Eine der besonderen Eigenschaften des Menschen ist seine Möglichkeit, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. Doch diese Errungenschaft wird derzeit aufs Spiel gesetzt. Weil uns gesagt wird, es gäbe nur noch eine Perspektive. Corona führt zu einer Art Waschzwang*.
Betrachten wir zu zweit einen Sonnenuntergang, so wohnen wir zwei völlig verschiedenen Ereignissen bei. Während der eine das Farbenspiel bewundert, reagiert die andere eher mit romantischen Erinnerungen an ein bestimmtes Erlebnis, das sie mit dem Sonnenuntergang verbindet. Oder umgekehrt. Und selbst, wenn wir uns einen Tisch ansehen – gehen wir einmal von einem ein wenig extravaganten Designertisch aus -, erleben wir diesen unterschiedlich. Wie beim Sonnenuntergang auch können wir uns zwar darauf einigen, dass wir es mit einem Tisch zu tun haben (es sei denn, der Designer will uns ärgern und kreiert einen Tisch, den man kaum noch als solchen erkennen kann). Ob uns der Tisch gefällt oder aus welchen Gründen er das tut (oder nicht tut), hängt aber mit der eigenen Wahrnehmung zusammen. Wie die entsteht, sprengt hier den Rahmen, aber auf einen gewissen Kompromiss können wir uns in aller Regel einigen.
Selbst eine vermeintlich schwere Krankheit sehen wir als Laien oft anders als ein Mediziner. Während dem nicht Fachkundigen bestimmte Symptome womöglich als erschreckend und hochgradig gefährlich erscheinen, mag der Mediziner nüchtern feststellen, dass anhand der eklatanten Symptomatik die Behandlung ein Kinderspiel ist. Aus diesem Grund gibt es Mediziner und solche Leute, die sie aufsuchen, weil sie selbst nicht viel Ahnung haben (klammern wir mal die Internetrecherche aus, die mehrere Wochen dauern kann, ohne allerdings harte Fakten als Folge haben zu müssen).
Im Moment sind verschiedene Sichtweisen, Interpretationen und Wahrnehmungen aber nicht zulässig, so scheint es vielfach. Das bringt uns in eine brisante Situation.
Worum es hier nicht geht
In diesem Text geht es um Wahrnehmung, in erster Linie um kollektive Wahrnehmung und darum, was wir nicht sehen wollen bzw. sollen. Die Frage, ob es das Coronavirus in seiner jetzigen Form gibt oder nicht gibt, ist für diesen Artikel ebenso unerheblich wie Vermutungen darüber, ob es gefährlich oder vergleichsweise harmlos ist.
Weil der Punkt, an dem diese Thematik konstruktiv besprochen werden könnte, leider in der Vergangenheit liegt.
Alle sind (in) Gefahr!
Womit wir seit Monaten konfrontiert sind, ist eine einfache Aussage: Alle sind gefährdet, alle sind gefährlich. Somit ist jeder betroffen und muss sich gemäß dem Schutz aller anderen verhalten. Das ist eine Besonderheit. Denn wer einen harmlosen Schnupfen hat (und ich meine einen Schnupfen, keine Spitzfindigkeit in Richtung der Eigenschaften von Covid-19), stellt zwar auch eine Gefahr für andere dar. Doch die Risikogruppe scheint überschaubar zu sein. Daher – und weil ein Schnupfen in der Regel nicht tödlich endet- wird bei Schnupfen keine Quarantäne verhängt (es wäre auch kaum der Bevölkerung vermittelbar).
Auch wer Auto fährt, ist eine Gefahr für andere. Die Zahl der jährlichen Verkehrstoten spricht da Bände. Trotzdem ist das kein Problem, weil nicht jeder Autofahrer andere Menschen über den Haufen fährt. Die Risiken scheinen also in diesen beiden Beispielen abwägbar zu sein (auch wenn das die vielen Angehörigen von Toten durch den Straßenverkehr wohl anders sehen).
Ganz anders bei Covid-19. Hier scheint jeder gefährdet zu sein und als tickende Zeitbombe durchs Leben zu gehen. Das macht die Sache schwer kalkulierbar. Wenn wir die derzeitige Entwicklung ein wenig zurückverfolgen, wird klar, wo das Problem liegt. Und warum wir uns noch immer ständig „die Hände waschen“.
Als die Gefahr erkannt wurde
Das neuartige Coronavirus war der westlichen Erzählung nach zu Beginn harmlos, betraf China, vielleicht noch ein paar Nachbarländer, doch für uns – so wurde uns in den ersten Wochen erzählt, auch wenn das gern vergessen wird – war es kein Problem. Dementsprechend wurden zunächst weiter Feste gefeiert, Konzerte gegeben, die Fußball Bundesliga wurde unverändert von Zigtausenden Zuschauern im Stadion verfolgt.
Dann gab es die ersten Fälle in Deutschland und anderen Ländern, von denen zuvor noch behauptet wurde, sie seien sicher. Und nun veränderte sich die allgemeine Wahrnehmung, nun begann das Erzählen einer Geschichte. Und es war eine düstere Geschichte, eine, die kein gutes Ende nehmen würde. Daher kam es zu den damals ausgerufenen Maßnahmen, Kontaktbeschränkungen, Reisewarnungen, Grundrechtsaushebelungen, Berufsverboten und so weiter.
Viel passiert ist seitdem – bezogen auf die Reaktionen auf das Virus – nicht. Nach wie vor haben wir die Maskenpflicht, immer noch müssen wir Abstand halten, sollen möglichst nicht verreisen und unsere Mitmenschen so höflich behandeln, wie man einen potenziellen Angreifer eben behandeln kann.
Die Rettung kann nur ein Medikament sein, oder noch besser: eine Impfung. Solange es weder das eine noch das andere gibt, ist alle Hoffnung sinnlos. So die Erzählung.
Die Toten im Ausland als Beleg für die Pandemie
Hierzulande blieb das Massensterben bekanntlich aus. Auch wissen wir heute, das bestimmte Orte und Risikogruppen besonders gefährdet sind, also etwa das Personal in Krankenhäusern, Pflege- und Altenheimen und Mitarbeiter in Branchen wie der Fleischzerlegung. Wir wissen auch, dass der soziale Stand eine gewisse Rolle spielt. Und laut WHO ist es wohl auch so, dass Menschen ohne Symptome nicht ansteckend sind (Stand: 12. Juli 2020). Bezogen auf Deutschland lässt sich also sagen, dass das Worst-Case-Szenario sich nicht bewahrheitet hat. Dennoch war es richtig, zum Beginn von genau diesem Szenario auszugehen.
Doch wir sind nicht mehr am Beginn der Pandemie, und in Anbetracht der Definition einer Pandemie (die von der WHO einfach ausgerufen werden kann) gibt es sogar Kritiker, die behaupten, wir hätten es überhaupt nicht mit einer Pandemie zu tun. Doch deren Stimmen verstummen schnell.
Denn wie sollten wir uns sonst die vielen Toten in Italien, Brasilien oder den USA erklären? Wer diese verschweigt oder falsch bewertet, ist ganz schnell ein Corona-Leugner, mit dem jeder Dialog zwecklos ist. Und tatsächlich sind die vielen Fälle in anderen Ländern alarmierend, und sie zeigen, dass wir ein ernstes Problem haben. Und an diesem Punkt wird es interessant. Denn hier könnte man einige Fragen stellen:
1. Wie genau kommen die Zahlen etwa in New York oder Brasilien zustande?
2. Wie sind die Zusammensetzungen der jeweiligen Bevölkerung?
3. Welche Rolle spielt der soziale Status von Erkrankten und/oder Verstorbenen?
4. Wie sehen die Gesundheitssysteme in den anderen Ländern aus (selbst in Deutschland gehen die Standards auseinander)?
5. Wann wurden welche konkreten Maßnahmen in den jeweiligen Ländern ergriffen?
Es ist gut möglich, dass die Antworten auf diese Fragen die Annahmen von Worst-Case-Szenarien unterstreichen. Ebenfalls denkbar ist aber auch eine andere Richtung: Dass es wenig zielführend ist, Länder miteinander zu vergleichen, die völlig unterschiedliche Ausgangssituationen haben. Es gibt zwar zahlreiche Wissenschaftler, die sich mit genau diesen Fragen beschäftigen und die zu unterschiedlichen Analysen kommen. Das ist ein guter und richtiger Ansatz. der aber nur funktioniert, wenn man die Frage auch stellt, statt sie zu verteufeln.
In der öffentlichen Erzählung kommen diese Faktoren praktisch nicht vor. Im Gegenteil, jeder neue Fall wird medial aufgeblasen und als Beweis missbraucht, womöglich schon den Beginn der „zweiten Welle“ zu sehen.
Die Erzählung ist grundsätzlich düster, und helle Momente passen nicht in diese Erzählung. Dabei kann man zumindest sagen, dass die Entwicklung in Deutschland eigentlich Anlass zur Freude böte. Rückläufige Infektionen, eine Zunahme der Genesenden, keine gravierenden Neuinfektionen, auch nicht nach Demonstrationen oder anderen Veranstaltungen, bei denen die Abstandspflicht häufig ignoriert wurde (Tönnies klammere ich hier aus, auch weil es sich dabei um ein extrem riskantes Berufsfeld mit desaströsen Arbeitsbedingungen handelt, siehe dazu weiter oben).
Damit sind wir bei dem Vergleich mit dem Waschzwang (die Verlinkung zum entsprechenden Video findet sich am Ende des Artikels). Das Fatale am Waschzwang ist der ausbleibende Erfolg. Kaum hat man sich die Hände gewaschen, stellt man frustriert fest, im nächsten Moment etwas berührt zu haben, das unweigerlich zum erneuten Waschen der Hände führt. Irgendwann ist die Haut rot und aufgeplatzt, der Waschzwang aber bleibt, denn würde das Waschen ausbleiben, wäre eine weitere Eskalation des (gefühlten) Problems unausweichlich.
Gleich, gleicher, Corona
Das große gesellschaftliche Problem, mit dem wir es seit dem Beginn der Coronakrise zu tun haben, ist das unbedingte Verbot, die Perspektive zu wechseln und über unterschiedliche Wahrnehmungen zu sprechen. Faktisch gibt es nur noch eine Wahrheit, faktisch ist jeder, der diese anzweifelt oder auch nur hinterfragen möchte, ein Gegner aller anderen Menschen, ein Leugner, zuweilen gar ein potenzieller Mörder. Damit tun wir uns keinen Gefallen.
Professor Hendrik Streeck brachte es mehrfach auf den Punkt, als er sagte, dass wir alle uns in einem Lernprozess befinden, und in einem Lernprozess werden zwangsläufig Fehler gemacht. Wenn dem aber so ist – und im Grunde fällt es schwer, Streecks Aussage zu widerlegen, da sie in Anbetracht eines neuen, weitgehend unbekannten Ereignisses nur logisch ist -, dann ist es eigentlich unsinnig, von einer allgemein gültigen Wahrheit auszugehen. Wer will sie kennen?
Mehr noch: Wenn wir uns in einem Lernprozess befinden, ist der Vorwurf, etwas Falsches zu behaupten, kontraproduktiv, zumindest wenn man von Fachleuten mit entsprechendem Wissen spricht. Um es zuzuspitzen und Namen zu nennen, die die Verhärtung der Fronten kaum besser verdeutlichen könnten, kann man sagen, dass es eine sich selbst einengende Haltung ist, dem einen (nennen wir ihn Drosten) Recht zu geben, während dem anderen (nennen wir ihn Bhakdi) Fake-News vorgeworfen werden (das gilt im Übrigen in beide Richtungen). Zielführender wäre es, eine Debatte zu führen, in der alles in „einen Topf“ geworfen wird, was Experten anzubieten haben, um dann daraus gemeinsam die Schlüsse zu ziehen, die man für die beste Lösung hält.
Davon sind wir weit entfernt.
Die Toten im Ausland als Beleg für die Notwendigkeit des einzig richtigen Handelns
Wenn wir ehrlich sind, beschäftigen uns die Toten in Spanien, den USA oder Brasilien im Wesentlichen, weil wir fürchten, dem gleichen Schicksal zu erliegen. Das ist zunächst einmal legitim, und es erklärt auch, warum wir nicht jeden Tag an den Hungertoten auf der Welt verzweifeln. Deren Schicksal tut uns zwar schrecklich leid, es betrifft uns aber nicht direkt.
Die Toten im Zusammenhang mit Corona aber vermitteln uns die Botschaft, dass es auch uns treffen kann, wenn wir nicht kollektiv den Anweisungen folgen, die uns unsere Entscheidungsträger geben. Wer sich traut, darauf hinzuweisen, dass jedes Land seine eigene Problematik hat, mit eigenen Begleiterscheinungen, die allesamt auf den Verlauf der Krise Einfluss nehmen, wird erleben, dass diese Erzählung nicht zulässig ist. Was auch immer in anderen Ländern passiert, es wird auch zu uns kommen, wenn wir unser Verhalten ändern.
Das ist, als würde man einem Kieler dringend anraten, ganzjährig und täglich Sonnencreme mit dem Sonnenschutzfaktor 50 oder höher zu benutzen, weil die Menschen in der Sahara erhebliche Probleme mit Sonnenbränden hätten, würden sie sich nicht gegen die Einstrahlung der Sonne zur Wehr setzen.
Wie kann es weitergehen?
Meiner Meinung nach kann es nicht sein, dass unsere Wahrnehmung sich auf die eine Erzählung reduziert, die in diesem Text behandelt wurde. Die Frage, ob es so etwas wie eine „Normalität“, wie wir sie kennen, nur geben kann, wenn es einen Impfstoff gibt, greift auf verheerende Weise zu kurz.
Das Coronavirus hat zahlreiche Folgen, die weit über die Frage der Ansteckung hinausgehen. Soziale Fragen, die Struktur der Gesundheitssysteme, Fragen der Wirtschaft, der Privatisierungen, der Verteilung, der Medien, der Politik und deren Rolle bei der Bekämpfung von Not in der Welt.
Kritische Stimmen als Corona-Leugner abzutun, ist ebenso destruktiv wie die Verantwortung dessen, was derzeit außer Kontrolle geraten ist, allein den Politikern in die Schuhe zu schieben. Denn es ist natürlich bezeichnend, dass es nicht in erster Linie die Politik ist, die die Vorgaben zum „richtigen“ Handeln macht. Private wirtschaftliche Interessen spielen eine deutlich größere Rolle, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Politik ihre eigene Handlungsfähigkeit längst abgegeben und an private Akteure überreicht hat. Auch diese Frage sollte gesellschaftlich in großem Maßstab gestellt werden: Wer sind die bestimmenden Parts, wenn es um politische, gesellschaftliche und gesundheitliche Fragen geht?
Hier alles auf Bill Gates herunterzubrechen, ist jedoch ebenfalls zu einfach. Fraglos ist er ein großer Player, der mehr Einfluss hat, als es gut wäre. Und sein philanthropischer Ansatz bekommt einen bitteren (oder eher: bitter-süßen) Beigeschmack, wenn man bedenkt, dass er sein Wirken nicht ausschließlich um die Gesundheit aufgebaut hat, sondern auch in Unternehmen investiert, die alles andere als gesund für die Menschen sind, Coca Cola etwa, oder McDonalds.
Hinzu kommen Gates Aktivitäten, die sich als wenig zielführend herausgestellt haben, zumindest aber stark in die Kritik geraten sind.
Entscheidend sind jedoch Fragen, die über Gates oder die politischen Entscheidungen in der Krise hinausgehen. Wir sehen das ganz konkret, wenn die Bezahlung von Menschen in sogenannten systemrelevanten Berufen auch jetzt noch nicht ernsthaft diskutiert wird. Es wird, das zeichnet sich ab, beim längst nachlassenden Applaus bleiben.
Wir sehen es, wenn wir beobachten, dass allein in Deutschland die „Armut mit Ansage“ seit Jahren steigt und weiter steigen wird, weil zum Beispiel das System der gesetzlichen Rentenversicherung gezielt ausgedünnt wird.
Wir sehen es, wenn wir einen Blick auf die Löhne und die Arbeitsbedingungen in Fleischbetrieben, Supermärkten, Paketdiensten und sozialen Berufen werfen.
Wir sehen es, wenn wir mit ansehen müssen, dass riesige Unternehmen, die ganz offenkundig weder die Umwelt noch die Menschen oder Tiere im Auge haben, Regierungen aufgrund entgangener Umsätze verklagen können.
Wir sehen es, wenn Banken „gerettet“ werden, die zuvor üppige Gewinne eingestrichen haben, um in einer vermeintlichen Notlage auf Hilfen vom Staat zu pochen, und zwar erfolgreich.
Es gibt auch genügend Stimmen, die uns darauf hinweisen, dass es unsere Art zu leben ist, die dazu führt, dass sich Krankheiten, Epidemien und Pandemien weiter ausbreiten werden.
Die Liste ließe sich fortführen. Doch gesprochen wird darüber wenig, weil wir eine größere, vermeintlich wichtigere Erzählung haben, die uns alle dominiert.
All diese Punkte werden also der Erzählung geopfert, dass es nun darum ginge, das Coronavirus endgültig auszurotten, möglichst in Form einer Impfung, die uns alle schützt. Und wir wollen das offenbar glauben, weil wir denken, hoffen, dass wir zu einer Normalität zurückfinden können, die unser Leben wieder unbeschwerter sein lässt (was selbstverständlich sehr verklärend ist).
Damit haben wir ein Wahrnehmungsproblem. Und wir beschränken uns selbst erheblich. Denn was wird passieren, wenn es eben doch keinen Impfstoff gibt? Was, wenn die Mutationen von Corona uns immer wieder einen Strich durch die Rechnung machen? Was, wenn ein zu schnell und nicht gründlich genug geprüfter Impfstoff nicht die Wirkung erzielt, die uns in Aussicht gestellt wird, sondern womöglich sogar erheblichen Schaden anrichtet? Was, wenn die nächste Pandemie kommt, die uns bei dem möglicherweise dann entwickelten Impfstoff gegen Corona eine lange Nase zeigt?
Eine Chance haben wir nur, wenn wir das beschränkte Denken aufgeben, in dem wir im Augenblick gefangen sind. Eine Chance haben wir nur, wenn wir so breitflächig wie möglich denken, wenn wir Fachleute wie Soziologen, Politologen, Philosophen, Pädagogen, Ökonomen, Virologen, Epidemiologen, Therapeuten und Ökologen hinzuziehen. Mit all ihrem Wissen, mit all ihren Fehleinschätzungen und mit all ihren wertvollen Anregungen und Lösungsansätzen.
Wir brauchen einen größeren Gedankenrahmen, in dem unterschiedliche Perspektiven zugelassen und Aspekte einbezogen werden, die über die reine Panik hinausgehen. Weil wir im Panikmodus aus den Augen verlieren, dass die Baustelle viel größer ist als die Frage, ob und wie lange wir Masken tragen müssen. Und weil die Wahrnehmung des einen durch die des anderen bereichert und erweitert werden kann. Im Moment wird vielfach davon ausgegangen, alle erforderlichen Informationen zu haben, weitere passen nicht ins Bild, in die Wahrnehmung und müssen daher ausgeblendet werden.
Impfstoff plus Impfkritik gleich Impfgegner?
Dazu als beispielhaften Beleg: Die Diskussionen um einen Impfstoff werden nicht ergebnisoffen geführt, schon nach kurzen Momenten ufern sie in Grabenkämpfe und Feindbildaufbau aus. Sinnvoller wäre eine vernünftige Abwägung aller Faktoren, die für oder gegen eine Impfung gegen Covid-19 sprechen. Denn es ist doch offenkundig, dass dieses Thema, das als globales Anliegen verkündet wird, bis in die Details analysiert werden muss, bevor eine Entscheidung mit all ihren positiven oder eben auch negativen Konsequenzen getroffen wird.
Selbst der „Spiegel“, schon lange nicht mehr als kritisches Blatt bekannt, titelte in der Ausgabe Nr. 13. vom 21.3.2020:
30.473 rettende Zeichen
und schrieb im Teaser:
In Rekordzeit arbeiten Mikrobiologen an potenziellen Impfstoffen gegen das neuartige Virus. Erste Versuche an Menschen haben bereits begonnen. Um die Entwicklung zu beschleunigen, gehen die Forscher Risiken ein, die bislang undenkbar waren.
Inzwischen haben sich zwei Fraktionen gebildet, die sich gegenseitig Verschwörungstheorien und Allmachtsfantasien um die Ohren hauen. Dabei wäre eine sachliche Auseinandersetzung, mit allen gegenseitigen Vorwürfen, aber eben auch allen denkbaren hilfreichen Erkenntnissen so dringend nötig.
Über das Impfen zu diskutieren, ist nicht per se falsch, sondern in Anbetracht der Komplexität und der Gefahrenlage unbedingt und zwingend erforderlich. Doch diese Erzählung hat offenbar keinen Platz mehr in der Gesellschaft.
Offen für mehr
Selbst in einer schwierigen Zeit wie jetzt, die uns alles infrage stellen lässt, gibt es mehr als nur die eine Erzählung, mehr als nur eine Perspektive, weil das immer so ist. Die Wahrheit war nie und wird nie in Stein gemeißelt sein, und allein der Gedanke daran sollte uns innehalten lassen. Weil auch vermeintliche objektive Gegebenheiten von der Wahrnehmung der daran Teilhabenden abhängen.
Oben war vom Laien die Rede, der vermutet, einem schwerkranken Menschen zu begegnen. Und es war vom Arzt die Rede, der anhand der Symptomatik erkennt, dass die Sache so schlimm gar nicht einzuordnen ist. Vielleicht kommen andere Mediziner mit anderen Fachrichtungen zu anderen Schlüssen. Das herauszufinden ist nur möglich, wenn ihnen die Möglichkeit dazu gegeben wird. Schließt man diese Herangehensweise sofort und kategorisch aus, könnte es sein, dass der Patient letztlich der ist, der darunter leiden muss.
Und zum Schluss: Eine Chance haben wir nur, wenn wir aufhören, uns gegenseitig zu zerfleischen und der Geschichte zu glauben, die uns von wenigen erzählt wird. Denn warum sollten wir zwingend davon ausgehen, dass die, die uns ihre Geschichte erzählen, damit richtig liegen? Womöglich folgen wir einer Gruppe von Leuten, die selbst nicht wissen, wie es weitergehen soll.
Wir sollten diese Möglichkeit zumindest im Blick haben. Und offen dafür sein, dass wir recht haben. Oder uns täuschen.
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* Die Anregung zu diesem Artikel und der Vergleich mit dem Waschzwang kommen aus dem Video „Die Manipulation der Wahrnehmung über Angst und Geschichten“