Geht es in den Debatten zur Homo- und Transsexualität, Feminismus und Rassismus eigentlich wirklich darum, dass man Toleranz einfordert? Oder möchte man eine absolute Beseelung und Verinnerlichung erwirken? Denn Toleranz in diesen Fragen gibt es im Großen und Ganzen bereits.
»Ich bin Trans: Lern mich kennen!« So wirbt ein Plakat bei uns in der Stadt. Darauf eine Person, die vermutlich zur Frau wurde. Immer wenn ich an dem Aushang vorbeigehe, frage ich mich, ob das wirklich jemanden anspricht. Will man Menschen nicht kennenlernen, weil sie was verbindet? Weil sie tolle Geschichten erzählen oder man gemeinsame Interessen hat? Wenn ich damit werbe, dass ich heterosexuell bin, bitte lernt mich kennen, da würde doch auch alle Welt zurecht fragen, ob ich spinne. Degradiert sich die Person nicht selbst? Will sie aufgrund ihrer sexuellen Spezifikation mit Leuten zusammenkommen? Reduziert man sie da nicht auf eben jene Sexualität? Macht sie sich – kantisch gesprochen – zum Zweck, zu einem Objekt?
Angenommen ich sage, ich mag keine Schwulen
Das Plakat ist exemplarisch für eine jener zeitgenössischen Haltungen, die kaum nachvollziehbar sind: Man möchte den Dialog erzwingen. Denn man glaubt, nur so entstehe Toleranz, indem man sich ganz tief in die Lebenswelt und -wirklichkeit anderer Menschen hineinversetzen kann. Ich sehe das anders, ich glaube, dass Toleranz aus großen Stücken von Gleichgültigkeit besteht. Mir ist die transsexuelle Person völlig egal; nur weil sie transsexuell ist, muss ich sie nicht kennenlernen. Bringt uns der Zufall des Alltags zusammen, werde ich sie nicht meiden. Aber ihre Sexualität bleibt mir dabei gleichgültig. Soll sie doch sein, was sie will. Meinen Kosmos ficht das ja nicht an.
Im Grunde gehe ich da noch weiter: Angenommen ich sage, dass ich zum Beispiel keine Schwulen mag. Sage ich ja nicht – ich sage aber auch nicht das Gegenteil. Warum sollte ich Schwule per se mögen? Weil sie schwul sind etwa? Man muss die Leute doch erst kennenlernen, bevor man sowas sagen kann. Dass ich Deutsche mag, kann ich auch nicht einfach so sagen. Es gibt doch viel zu viele unter ihnen, die ich nie und nimmer leiden könnte. Aber angenommen, ich würde jetzt sagen, dass ich Schwule nicht leiden kann: Ist das schon Intoleranz?
Meine bescheidene Position dazu: Nein, ist es nicht. Die Frage ist nämlich nicht, wie ich über jemanden oder über eine gesellschaftliche Gruppe denke. Es kommt darauf an, wie ich mit ihr im Alltag umgehe. Die Gedanken sind frei. Meinungsfreiheit meint eigentlich, dass das, was sich im Gehirn an Gedanken staut, auch für die Außenwelt ausgedrückt werden darf. Insofern ist die Aussage, keine Schwulen zu mögen, erstmal genau das: Eine Aussage. Die ersten rufen nun schon: Meine Güte, das ist pure Intoleranz. Das kann man nicht so stehenlassen! Man bewertet Menschen nach dem, was sie tun oder unterlassen – nicht nach dem, was sie sagen.
Er mochte keine Roma
Ich möchte das an einem anderen Beispiel kenntlich machen. Es geht um einen Bekannten von früher. Er sagte offen, dass er Sinti und Roma nicht mag. Wenn es möglich ist, geht er ihnen aus dem Weg. Viel Erfahrung habe er zwar mit ihnen nicht gemacht. Aber das Bisschen an Erfahrung, das er sammeln konnte, hat ihn abgeschreckt. In jungen Jahren fand ich es befremdlich, dass er das so offen sagte. Das sei doch intolerant, man tue das nicht. Das habe ich ihm auch so gesagt. Und noch viel mehr: Ich warf ihm an den Kopf, dass man aufgrund der Vergangenheit im Dritten Reich, nicht so von dieser ethnischen Gruppe sprechen könne.
»Moment!«, rief er da laut. Das habe nichts mit seiner Einstellung zu tun. Die Nazikeule könne ich weglegen. Natürlich würde er niemals akzeptieren, wenn man sie heute einsperren oder gar in Arbeitslager stecken würde. Herrgott, das hat doch nichts mit seiner Abneigung zu tun. Da geht es um Menschenrechte. Diese Leute sind schließlich Menschen – nie würde er, wie Großvattern, diesen Status in Abrede stellen wollen. Wenn man diese Leute ins Land holt, sagte er außerdem, dann muss man sie versorgen: Das sei doch selbstverständlich. Er möchte, dass man Sinti und Roma anständig behandelt. Was habe die Unterstellung, er wandle auf Nazi-Spuren, also mit ihm zu tun?
Ich war jung, konnte nicht richtig abstrahieren. Fand seine Haltung falsch. Heute würde ich es anders sehen. Er sucht keinen Kontakt zu jener Gruppe. Aber er ist – oder war – ein Demokrat. Mit allen Konsequenzen. Er ringt sich Toleranz ab – und die besteht aus großen Stücken aus Gleichgültigkeit. Bis zu einer gewissen Grenze. Wenn es um Aberkennung von Bürger- oder Menschenrechten geht, spielt er nicht mehr mit. Dann kommt er heraus aus seiner Gleichgültigkeit. Er wollte Toleranz nicht als körperliche Nähe missverstanden wissen. Sinti oder Roma selbst persönlich zu kennen: Das war keine Grundlage seiner demokratischen Haltung.
Toleranz bedeutet: Lass mich in Frieden, ich lass dich in Frieden
Diese Grundeinstellung unterscheidet ihn ja vom Undemokraten. Der mag Zigeuner wahrscheinlich auch nicht. Würde sie aber lieber zusammengetrieben, außer Landes verwiesen oder ins Arbeitslager gesteckt wissen. Das heißt nicht, dass mein einstiger Bekannter ein großer Freund der Zuwanderung war. Die hätte er gerne vermieden. Aber wie gesagt, wenn sie erstmal da sind, gelten demokratischen Standards – auch wenn er persönlich sie nicht leiden mag.
Heute kann ich mit dieser Haltung absolut konform gehen. Es geht nicht um Beteuerungen oder Bekenntnisse. Das ist nur Gesagtes, kann stündlich wechseln, wenn man viel redet am Tag. Toleranz ist eine Handlungsanweisung. Was letztlich zählt, ist wie man am Ende dazu steht. Man kann abseits stehen, sogar Abneigung gegenüber jemanden pflegen, wenn man demjenigen nicht gleich auf den Pelz rücken will, ihn mit Respekt behandelt, ihm seine Rechte zuerkennt, dann ist man eben kein Reaktionär, sondern benimmt sich völlig legitim.
Toleranz ist eben kein sich Kennenlernenmüssen, kein auf Tuchfühlunggehen. Es ist die gute alte Weisheit, dass man leben und leben lassen soll. Man lässt sich gegenseitig in Frieden. Und wenn man sich nicht ertragen kann, meidet man sich eben. Das ist nicht verwerflich, sondern sogar verantwortungsvoll. So eine Einstellung wollen die woken Toleranztüftler natürlich nicht gelten lassen. Sie wollen vermitteln, Lebensmodelle nicht einfach nur als gleichwertig hinstellen, sondern sie brachial vorstellen, als Konzept unter die Nase reiben. Das wollen viele Menschen aber partout nicht. Für die Jünger der Lehre sind das Ketzer, alte weiße Menschen, die nicht in der Neuzeit ankommen wollen. Das Gegenteil dürfte der Fall sein: Es sind oft sehr tolerante Menschen, die nicht von Oberlehrern getriezt werden wollen. Denn die Toleranz, die sie lehren, ist plumpe Pädagogik. So ist das mit rigiden Handwerkern des Moralismus: Sie nutzen immer den Vorschlaghammer. Bis zu einem gewissen Punkt toleriere ich sie. Wo sie aber zu Reaktionären werden, ist meine Toleranzgrenze erreicht.