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Zum Abschied eines armen Landes

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Ich habe Gert Ewen Ungar zum ersten Mal wahrgenommen, als er zur Fußball-WM aus Russland berichtete. Er hat mir einen ersten, zaghaften Blick in die „russische Seele“ erlaubt, danach habe ich ihn wieder aus den Augen verloren. Bis er Teil der neulandrebellen wurde.

Dieser kleine Abschiedstext markiert überhaupt keinen Abschied. Denn auch wenn Gert Deutschland verlässt, bleibt er doch „in der Nähe“ – gedanklich, inhaltlich, als offizieller Auslandskorrespondent unseres Blogs. Außerdem ist es im digitalen Zeitalter leicht, auch über größere Entfernungen in Verbindung zu bleiben.

Und doch ist es etwas anderes als bisher. Als ich von meiner Russlandreise zurückkam, überraschte Gert mich am Berliner Flughafen, nach einem langen Flug hätte meine Freude kaum größer sein können. Vor meiner Reise verbrachte ich mit zwei Kollegen den Abend bei Gert, wir wurden bestens versorgt, am Ende – da war schon der eine oder andere Tropfen Alkohol geflossen – beschlossen wir, einen Podcast zum Thema „Der Mensch als vernunftbegabtes Wesen?“ aufzunehmen. Nicht immer werden Ideen in Bierlaune später auch umgesetzt, aber unseren Podcast haben wir dann ein paar Wochen später tatsächlich gemacht.

Jetzt ist Gert weg. Er ist weiterhin ein Neulandrebell, aber eben nicht mehr hier im Land, sondern da draußen, abseits des deutschen Wahnsinns. Wieder einer mehr, könnte man sagen. Nur noch wenige Menschen, die mir am Herzen liegen, leben noch in Deutschland. Hinzu kommen die, die ich nicht persönlich kenne, aber schätze. Auch von ihnen gibt es einige. Auch sie: weg.

Die Gründe, die Menschen zum Auswandern bewegen, sind so vielfältig wie individuell, doch seit ein paar Jahren wird ein Grund immer wieder geäußert: „Ich halte es hier einfach nicht mehr aus.“ Die oft geäußerten Reaktionen auf diese Aussage lauten nicht selten so oder so ähnlich:

Dann geh halt weg, so was wie dich brauchen wir hier eh nicht.

Das ist es, was mich am meisten schockiert: die Ignoranz, das Desinteresse an Menschen und ihren Beweggründen, das Land zu verlassen. Denn niemand trifft eine solche Entscheidung mal eben so, ihr gehen zahlreiche Überlegungen voraus, Zweifel, Ängste, Unsicherheit. Doch wir sind an einem gefährlichen Punkt angekommen, an einem Punkt, an dem nur akzeptiert ist, wer das denkt und das sagt, was gesellschaftlich erwartet wird. Wer sich dazu nicht zwingen lassen will, muss mit Druck, mit Anfeindungen und offenen Bedrohungen rechnen.

Menschen, die im Sinne der gesellschaftlichen Erwartungen leben, können sich das nicht vorstellen. Mehr noch, sie weigern sich, daran zu glauben, dass es so etwas gibt. Groteskerweise sind es oft die, die selbst Druck aufbauen, sie merken es nicht einmal mehr, fühlen sich im Recht und sind der Meinung, dass ihr Verhalten schon in Ordnung ist. Und wenn gar nichts mehr geht, kommt das Argument:

Aber da sterben Menschen!

Das lässt sich wahlweise auf Corona, den Ukraine-Konflikt, den Klimawandel und weitere, noch nicht benannte Themen anwenden. Wie undifferenziert und abgekoppelt von der restlichen Lage im Land oder auf der Welt diese „Argumentation“ ist, wird schon lange nicht mehr registriert.

Sie sind heute nicht mehr wertvoll, nicht mehr wichtig für eine gedeihliche Entwicklung eines Landes: die Querdenker, die, die gegen den Strom schwimmen und allgemeine Erzählungen anzweifeln oder auch nur hinterfragen. Sie sind zu Störfaktoren geworden, die die eigene vermeintlich heile Welt bedrohen. Sie konfrontieren die Gesellschaft mit abweichenden Meinungen, entwickeln Gegenentwürfe, lassen sich nicht verbiegen. Das kommt nicht mehr gut an. Jene Querdenker, die es früher einmal gab, die längst nicht mehr leben, die Großes oder Kleines geleistet haben mit ihrer Widerspenstigkeit, die werden geehrt und gefeiert. Sie können ja kein Unheil mehr anrichten.

Doch jene, die im Hier und Jetzt gegen den Strich bürsten, sind nicht willkommen, und wenn sie nach langem Ringen entscheiden, dass es besser ist, das Land zu verlassen, weint ihnen kaum jemand eine Träne nach. Undankbar seien sie, nie zufrieden, auf der falschen Seite und Demokratiefeinde obendrein, jawoll!

Und so bleibt am Ende eine gleichförmige Gesellschaft übrig, mit grauen, leblosen Gesichtern und einer allgemein anerkannten Meinung, mit Gestalten, die keine Spannung in sich tragen, die bequem und denkfaul geworden sind und die tristen Tage gelangweilt und ohne Motivation an sich vorbeiziehen lassen. Zwischendurch wird jemand denunziert, den man bisher noch nicht auf dem Schirm hatte, um danach wieder die Fernbedienung in die Hand zu nehmen und einen Film zur Zerstreuung oder die Nachrichten zur optisch-akustischen Informationsaufnahme ins Hirn regnen zu lassen.

Ich kann jeden verstehen, der geht, der sich diesen Stress nicht mehr antun will. Ich kann es umso besser verstehen, als ich Menschen kennengelernt habe, die so viel Herzensgüte und Empathie in sich tragen, dass man es kaum fassen kann, und die öffentlich angefeindet werden von Menschen, die keine Ahnung haben, wen sie da angreifen. Gert gehört zu diesen Menschen. Er ist warmherzig, verständnisvoll, tolerant und loyal bis in die Fußspitzen. Wenn es mir dreckig geht und ich jemanden brauche, dem ich mein Leid vor die Füße werfen kann, dann gehört Gert zu diesen Menschen, an die ich mich sofort wenden könnte. Und all jenen, die sich aufgrund seiner abweichenden Meinung ein Bild von ihm gemacht haben und auf Twitter Anfeindungen schreiben, nicht ohne den Bundesnachrichtendienst ins „CC“ zu setzen, all jenen, die ihm gegenüber die Empfehlung aussprechen, nachts immer schön über die Schulter zu gucken, es könnte jemand da sein, der einen Baseballschläger dabei hat und ihn benutzt – all jenen kotze ich hiermit direkt auf die Füße und rufe ihnen zu:

Schert euch zum Teufel, Ihr Ungeheuer!

Dieses Land wird ärmer. Aber nicht so, wie Habeck es meint, wenn er eine Form der Solidarität erwartet, die eingebettet ist in den eigenen Hass, den Narzissmus und die Verantwortungslosigkeit. Es wird ärmer an Persönlichkeiten, an Menschen mit Herz, Verstand, Widerstandsfähigkeit und Utopien. Dabei brauchen wir sie, haben sie schon immer gebraucht.

Das ist wohl eines der größten Probleme in Deutschland: Dass viele Menschen denken, bestimmte andere Menschen werden nicht mehr gebraucht, sind überflüssig und sollen verschwinden. Vielleicht wird dieses Ziel der menschlichen Selektion irgendwann erreicht sein.

Und dann wird dieses Land richtig arm sein.

Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen und ist für unsere Podcasts der »Technik-Nerd«.

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