die sogenannte Pandemie an.
Wohlwollende Motive der Macht gibt es nicht
Eine der zentralen Fragen im Buch »Strategien der Macht« von Roland Rottenfußer ist genau jene: »Warum machen die Menschen da mit?« Der Autor schreibt: »Der Homo sapiens ist eigentlich ein Homo obediens, ein gehorchender Mensch. Der Gehorsam gehört zu den unverwechselbaren und zugleich rätselhaftesten Merkmalen dieser Spezies. Die menschliche Bereitschaft zum Gehorsam übertrifft die des Hundes und des Pferdes insofern, als es keinerlei Grenzen bei der Anwendung zerstörerischer und selbstschädigender Verhaltensweisen zu geben scheint.«
Rottenfußer analysiert die psychologischen Gründe dieses Gehorsams ohne in »Opferbeschimpfung« zu verfallen. Vielmehr möchte er seinen Mitbürgern erklären, in welchem Ausmaß sie ihre eigene Misshandlung während der Corona-Periode mitgetragen haben – und dass Widerstand kein »optionales Extra« ist in einer Gesellschaft, die auf eine totalitäre Dystopie zusteuert (was am deutlichsten in China zu beobachten ist). Totalitäre Macht kann jeden treffen, auch diejenige, die sich jetzt kleinmachen und hoffen, übersehen zu werden.
Eine weitere der zentralen Fragen des Buches lautet: »Warum machen die Mächtigen das?« Auch hier analysiert Rottenfußer die psychologischen Gründe des Handelns der Mächtigen, die, so behauptet er, Lust an Machtausübung, sogar an politischen Sadismus, empfinden. Um seine These zu bekräftigen, macht er eine Exkursion zum Thema des sexuellen Sadismus‘ – und er skizziert die Parallelen zwischen politischem und sexuellem Sadismus. Eins macht Rottenfußer besonders klar: An vernünftige und wohlwollende Motive der Mächtigen ist nicht zu glauben. »Vielfach ist Macht nichts anderes als institutionalisierte Respektlosigkeit. Das heißt, sie beruht auf der fundamentalen Nichtachtung der Selbstbestimmung des anderen, auf einer Überbewertung des eigenen Interesses und der eigenen Auffassung einer gegebenen Situation.«
Leichtfüßig und humorvoll
Wie der Titel des Buches schon aussagt, erklärt der Autor auch welche Strategien die Mächtigen benutzen, um die Bevölkerung zu beherrschen: Symbolische Unterwerfungsgesten, Kontrolle und Verhaltenssteuerung. All das wird den Bürgern mittels Propaganda schmackhaft gemacht. Die Narrative, die mittels Propaganda verbreitet werden, erfüllen zwei Zwecke: »Zum Ersten machen sie die Bürger mit den vergeblichen Motiven der Macht vertraut – Ich herrsche über dich, weil…–, zum Zweiten erleichtern sie es diesen, ihren Untertanenstatus vor sich selbst und ihren Mitbürgern zu rechtfertigen: Ich begehre nicht auf, weil die Staatsführung im Recht ist, nicht etwa weil ich feige bin.« Jeder, der nicht mitmacht, erinnert die Gehorsamen dabei nur an die eigene Feigheit und wird deshalb sowohl vom Staat als auch seinen Mitbürgern angefeindet.
Wenn Propaganda Bürger nicht von den guten Absichten der Herrschenden überzeugen kann, dann leisten nämlich Drohung mit und Ausführung von Bestrafung Abhilfe, wie wir es auch in der Corona-Periode sehen konnten. Obwohl jene Periode vorbei scheint, warnt Rottenfußer uns: »Wenn wir Lockerungen ergriffen entgegennehmen, ohne auf einer gründlichen Aufarbeitung des desaströsen Geschehens zu bestehen, ohne auch eine klare Absicherung und erhebliche Ausweitung der Freiheit zu fordern, dann tragen Lockerungen schon die Keimzelle künftiger Verschärfungen in sich.«
Vielleicht denken Sie jetzt, dass ein Buch mit solch schweren Themen sich auch schwer lesen lässt. Das ist aber nicht der Fall. Rottenfußer bewegt sich leichtfüßig und manchmal sogar humorvoll von Philosophie zur Literatur und Film, um seine Ideen zu illustrieren. Er scheut dabei nicht, auch kontroverse Ideen zu präsentieren. So betrachtet er Strafen generell als etwas Negatives. Er schreibt: »Strafen erschafft oft erst den bösen Charakter, auf den es zu reagieren meint.« Und: »Wer zu Strafen verurteilt oder an der Exekution von Strafen beteiligt ist, nimmt für sich willkürlich eine Position angemaßter Reinheit in Anspruch. Seine eigenen Fehler und Sünden tun nichts zur Sache (…) Für den Richter, den Vollzugsbeamten, aber auch für die geifernde Menge, die sich – in unserer zivilisierten Epoche nur im übertragenen Sinne – nur als Zuschauer unter dem Schafott sammelt, bedeutet das Strafen eine psychische Entlastung im Hinblick auf eigene mögliche unterdrückte Schuldgefühle. Der Exekutierte wird so für die projektive Selbstentlastung der Guten instrumentalisiert.« Natürlich würde eine Bestrafung von Lauterbach und Gefährten, was übrigens nicht vom Autor thematisiert wird, zu einer kollektiven Selbstentlastung hier in Deutschland führen, aber gäbe es zur Aufarbeitung der ganzen Corona-Periode eine Alternative zur deren Bestrafung?
Recht auf Widerstand: Meditation?
Nicht weniger kontrovers ist Rottenfußers Befürwortung des Matriarchats. Matriarchate definiert er als »egalitäre Konsensgesellschaften. Patriarchate sind demgegenüber grundsätzlich Herrschaftsgesellschaften, sogar noch in ihrer Spielart als formale Demokratien.« Obwohl ich der Idee einer Konsensgesellschaft nicht unsympathisch gegenüberstehe, irritieren die praktischen Empfehlungen des Autors zu diesem Thema mich schon ein bisschen. So solle ich als Frau »den Klammergriff männlicher kultureller Propaganda abschütteln« und zu mir selbst finden. Es nervt, wenn ein Mann mir erzählen möchte, was ich als Frau zu tun habe.
Da der Autor mich mit seinem Buch inspiriert hat, bestimmte Bücher zu lesen und Filme zu gucken, und nachzudenken über die Welt in der ich leben möchte und wie ich selber zu so einer Welt beitragen könnte (als Mensch!), verzeihe ich ihm diesen kleinen faux-pas aber.
Um die Freiheit zurückzuerobern, empfiehlt Rottenfußer uns am Ende des Buches als Akt des Widerstandes, Verbindungen mit Gleichgesinnten einzugehen und zu inneren Migration zu finden, wozu auch das Pflegen eines spirituellen Lebens gehören könnte. Irgendwie kommen mir die Vorschläge des Autors wenig ambitioniert vor. Na gut, die frühen Christen pflegten auch ein reges spirituelles Leben, ließen sich relativ einfach an die Löwen verfüttern und nichtsdestotrotz ist die damalige Widerstandsreligion eine der größten Weltreligionen geworden. Natürlich hat der Autor Recht, wenn er schreibt: »Meditation eröffnet Räume innerer Freiheit, wo die äußere – derzeit – nicht möglich scheint. Spirituelle Übungen können dabei helfen, dass man sich unter widrigsten Umständen nicht brechen lässt.« Trotzdem glaube ich nicht, dass die Mütter und Väter des deutschen Grundgesetzes beim Recht auf Widerstand in erster Linie an Meditation dachten …
Mathilde van der Linden ist Buchhalterin aus den Niederlanden. Sie arbeitet und wohnt in Frankfurt am Main.