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„Too Big to Jail“ oder: Alles Sozialismus, oder was?

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Wo man auch geht und steht, immer wieder begegnet man der düster formulierten Warnung, unsere Gesellschaft würde sich zum Sozialismus entwickeln. Daran soll der Staat natürlich erheblichen Anteil haben, der die Freiheit beschneidet und sich in Planwirtschaft übt.
Doch ist diese Befürchtung gerechtfertigt?

Nicht nur für Markus Krall, dessen neues Buch „Freiheit oder Untergang“ ich im Zuge der Vorbereitung auf ein Interview mit ihm gelesen habe, stecken wir mittendrin im Sozialismus. Man hört und liest es auf verschiedenen Seiten, und es kommt von rechts und von links: „Das müssen wir verhindern!“ Doch um was genau geht es hier eigentlich? Was führt zu dem Gedanken, dass Deutschland unter Merkel und ihren Komplizen in den Sozialismus abdriftet?

Planwirtschaft, er hat Planwirtschaft gesagt!

Es fällt schnell auf, dass der Begriff Sozialismus meist mit dem assoziiert wird, was wir in der DDR vorgefunden haben, oder zumindest meinen, dort vorgefunden zu haben: Planwirtschaft, Bürokratie, affektierte Solidarität, staatliche Eingriffe in das persönliche Leben, im Zeitalter von Corona sogar wieder das Schlangestehen, Überwachung (die allerdings eine deutlich längere Geschichte hat).

Und tatsächlich finden wir in Deutschland diese Dinge vor, inklusive der Planwirtschaft, die auch noch handwerklich so schlecht gemacht scheint, dass sie den Fünfjahresplänen der DDR in nichts nachsteht. Andererseits gab es Fünfjahrespläne nicht nur in der DDR, und es gibt sie in einigen Ländern – wie etwa China – noch immer. Und auch Deutschland hatte ein solches Modell, im Jahr 1936. Nur hieß das damals Vierjahresplan und diente vornehmlich der militärischen Planung. Wir wissen, was daraus entstand.

Man muss allerdings, bezogen auf die sogenannte Planwirtschaft in Deutschland, anmerken, dass diese zu anderen Fünfjahresplänen einen eindeutigen Unterschied aufweist: Sie werden nie verwirklicht. Man beachte die Pläne, die Digitalisierung massiv auszubauen, die es wohl schon vor der Erfindung der E-Mail gab, die bis heute aber reine Lippenbekenntnisse sind. Oder die Umstellung auf – wie heißt es so schön? – CO2-neutrale Energiegewinnung. Das Ende der Kohle (nein, nicht des Geldes, das ist ein anderes Thema), das Ende des Verbrennungsmotors, das Ende von Korruption (hier liegt kein konkreter Zeitplan vor) und das von Andreas Scheuer und Jens Spahn (auch hier tappen wir weiter im Dunkeln).

All das wird gern als Planwirtschaft zusammengefasst. Und im selben Atemzug heißt es dann, dass der Staat die individuelle und die unternehmerische Freiheit einenge und so durch das Monstrum Planwirtschaft jede positive und freiheitliche Entwicklung störe.
Das stimmt. Jedoch nur bedingt.

Denn unser Staat überlegt sich genau, wo er reglementiert und wo nicht. Es ist weder eine Legende noch eine Verschwörungstheorie, dass kleine und mittelständische Unternehmen bei einem winzigen Steuerrückstand mit drastischen Maßnahmen rechnen müssen. Dann werden dann schnell mal – auch wenn das vom zuständigen Finanzamt und den Sachbearbeitern abhängt – Konten gepfändet oder der Gerichtsvollzieher vorbeigeschickt.

Ganz anders bei großen Unternehmen, also richtig großen Unternehmen. Das Beispiel des „Diesel-Skandals“ sei hier zwar genannt, es steht aber für ein grundlegendes Prinzip. Und dieses Prinzip könnte man „Too Big to Jail“ nennen. Es geht immer um irgendwas: Arbeitsplätze, den Wirtschaftsstandort, Angst vor Flucht in billigere Standorte, Exportsorgen und ähnliche Dinge.

Schauen wir uns die „Leistungsträger“ Stefan Quandt und Susanne Klatten von BMW an. Schon im März 2018 bekamen die beiden Großaktionäre drei Millionen Euro überwiesen. Pro Tag, versteht sich. Welche Leistung genau sich hinter diesen Zahlungen verbirgt, weiß nur Gott oder Hayek, aber um den Verdienst von Leistungsträgern kann es sich faktisch dabei nicht handeln. Vor schmerzhaften Einschnitten durch staatliche Reglementierungen müssen die beiden sich jedenfalls nicht fürchten. Und vor einer Vermögenssteuer schon gar nicht, obwohl das eine sehr sinnvolle Form der Reglementierung wäre.

Ersparen wir uns weitere Beispiele, auch solche der „eleganten Steueroptimierung“, wir kennen sie, wissen, dass es sie gibt, und zwar zuhauf. Was man allerdings festhalten kann, ist die Tatsache, dass in diesen Fällen (sowie in zahlreichen anderen) eine „positive und freiheitliche Entwicklung“ durch den Staat nicht eingeschränkt oder auch nur ein bisschen behindert wird. Wenn das Planwirtschaft sein soll, stimmt etwas mit dem Plan nicht, die betroffenen Wirtschaftszweige dürften gegen diese Form der Planwirtschaft aber nichts haben.

Wir halten fest: Die Art und Weise, wie der Staat in die wirtschaftlichen und individuellen Freiheiten eingreift, richtet sich nach den Adressaten und ihrer Bedeutung für den Staat. Das ist nicht sonderlich sozialistisch, sondern in höchstem Maße kapitalistisch, oft und gern garniert mit Korruption, Vetternwirtschaft, Bestechung und intimen Geschäften zwischen Wirtschaft und Politik.

Sozialismus? Welchen hätten Sie denn gern?

Wer sagt, er fürchte sich vor dem hier einfallenden Sozialismus, der sollte auch sagen, welchen genau er denn meint. Im Gabler Wirtschaftslexikon ist unter „Sozialismus“ nachzulesen:

Sammelbezeichnung für zahlreiche Gesellschaftsentwürfe bzw. Lehren zu deren Verwirklichung, die seit Ende des 18. Jh. entstanden sind, mit dem Ziel, eine Gesellschaftsordnung, in der Gleichheit, Solidarität und Gerechtigkeit zwischen allen Menschen gewährleistet ist, anstelle der kritisierten individualistisch-liberalen Marktwirtschaft zu errichten. Art und Umfang der angestrebten Umgestaltung sowie der Weg zur ihrer Realisierung unterscheiden sich je nach sozialistischer Schule z.T. erheblich.

Damit tut sich bereits das erste Problem auf. Wenn es sich beim Sozialismus um „zahlreiche Gesellschaftsentwürfe“ handelt, muss die Kritik daran sich auf eine oder mehrere konkrete Ausprägungen beziehen. Das tut sie aber im Allgemeinen nicht. Stattdessen wird die DDR ins Spiel gebracht, die ja so dermaßen gescheitert sei, dass der Sozialismus nur übel und böse sein kann und immer schlimm enden muss.

Das ist allerdings ein sehr verkürztes Bild der DDR, auch dann, wenn man das damalige Modell des realen Sozialismus nicht anstrebt. Man möge einmal darüber nachdenken, wo wir heute stehen würden, wenn im Zuge der „Wiedervereinigung“ die positiven Errungenschaften der DDR für die BRD übernommen worden wären, statt den „Laden komplett niederzubrennen“. Das geschah bekanntlich nicht, und so stehen wir heute dort, wo wir stehen. Weil die politischen Entscheider nicht daran interessiert waren, aus beiden Systemen das Beste herauszufiltern und in einen neuen Rahmen einzubinden, sondern es ausnahmslos um die Vernichtung von allem ging, was die DDR hervorgebracht hatte.

Vergessen wir aber an dieser Stelle die DDR und widmen uns der Frage, wo der Sozialismus aktuell eine Bedrohung sein könnte.

Zunächst einmal kann man nur schwer kritisieren, dass der Sozialismus Gleichheit, Solidarität und Gerechtigkeit zwischen allen Menschen gewährleistet sehen will. Gleichzeitig sind diese Begriffe natürlich schwer angeschlagen und werden verwendet, wie es gerade passt. Gleichheit ist ohnehin unrealistisch, es sei denn, man bezieht sie auf zum Beispiel die (theoretische) Gleichheit vor dem Gesetz. Nimmt man dagegen Bezug auf die Gesellschaftsform, entsteht schnell ein Kollektiv, das zwar Gleichheit auf den Fahnen stehen hat, letztlich aber zur Gleichmacherei führt, in der jeder, der von der gewünschten Gleichheit abweicht, ein Problem darstellt. Damit ist die Gleichheit schon mal vom Tisch. Und wer in einer gesellschaftlichen Gleichheit dieser Art lebt, kann nur hoffen, dass es zumindest mit der Gerechtigkeit besser funktioniert und er nicht vor lauter Verschiedenheit von der Gleichheit vom Kollektiv ausgeschlossen wird.

Gerechtigkeit. Auch so eine Sache. Gerechtigkeit wäre etwa, wenn wirklich jeder die gleichen Chancen hätte, im Beruf erfolgreich zu sein. Das ist bekanntlich nicht der Fall, im Gegenteil. Die besseren Chancen haben die, die schon in entsprechende Schichten hineingeboren werden. Gerechtigkeit wäre auch, wenn Frauen das gleiche Geld für den gleichen Job wie Männer bekämen. Das ist aber ebenfalls nicht der Fall, wenngleich der Versuch, mehr Frauen in irgendwelche Vorstandsetagen zu bringen, dazu missbraucht wird, von Gerechtigkeit (und gleich auch noch von Gleichheit) sprechen zu wollen. Doch kommen diese auserkorenen Frauen aus Arbeiterfamilien und erfahren die Möglichkeit, nach ganz oben in die Vorstände aufzusteigen? Die Leser mögen sich diese Frage selbst beantworten.

Fehlt noch die Solidarität. Gerade in der Corona-Episode mussten wir feststellen, dass kaum ein Begriff grenzwertiger verwendet und zunehmend entfremdet wurde wie der der Solidarität. Und im Zuge der Identitätspolitik erfährt die Solidarität ohnehin eine Bewährungsprobe, die sie scheinbar nur sehr schwer bestehen kann.

Wir sehen: Die beschriebenen Begriffe lassen sich für den Sozialismus vereinnahmen, aber der Kapitalismus heftet sie sich auch gern ans Revers.

Darüber hinaus muss erneut die Frage erlaubt sein: Vor welchem Sozialismus fürchten sich die Kritiker eigentlich? Vor dem wissenschaftlichen Sozialismus? Dem Neomarxismus? Dem Revisionismus? Oder gar vor dem inzwischen sowieso in der Luft verpufften sozialdemokratischem Sozialismus? Zumindest vor Letzterem braucht sich kein Anti-Sozialist mehr zu fürchten, die SPD in Deutschland und andere Sozialdemokraten in anderen Ländern haben in den letzten 20 bis 30 Jahren sehr effektiv dafür gesorgt, dass er keine Rolle mehr spielt.

Gutes System, böses System

Der Sozialismus eignet sich aber vor allem dafür, den Kapitalismus besser dastehen zu lassen. Wohl auch deshalb behauptet ein Markus Krall, die Bundesregierung agiere sozialistisch, und wohl auch deshalb schreien viele Kritiker des „Great Reset“ gern „Hilfe, Sozialismus!“

Tatsächlich hat aber weder das eine noch das andere etwas mit Sozialismus zu tun und dient somit auch nicht als Instrument, den Kapitalismus in ein besseres Licht zu heben. Was die Bundesregierungen der letzten Jahrzehnte politisch angerichtet haben, ist Neoliberalismus in Vollendung. Zumindest fast. Wir mögen noch keine Verhältnisse wie seinerzeit in Chile haben (Interessierte mögen von Naomi Klein „Die Schock-Strategie“ lesen und an der Brutalität und der Macht des Neoliberalismus verzweifeln), aber die Einschüsse kommen näher. Langsam, aber stetig.

Letztlich steht die Frage im Raum, was überhaupt zu der Annahme führt, der Sozialismus würde uns alle unterjochen. Sicher ist es bei vielen Menschen das Gefühl, dass der Staat immer weiter in unsere persönlichen Entscheidungen eingreift. Im Zeitalter von Corona (und auch vorher schon) ist dieses Gefühl ja auch mehr als gerechtfertigt.

Aber werden Unternehmen beispielsweise im großen Stil verstaatlicht, was ja typisch für den Sozialismus wäre? Nein, im Gegenteil, es wird immer mehr – auch an Daseinsversorgung – an private Anbieter ausgelagert, zum großen Teil sogar billig verscherbelt.

Wird das Kollektiv in den Mittelpunkt gestellt? Nein, ebenfalls nicht, auch wenn es seit dem Beginn der Corona-Episode so wirken mag. Tatsächlich aber wird seit Jahren, seit Jahrzehnten das Individuum gepredigt, das „Jeder-ist-seines-Glückes-Schmied-Prinzip“ rauf und runter gebetet. Wir erleben also das Gegenteil des Kollektivs (unabhängig davon, wie man dazu stehen mag), vielmehr ist immer mehr jeder auf sich selbst gestellt, alle anderen werden als Konkurrenz wahrgenommen, weil sie uns als Konkurrenz verkauft werden.

Auch der von einigen Kreisen als sozialistische Idee bezeichnete „Great Reset“ ist das pure Gegenteil von Sozialismus. Die Tatsache, dass Unternehmen sich plötzlich „grün“ geben, das Klima und die Umwelt retten und alle Menschen mit einem Lächeln auf dem Gesicht sehen wollen, ist kein Zeichen sozialistischem Gedankenguts. Es ist ein Märchen, eine schöne Verpackung ohne nachhaltigen Inhalt. Natürlich kommt es gut an, wenn die Klimasünder und Ausbeuter plötzlich als Retter auftreten, die verstanden haben, dass es so nicht weitergehen kann. Doch ihnen zu glauben ist in etwa so, als vertraue man plötzlich der Pharmaindustrie, weil sie scheinbar selbstlos Impfstoffe gegen Corona herstellt. Zudem: Bei allen bunten Bildern und professionell erzeugten Imagefilmen des Weltwirtschaftsforums: Die Verantwortung wollen die Unternehmen übernehmen (die Profite selbstredend auch), der Staat, die Regierung, soll sich möglichst zurückhalten, weil er „es“ nicht kann.

Und so erleben wir den weiteren Aufbau eines Bildes, das den Kapitalismus als Segen und den Sozialismus (welchen auch immer) als Fluch darstellt.
Ein bisschen mehr Sozialismus würde aber nicht schaden, und zwar ohne politisch und medial erzeugte Scheuklappen. Welcher genau und in welchem Umfang, das wäre zu klären. Passieren wird natürlich nichts in dieser Richtung. Weil dafür Zwischentöne notwendig wären, Reflexion darüber, was in unserem Gesellschaftssystem so destruktiv und menschenverachtend ist, dass eine Änderung zwingend nötig wäre, vielleicht eben auch in die Richtung sozialistischer Überlegungen.

Und wer macht das schon in den politischen Positionen, deren Aufgabe eigentlich genau das wäre?
Eine Frage mehr, die sich die Leser selbst beantworten mögen.

Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen und ist für unsere Podcasts der »Technik-Nerd«.

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