Die beiden Geistlichen Hanns-Martin Hager und Jürgen Fliege haben unlängst einen offenen Brief veröffentlicht: Gerichtet an den evangelischen Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, der die Rolle seiner Kirche während der Corona-Zeit herunterspielte.
Ein Gespräch mit Hanns-Martin Hager.
De Lapuente: Herr Hager, Sie haben zusammen mit Ihrem Kollegen Jürgen Fliege einen offenen Brief an die Adresse des evangelischen Landesbischofs Heinrich Bedford-Strohm verfasst. Grund war unter anderem, dass dieser verlauten ließ, während der Pandemie sei alles richtiggemacht worden. Wo hat Ihrer Ansicht nach die Kirche besonders versagt während der letzten drei Jahre?
Hager: Konstitutiv für das Selbstverständnis der protestantischen Kirche ist die kritisch-prophetische Dimension ihres gesellschaftlichen Handelns. Seit den Zeiten des Alten Testaments ist es die unverzichtbare Aufgabe der religiösen Weisen, sämtliche Entscheidungen der Herrschenden mit prüfendem Blick zu beobachten. So hatte zum Beispiel der Prophet Jesaja versucht, Kriegsvorbereitungen im Namen Gottes zu verhindern. Es war seine heilige Pflicht, den König immer dann zu kritisieren, wenn dieser dem Volk nicht Gerechtigkeit widerfahren ließ. Mit der Proklamation der »Pandemie« hat die protestantische Kirche ihr elementares Wächteramt komplett aufgegeben. Ohne jede Diskussion segnete die kirchliche Leitungsebene alle staatlichen Maßnahmen unterwürfig ab.
De Lapuente: Können Sie Beispiele nennen?
Hager: 2020 zu Beginn der Corona-Krise durften mehrere Wochen lang keine Live-Gottesdienste in Kirchenräumen stattfinden – unter anderem über Ostern, dem höchsten kirchlichen Fest. Zudem war es verboten, die Alten und Sterbenden zu besuchen. Das ist historisch beispiellos. Seitdem das Christentum eine offiziell anerkannte Religion ist, hat sich die Kirche bisher von keinem Regime derartige Verbote auferlegen lassen – nicht in Zeiten der schlimmsten Diktaturen und nicht in Zeiten der hochinfektiösen Pest. In widerspruchslosem Untertanengeist hat sie sich der Staatsräson unterworfen und damit im Kern die Botschaft des Jesus aus Nazareth verraten.
»Der Mensch ist unheilbar religiös«

De Lapuente: Kirche bestand ja immer auch aus der Losung, dass man Gemeinschaft durch Nähe erzeugt. Während Corona erklärte man das Gegenteil: Gemeinschaft bedeute Abstand. Wieso hat sich Ihrer Meinung nach die evangelische Kirche – die katholische Kirche hat sich ebenso eingereiht – auf diese Umkehr ursprünglicher Werte eingelassen?
Hager: Das widernatürliche Verbot jeglicher leibhaften Nähe – sowohl in der Seelsorge wie in Gottesdiensten – bedeutete nicht weniger als ein Verbot bzw. eine Pervertierung des Lebens schlechthin. Ohne direkte Begegnung und Berührung der Menschen stirbt jedes Individuum wie auch jedes Gemeinwesen innerlich ab. Dass die Kirche das staatlich angeordnete Kontaktverbot inklusive Hausarrest (mit dem Anglizismus »Lockdown« benannt) bis hinunter auf Gemeindeebene umgesetzt hat, liegt an der nach wie vor engen Verbindung zwischen weltlicher und geistlicher Obrigkeit. Diese begann im Jahre 380, als der oströmische Kaiser Theodosius I. und sein weströmischer Kollege Valentinian II. ein Dekret unterzeichneten, mit dem das Christentum nach den Verfolgungen der ersten Jahrhunderte zur Staatsreligion erhoben wurde. Für die der Kirche verliehenen Privilegien erwarten die Herrschenden bis heute unbedingte Gefolgschaft.
De Lapuente: Herr Hager, Sie sind Pfarrer – aber Ihre Antwort klingt ein wenig so, wie die Erklärungen jener, die sich von der Kirche oder gar von Gott abgewandt haben, manchmal »Atheisten« genannt. Auch jene sagen, die Kirche sei ein Feigenblatt der weltlichen Macht und – nach einem mittlerweile zu oft zitierten Ausspruch von Marx – Opium für das Volk. Was würden Sie denen, die Gesellschaft ohne Kirche und Religion anstreben, entgegnen wollen? Kann Gesellschaft ohne Kirche sein?
Hager: Kirche und Religion sind zwei Größen, die nicht von vornherein gleichgesetzt werden können. Kirche ist die institutionalisierte Form von Religion. Die Essenz von Religion ist etwas ganz Anderes. Eine Gesellschaft kann sehr wohl ohne institutionalisierte Religion in Form einer Kirche leben, aber nicht ohne einen individuellen Transzendenzbezug, nicht ohne das urmenschliche Gefühl, dass das biologisch-materielle Leben von etwas Größerem überwölbt wird. Dieses kann nur persönlich erahnt oder existentiell erfahren werden. Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann hat es in einem Satz ausgedrückt: »Der Mensch ist unheilbar religiös.«
»Die einfachen Gläubigen brauchen keine kirchlichen Gouvernanten«
De Lapuente: Wie muss die Kirche sich ausrichten, so sie denn auch künftig einen berechtigten gesellschaftlichen Platz einnehmen will?
Hager: Das für mich entscheidende Kriterium ist: Um wieder glaub- und vertrauenswürdig zu sein, muss sich die Kirche an ihren biblischen Vorbildern ausrichten, vor allem natürlich an Jesus aus Nazareth. Sie hat – wie er – ganz bei den Menschen zu sein und darf nicht zu einem religiösen Sprachrohr der Herrschenden verkommen. Insbesondere hat sie sich laut und deutlich für die Randgruppen einzusetzen: die Gescholtenen, Benachteiligten und Diffamierten. Die klare Orientierung an der Lehre des einfachen Zimmermanns aus Nazareth impliziert besonders, dass die Kirchenfürsten endlich ihre selbstgerechte, eitle Attitüde aufgeben.
De Lapuente: Bitte erklären Sie, was Sie mit eitler Attitüde meinen.
Hager: Obwohl sie wohlfeil ständig vom Dienen reden, glauben sie implizit ja, auf dem hohen Ross zu sitzen. Dabei realisieren sie nicht, dass sie gar kein Ross haben. Die einfachen Gläubigen brauchen keine kirchlichen Gouvernanten. Die große reformatorische Entdeckung Luthers bestand ja darin, dass er ein allgemeines Priestertum aller Gläubigen ausgerufen hat. Alle, die getauft sind, tragen das Potential in sich, direkt und ohne amtliche Vermittler mit dem Göttlichen in Beziehung zu treten.
De Lapuente: Das Christentum des Augenblicks, wenn wir das mal so nennen wollen, spricht sich für Waffenlieferungen in die Ukraine aus. Priester segnen Waffen und Soldaten. Auch der schon genannte Bedford-Strohm glaubt, dass Waffenlieferungen vertretbar seien. Steckt in dieser Haltung überhaupt noch ein Rest an Christentum?
Hager: Ganz klar NEIN! Die Haltung Jesu in Fragen von Krieg und Gewalt ist eindeutig. Selbst während seiner Gefangennahme, wo Jesus persönlich mit extremer Gewalt konfrontiert ist, fordert er seinen kampfbereiten Jünger Petrus auf: »Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen!« (Matthäus 26, 52) In der Bergpredigt lautet die siebte Seligpreisung: »Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.« In der gegenwärtig hochexplosiven Lage in Europa von theologischer Seite die Remilitarisierung der deutschen Außenpolitik im Krieg gegen Russland als moralische Pflicht zu fordern, ist ein unverzeihliches theologisches Vergehen.
»Ein Schlag ins Gesicht des Weihnachtsevangeliums«
De Lapuente: Haben Sie vielleicht ein anschauliches Beispiel für so ein theologisches Vergehen, Herr Hager?
Hager: Am 23. Dezember 2022 zitierte die Westfalenpost die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus mit dem Satz: »Waffen für die Ukraine sind Pflicht christlicher Nächstenliebe.« Einen Tag vor Weihnachten ist so ein Satz nicht weniger als ein Schlag ins Gesicht des Weihnachtsevangeliums, in dem die Engel den Hirten verkündigen: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.« (Lukas 2,14) Stärker kann man sich als Inhaberin eines kirchlichen Spitzenamtes selbst nicht delegitimieren.
Die aktuell von der Kirche unterstützten staatlichen Forderungen nach Waffenlieferungen rufen die Erinnerungen wach an das Gebet eines amerikanischen Militärgeistlichen, der vor dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima am 6. August 1945 betete: »Gott, wir bitten dich, dass unsere tapferen Soldaten, die aufsteigen in deinen Himmel, von dir gesegnet seien.« Der mutige evangelische Theologe Helmut Gollwitzer kommentierte damals, dies sei kein Gebet, sondern eine Gotteslästerung.
De Lapuente: Sie sagen, so eine Theologie sei unverzeihlich: Muss man als Christenmensch nicht gerade den Sündern verzeihen? Also stellen wir uns mal vor, die genannte Ratsvorsitzende oder Herr Bedford-Strohm erkennen ihre Schuld: Heißt es da nicht verzeihen? Oder wäre das zu einfach?
Hager: Verzeihen bzw. vergeben wird häufig assoziiert mit einer großen kultischen Geste der Absolution durch einen Pfarrer, der dem reuigen Sünder im Namen Gottes seine Verfehlungen vergibt: Zum Beispiel im Rahmen einer gottesdienstlichen Beicht- und Bußfeier. Also das Tilgen einer Schuld in Gestalt einer unbeteiligten geistlichen Amtsperson. Vergebung meint im Kern etwas Anderes, nämlich: Wenn der, den das Leid getroffen hat, zu sich selbst sagt: Das, was in der Vergangenheit geschehen ist, hat keine Macht mehr über mich. Das griechische Wort für vergeben heißt so viel wie »wegstellen«. Das bedeutet: Wenn mir etwas Schlimmes widerfahren ist, das weder ich noch ein anderer ungeschehen machen kann, dann sage ich: Ich stelle es für mich weg. Es übt keinen negativen Einfluss mehr auf mein Leben aus. Nach meiner jahrzehntelangen Erfahrung als Seelsorger behaupte ich: Das ist die einzige Möglichkeit, wie Vergeben funktioniert.
De Lapuente: Können Sie das ein wenig konkreter erläutern?
»Regierungshörige Vasallen im kirchlichen Establishment«
Hager: In unserer gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Situation bedeutet das also nicht: Ich vergebe den Kirchenfürsten für ihre fatale Haltung zu Waffen und Krieg, sondern: Ich distanziere mich innerlich von solchen skandalösen Aussagen, die ich nicht ändern kann – und orientiere mich persönlich wieder direkt an den Wurzeln des Glaubens. Und dazu verbinde ich mich mit Gleichgesinnten. Das geschieht bereits landauf landab. Immer mehr Menschen wenden sich von den Amtskirchen ab und ziehen sich dorthin zurück, wo der christliche Glaube seinen Ursprung hat – in den kleinen Kreis von Privathäusern. Die Lehre Jesu, die nicht für religiöse Großorganisationen gemacht ist, ist zu wichtig, als dass man sie einem kirchlichen Establishment mit seinen regierungshörigen Vasallen überlässt, die sie um der Staatsräson willen verraten haben.
De Lapuente: Das sind harte, ja fast schon revolutionäre Worte – zumal für einen Geistlichen …
Hager: Die jahrhundertelange Blutspur, die das amtliche Christentum in Gestalt von Kreuzzügen, Hexenjagden, Ketzerverfolgungen und Waffensegnungen hinterlassen hat, ist lang und tief. Daher ist es endlich an der Zeit, dass die revolutionäre Lehre des Zimmermanns aus Nazareth sich nach 2.000 Jahren wahrhaft neu entfaltet. Dieser Neuanfang ist meiner Überzeugung nach nur in einem überschaubaren und geschützten Umfeld möglich, in einem geistigen Innenraum, in dem sich jenseits von Kriegstreiberei und Kontrolle ein wirksames Klima von Frieden und Freiheit entwickeln kann. Nach gegebener Zeit wird dieser heilsame Klimawandel sich auch auf die ganze Welt ausbreiten.
De Lapuente: Der mittlerweile verstorbene Papst Benedikt XVI. hat 2011 in seiner Freiburger Rede eine Entweltlichung der Kirche befürwortet, vereinfacht gesagt dem Sinne nach, dass Kirche und Staat strikt getrennt sein sollten: Sehen Sie darin auch einen Weg für eine Religion der Zukunft?
Hager: Ja, die Entweltlichung der Kirche in Gestalt einer politischen wie finanziellen Unabhängigkeit vom Staat und in konsequenter Wahrnehmung ihres eingangs benannten kritischen Wächteramtes wäre sehr erstrebenswert. So könnte eine zweite Renaissance entstehen, in deren Verlauf im momentan maroden Kirchenschiff – analog zur 2019 ausgebrannten Kathedrale von Notre Dame in Paris – wieder neues geistliches Leben erblüht.
De Lapuente: Lieber Herr Hager, herzlichen Dank für dieses tiefgründige Gespräch. Möge also der Frieden mit uns sein.
Hager: Auf dass sich das Wort des Propheten Micha (Kap. 4, Vers 3) erfülle: »Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.«
Hanns-Martin Hager, Jahrgang 1959, ist Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und ist seit 2021 im Ruhestand. Zuletzt war er Gemeindepfarrer in Grainau in der Kirchengemeinde Garmisch-Partenkirchen. Von 1990 bis 2018 war er als Seelsorger in verschiedenen klinischen Einrichtungen tätig. Er ist Heilpraktiker für Psychotherapie. Von 1999 bis 2017 hielt er Vorträge zu medizinethischen Themen an der Evangelischen Akademie Tutzing.