Kann man die deutsche und die US-Polizei miteinander vergleichen, so wie es nach dem Mord an George Floyd und den Auseinandersetzungen in Stuttgart geschehen ist? Ist die deutsche Polizei rassistisch oder gar von rechts unterwandert?
Bei Licht betrachtet setzen diese Fragen an der falschen Stelle an.
Die Abschaffung der Polizei kann niemand ernsthaft wollen, der auch nur ahnt, wie gnadenlos im Neoliberalismus mit Privatisierungen umgegangen wird. Sobald ein Unternehmen oder eine Institution in private Hände gelangt, funkeln in den Pupillen der Geschäftemacher Dollar- bzw. Euroscheine. Die Diskussion über eine Abschaffung der Polizei sollte also möglichst unverzüglich beendet werden. Ein Problem haben wir aber dennoch.
Mehr Stellen bei der Polizei?
Hört man Politikern in diesen Tagen zu, schätzen diese die Polizei bis zur Liebeserklärung. Polizisten halten für uns das Kreuz hin, die Politik stehe hinter ihnen und wertschätze ihre Arbeit auf ganzer Linie. Ausfälle wie rechte Tendenzen seien Einzelfälle, „racial profiling“ oder ungerechtfertigte Übergriffe seien nur bei „Schwarzen Schafen“ ein Problem. Das könnte man sicher diskutieren, und auch die Frage, welche Zahl von Übergriffen nötig ist, um dann eben doch nicht mehr von Einzelfällen sprechen zu können.
Aber es lenkt die Diskussion in eine ähnlich symbolische Richtung wie die Debatten über die Zunahme der Gewalt innerhalb der Bevölkerung. Beides sind Dinge, die man nicht leugnen kann, und beides hat in den letzten Jahren zugenommen.
Doch für solche Entwicklungen gibt es Erklärungen, Entwicklungen, die in eine bestimmte Richtung zeigen. Diese müssen beleuchtet werden, denn die Debatte über Symptome führt nicht weiter.
Die Gewerkschaft der Polizei warnt
Wie wichtig der Politik die Polizei tatsächlich ist, macht ein Blick auf ein Statement der Gewerkschaft der Polizei (GdP) deutlich:
Berlin.
Rund 10.000 Stellen im Polizeivollzugsbereich und etwa 7.000 Stellen im Tarifbereich sind nach der Gewerkschaft der Polizei (GdP) vorliegenden Informationen in Bund und Ländern ersatzlos gestrichen worden. Damit seien die Schätzungen der GdP deutlich übertroffen worden. Konrad Freiberg, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei: „Es ist skandalös, mit welcher Ignoranz Politiker in Bund und Ländern ihr Spardiktat auf dem Rücken der Polizeibeschäftigten austragen und die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zunehmend aufs Spiel setzen.
Das klingt schon deutlich weniger nach einer Liebeserklärung durch die Politik. Aber die eigentliche Brisanz dieses Zitats ist etwas, das ich bewusst weggelassen habe. Die Rede ist nämlich nicht von 2019 oder 2020, sondern vom Zeitraum 2000 bis 2006.Wenn also hier und heute über die Polizei diskutiert und so getan wird, als seien plötzlich Missstände vom Himmel gefallen (Missstände, mit denen natürlich keiner rechnen konnte), so verkürzt das die Diskussion und reduziert sie auf die Beschreibung von Symptomen, ohne die Ursachen zu benennen.
Überstunden und Stellenabbau
Verlassen wir den Zeitraum 2000 bis 2006 und wenden uns der jüngeren Polizeigeschichte zu. Diese Grafik zeigt den Stellenabbau einiger Bundesländer zwischen 1998 und 2010, der Artikel stammt aus 2015:
Die „Welt“ schrieb damals:
Laut einer internen Aufstellung des nordrhein-westfälischen Innenministeriums über die Zahl der Beamten im Polizeivollzugsdienst, die der „Welt“ vorliegt, wurden zwischen 1998 und 2010 bei den Länderpolizeien rund 10.000 Stellen abgebaut. Allen voran strich Nordrhein-Westfalen 3300 Stellen, im kleinen Berlin waren es immerhin 2900.
Und täglich grüßt das Murmeltier, denn so wie heute fielen die Politiker auch damals schon rhetorisch krachend übereinander her. Der Grüne Anton Hofreiter sagte einen Satz, mit dem man nicht viel falsch machen kann:
Was wir brauchen, ist eine gut ausgestattete Polizei.
Wer will dem widersprechen? Er hätte auch sagen können, dass wir den Weltfrieden brauchen. Dennoch widersprach Wolfgang Bosbach (CDU) und feuerte zurück:
Es ist schon interessant, dass Herr Hofreiter im Bundestag angemessene Polizeiausstattung anmahnt, während seine Partei im größten Bundesland Nordrhein-Westfalen für einen Abbau von Vollzugsstellen gesorgt hat.
So könnte es weitergehen, aber das ersparen wir uns.
2017 war auf „merkur.de“ dann nachzulesen:
Berlin (dpa) – Die deutschen Polizisten haben nach Angaben der Gewerkschaft der Polizei (GdP) im vergangenen Jahr so viele Überstunden gemacht wie noch nie: 22 Millionen. Das waren zwei Millionen mehr als 2015, berichtet die „Bild“-Zeitung. Gewerkschaftschef Oliver Malchow sagte dem Blatt: „Die Zahl der Überstunden entspricht der Arbeitskraft von 9000 Polizeibeamten in den Ländern und 900 im Bund.“
Und wieder machten sich die Parteien gegenseitig dafür verantwortlich, dass alles so schlimm ist.
Der Polizist, der vom Himmel fiel
Meiner Ansicht nach ist ein Perspektivwechsel nötig, um uns bewusst zu machen, dass diejenigen, die die Missstände anprangern, in den meisten Fällen die sind, die sie zu verantworten haben. Doch auf diese Idee kommen wir immer seltener. Wir streiten darüber, wer, wie, wann und warum die Gewalt in Stuttgart angezettelt hat. Wir lauschen andächtig den Worten von vermeintlichen Demokraten, die sich mit erhobenem Zeigefinger hinstellen und rufen, dass Gewalt mit aller Härte bestraft werden müsse. In den (sozialen) Medien und der Presse, im Fernsehen und auf der Straße bekommen sie dafür Applaus. Wir heben hervor, dass die deutsche Polizei nicht mit der amerikanischen vergleichbar ist, weil hier eben alles besser ist. Und das mag sogar noch stimmen, doch was in den USA beginnt, schwappt früher oder später auch nach Europa herüber. Und das ist kein Zufall, es entspricht dem neoliberalen Weltbild.
Die oben zitierten Meldungen aus den letzten Jahren zeigen es mehr als deutlich auf. Die Polizei wurde bewusst kaputtgespart, ähnlich wie das Gesundheitssystem, das Rentensystem und andere Systeme auch. Aus Personalmangel und Überstunden entstehen Überforderung und Frust, was wiederum die Hemmschwelle senkt, in brisanten Situationen unangemessen oder schlicht falsch zu reagieren. Dafür kann man nicht die Polizei verantwortlich machen, nicht einmal diejenigen (zumindest nicht ausschließlich), die auf Demos oder auch nur Drogenkontrollen scheinbar plötzlich und völlig unangemessen durchdrehen. Es liegt aber näher und ist bequemer als sich mit den Ursachen zu beschäftigen. Und, na klar, der schlagende Polizist oder Steine werfende Demonstrant ist als Täter schnell erkannt und (vor)verurteilt. Tiefer zu graben ist dagegen anstrengend.
Polizisten fallen nicht vom Himmel, sie müssen ausgebildet und „angelockt“ werden. Sie müssen Wertschätzung erfahren, eine gute Bezahlung, sie müssen ständig weitergebildet werden (auch und gerade psychologisch). Wer stattdessen über Jahrzehnte Stellen abbaut und Überstunden anhäuft, darf sich nicht wundern, wenn aufgrund von Überlastungen, Frust und Angst vor dem, was „da draußen“ passiert, immer häufiger „Sicherungen durchbrennen“, und zwar auf beiden Seiten. Dazu komme ich jetzt.
Party, Party! Party?
Verantwortlich für die Gewalt in Stuttgart sei die „Party- und Eventszene“ gewesen, die im Grunde überhaupt keinen Grund hatte für ihre Taten. Winfried Kretschmann (die Grünen) sagte dazu:
Das hat uns gerade noch gefehlt.
Er könne nicht verstehen, dass junge Männer „eigentlich aus keinem Anlass eine Gewaltorgie in Gang setzen“.
Und auch Innenminister Horst Seehofer (CSU) machte sich ein Bild von der Lage und sprach in die Mikrofone:
Insgesamt ist dies ein wirkliches Alarmsignal für unseren Rechtsstaat.
Die Täter, so Seehofer, müssten hart bestraft werden, denn Strafe sei „immer noch das beste präventive Mittel“.
Lassen wir hier einmal unberücksichtigt, dass eine Strafe keine Prävention, sondern eine Reaktion darstellt, ist festzuhalten: Die Gewalt in Stuttgart ist nichts, das völlig überraschend käme, auf das man nicht hätte vorbereitet sein können, sie ist nichts, was „aus keinem Anlass“ gekommen ist. So kann man nur denken, wenn man davon ausgeht, dass wir in einer Welt aus Milch und Honig leben, die für alle alles bereithält, was zum guten Leben notwendig ist.
Und selbst die Annahme, dass bei den Taten in Stuttgart Corona und die Auswirkungen der letzten Monate eine Rolle spielen, reicht nicht aus. Es ist schon seit Langem eine Tendenz zu erkennen. Eine Tendenz, die gewissermaßen parallel mit dem Stellenabbau bei der Polizei zu beobachten ist. Es wird gespart. An den Institutionen, an der Versorgung, der Gesundheit, den Kindern, den „Corona-Helden“ an den Löhnen, den Renten, der Bildung, der Kultur, kurz: an den Menschen. Die wiederholten gebetsmühlenartig formulierten Frohlockungen, es gehe uns gut, man solle doch mal in andere Länder schauen, sind abstrakt und führen eher zu noch mehr Angst. Zu Angst, die lähmt. Und/oder zu Angst, die wütend macht und Gewalt zur Folge hat.
Langer Atem statt schnellem Bild
Wir müssen unsere Wahrnehmung ändern. Wir müssen gegen die schnellen Bilder und Meldungen angehen, müssen versuchen, uns mit den Ursachen zu beschäftigen, statt uns ein paar Tage über die Symptome aufzuregen. Es mag guttun, sich zu empören, über Polizeigewalt oder Gewalt der „Event- und Partyszene“, über Ausschreitungen auf Demos oder individuelle Übergriffe, die medienwirksam verbreitet werden.
Aber es reicht nicht aus, hüben wie drüben „Bösewichte“ auszumachen, die verantwortlich sein sollen, um dann weiterzumachen wie zuvor. Und in diesem Zusammenhang ist ein Vergleich mit den USA eben doch erlaubt, auch wenn man die Unterschiede betonen muss. Die strukturelle Gewalt in den USA gegenüber Schwarzen ist Fakt und hat eine lange Geschichte, die nicht „mal eben“ aus der Welt geschaffen werden kann.
Doch auch hier haben wir es mit struktureller Gewalt zu tun. Mit struktureller Gewalt, die auf Menschen ausgeübt wird, die sich auf der unteren Skala der Gesellschaft befinden. Jugendliche gehören zu den Opfern jener strukturellen Gewalt, die erwartet, dass jeder „seines Glückes Schmied“ ist. Aber auch Polizisten befinden sich auf einem absteigenden Ast, weil sie verheizt und vorgeschickt werden, weil sie ausbaden müssen, was die Politik versäumt hat, und weil sie im Zweifelsfall zur Verantwortung gezogen werden. Das mag beim Einzelfall gerechtfertigt sein, aber in der Summe ist (fast) jeder Übergriff polizeilicher Gewalt mit einer Geschichte verbunden, die schon viel früher begonnen hat als die tatsächlich ausgeführte Tat. Gleiches gilt für die andere Seite, also für diejenigen, die Gewalt gegenüber der Polizei ausüben.
Es ist so einfach
Wenn wir weiter mit staunendem Mund jenen Politikern lauschen, die Gewalt aufs Schärfste verurteilen und die Täter hart bestrafen wollen, haben wir – medial in Häppchen verpackt – unser tägliches Feindbild, an dem wir uns reiben können. Und es bleibt uns die Mühe erspart, uns mit den Ursachen auseinander zu setzen, die Entwicklungen zu beobachten und die wahren Täter auszumachen. Das ist herrlich einfach.
Aber Gewalt, insbesondere Gewalt, die durch Gruppen ausgeübt wird – etwa durch Polizisten oder Jugendliche – folgt immer einer Entwicklung, sie entsteht nicht einfach so, sondern baut sich auf, so lange, bis sie ausbricht.
Es ist tragisch und zynisch, dass ausgerechnet jene, die durch ihre Politik dafür verantwortlich zeichnen, dass die Gewalt seit Jahren zunimmt, sich als Saubermänner präsentieren können, die nur an das Gute denken.
So ist es nicht.
So ist es überhaupt nicht.