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Coronstruktivismus – die gedachte Wirklichkeit

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Das Coronavirus, mit dem wir es seit Ausbruch der Krise zu tun haben, ist in dieser Form neu, und naturgemäß ist es daher schwierig, gesicherte Aussagen zum Krankheitsverlauf, zu Langzeitwirkungen, zu Faktoren der Genesung oder gar zu einem wirksamen Impfstoff machen zu können.

Allein die Tatsache, dass für die Entwicklung von Impfstoffen normalere 10 bis 15 Jahre vergehen, macht deutlich, dass wir hier erst am Anfang stehen.
Die Vorstellung, im Herbst etwas gespritzt zu bekommen, das erst so kurze Zeit getestet wurde, ist vielen Menschen eine grausige Vorstellung. Dennoch wird für bestimmte Ansichten in Sachen Corona getrommelt, während andere als Lüge, Falschinformation oder eben Fake News bezeichnet werden.
Einen Sinn ergibt das nicht.

„Wir wissen wenig.“

Es folgen ein paar Perlen aus den Medien, die uns verdeutlichen können, wie dünn die Faktenlage zu Beginn der Krise war, und wie dünn sie noch immer ist.

Im Kontext mit Covid-19 hat Frankreichs Gesundheitsminister auf mögliche Risiken durch die Einnahme von Ibuprofen hingewiesen. Experten betonen allerdings, dass es keine gesicherten Erkenntnisse gibt.

(Tagesschau, 24.3.20)

Dennoch sei ein Zusammenhang zwischen der Einnahme von NSAR und schweren Verläufen bei Covid-19 nach seinem Wissen bislang nicht gesichert, betont Schmidt-Chanasit. „Wir wissen wenig über die Pathogenese des Virus Sars-CoV-2. Es gibt dazu bisher keine klinischen Daten.“

(br.de 17.3.2020)

Wir wissen wenig darüber, was das Virus im Körper anrichtet.

(sfr.ch, 15.05.2020)

Das vielfach im Munde geführte „Fahren auf Sicht“ bedeutete ja stets: Wir wissen wenig und müssen trotzdem irgendwie handeln.

(Telepolis, 7.5.2020)

Fachärztin im AZ-Interview Coronavirus in Bayern: „Es ist definitiv kein Killervirus“

(Abendzeitung München, 30.01.2020)

Das letzte Zitat stammt erkennbar vom 30. Januar 2020. Zu dieser Zeit hatten die „Corona-Leugner“ noch Oberwasser, allerdings saßen sie in den Redaktionsräumen des Mainstreams oder amüsierten sich im TV über die Panik einiger dummer Menschen. So tat es auch Christoph Süß am 30. Januar 2020 in der Sendung „quer“, als er sich über die „Panikmacher“ lustig machte, die jede „Horrorzahl“ für ihre Zwecke missbrauchen würden.

Süß verwendete für diese aus seiner Sicht merkwürdige Gruppe Menschen übrigens damals schon das Wort „Verschwörungstheoretiker“, das seitdem so hingebogen wird, wie es gerade passt. Wer damals gemeint war, ist heute nicht mehr gemeint, der Wind hat sich bekanntlich gedreht. Aber an Verschwörungstheoretikern herrscht nach wie vor kein Mangel, denn von „quer“ über „Spiegel“ und „Süddeutsche“ bis „Bild“ erkennen alle die wahren „Spinner“ mit einem geschulten Blick.
Aber das ist ein anderes Thema.

Wir „coronstruieren“ uns die Wirklichkeit

Das im Titel verwendete Wort „Coronstruktivismus“ – man ahnt es – gibt es natürlich nicht, zumindest noch nicht. In Anlehnung an den Konstruktivismus erscheint es mir aber durchaus passend, denn so wenig wir alle auch wissen, so klar scheint doch zu sein, wer die Wahrheit verkündet und wer als Lügner unterwegs ist.

Es begann schon recht früh, kurze Zeit, nachdem Bundesregierung und Robert-Koch-Institut (RKI) verkündet hatten, dass Corona vielleicht doch eine Spur gefährlicher ist als ursprünglich angenommen. War das Virus kurze Zeit zuvor eine eher harmlose Angelegenheit, mit der die Chinesen sich herumschlagen konnten, kippte die Stimmung, als die ersten Infizierten hierzulande gefunden wurden. Nun war es dann doch nicht mehr so harmlos.

Bundesregierung und RKI taten ihren Job und gaben die Richtung vor. Das ist in Ordnung, das kann man erwarten. Allerdings begangen sie einen schwerwiegenden Fehler. Sie ließen außer der Einschätzungen des RKI und ihrem Lieblings-Virologen Christian Drosten nahezu keine andere Einschätzung zu. Wolfgang Wodarg, der einer der ersten Kritiker war und der Erfahrung in Sachen Pandemien hat, wurde jedoch nicht angehört, sondern diffamiert, was das Zeug hielt. Anderen Experten ging es später nicht anders. Das hält bis heute an.

Allerdings widerspricht das allem, was nötig wäre, um zu neuen und besonders breit gefächerten Erkenntnissen zu gelangen. Und so nahm das Schicksal seinen Lauf.

Masken drauf, Masken runter!

Wie war das noch gleich mit den Masken? Zunächst glaubte das RKI nicht daran, dass sie etwas Positives bewirken würden. Und auch Kanzlerin Merkel konnte keinen Gefallen an den „Virenschleudern“ finden:

Dass Schutzmasken in Corona-Zeiten unverzichtbar sind, betont auch die Bundeskanzlerin. Sie hat sich mit dem Textil allerdings erst anfreunden müssen. Anfangs lehnte sie eine Tragepflicht noch ab, unter anderem mit dem Argument, eine von Atemluft durchfeuchtete Maske werde selbst zur Virenschleuder. Mittlerweile hat sie umgedacht. Mund und Nase zu bedecken sei so wichtig wie Abstand und Hygiene. Öffentlich bleibt sie dennoch stets unverhüllt.

Erschwerend hinzu kam das unscheinbare Detail, dass es gar nicht so einfach war, Masken auf dem Weltmarkt zu bekommen. Der Markt, der immer alles regelt, tat das auch zu Beginn der Corona-Krise und verhökerte die Schutzmasken hochpreisig dort, wo gerade genug dafür bezahlt wurde. Die Tatsache, dass weder innerhalb Europas noch in anderen Ländern das Grundgefühl der Solidarität sehr ausgeprägt war (Ausnahmen bestätigen die Regel, etwa was China angeht), machte die Sache auch nicht leichter.

Ja, die Masken. Sie sind ein Sinnbild für die Hilf- und Ratlosigkeit der Bundesregierung. Umso verwunderlicher ist es, dass sowohl Politik als auch Medien und ein großer Teil der Bevölkerung diese Ratlosigkeit nicht sehen will. Und damit sind wir beim „Coronstruktivismus“, der mehr als bedenklich ist.

Haben die Maßnahmen geholfen?

Es ist eine der Fragen, die uns umtreibt. Gingen die Fallzahlen zurück, weil die umfangreichen Maßnahmen verhängt wurden? Oder flachte die Kurve der Neuinfektionen bereits ab, bevor Schulen, Frisöre, Gastronomie und mehr geschlossen wurden?

Professor Hendrik Streeck hatte bereits kurz nach dem Beginn der Maßnahmen bei Markus Lanz geäußert, dass er sich vorstellen könne, die Absage von Großveranstaltungen könnte womöglich ausgereicht haben, um die Fallzahlen spürbar zu senken. Andere denken eher, dass allein die Ankündigung der Maßnahmen zu einer Reduzierung der Zahlen geführt hätte.

Ich will hier – auch wenn es grundsätzlich sinnvoll ist, das zu tun – weder die Maßnahmen noch die Maskenpflicht ausschweifend behandeln. Zum einen können das andere besser, die mit mehr Fachwissen ausgestattet sind. Zum anderen hatten wir diese Diskussionen schon unzählige Male, und wir werden sie auch noch unzählige Male bekommen.

Was ich deutlich machen möchte, ist der wenig hilfreiche Ansatz des Coronstruktivismus.

Wir machen uns die Welt, wie sie uns (nicht) gefällt

Wenn auf der einen Seite Fachleute und Experten stehen und auf der anderen Spinner und Verschwörungstheoretiker, ist etwas faul. Sicher, ich gehe mit, wenn jemand behauptet, dass die vollständige Leugnung des Virus absurd ist. Ich halte das Virus für existent und für bestimmte Risikogruppen gefährlich. Aber schon da wird es schwierig.

Denn wie gefährlich genau Covid-19 ist, ist auch heute nicht einwandfrei zu sagen. Man kann behaupten, dass wir in Deutschland Glück hatten, man kann auch unterstellen, dass alles, was Bundesregierung und RKI in die Wege geleitet haben, das Maß aller Dinge war. Man kann auf andere Länder verweisen mit dem Hinweis, dass dort die politischen Entscheidungen zu mehr Toten geführt hätten. Man kann auch argumentieren, dass die genauen Ursachen der Todesfälle woanders nicht abschließend geklärt sind und die Begleitumstände (wie etwa die Gesundheitssysteme oder der soziale Status der Betroffenen) nicht 1:1 mit Deutschland vergleichbar sind.

Was man aber meiner Meinung nach nicht kann, nicht sollte und nicht darf, ist die Konstruktion der eigenen Wirklichkeit als Maßstab für alle zu nehmen. Nichts anderes aber passiert seit dem Ausbruch der Krise. Das hat erst kürzlich Christian Drosten unter Beweis gestellt, als er auf den Virologen Alexander Kekulé losging:

Kekulé macht Stimmung. Seine Darstellung ist tendenziös. Er kennt unsere Daten nicht und zitiert falsch. Kekulé selbst könnte man nicht kritisieren, dazu müsste er erst mal etwas publizieren.

Nun kann man Drosten in Schutz nehmen und davon ausgehen, dass er in den letzten Monaten wahrscheinlich ständig am Limit gearbeitet hat und irgendwann dünnhäutig geworden ist. Das wäre in der Tat nachvollziehbar.

Doch das ändert nichts daran, dass seine Einschätzungen nahezu die einzigen sind, die politisch und vom Mainstream anerkannt werden (mediale Ausnahmen gibt es erfreulicherweise natürlich auch, sie sind aber für die flächendeckende Erzählung vernachlässigbar). Wir haben uns gewissermaßen eine „Drosten-Welt“ aufgebaut, aus der wir nur schwer wieder herauskommen.

Schluss mit Coronstruktivismus!

So lange die politischen Entscheidungen weiterhin auf den Einschätzungen weniger Fachleute getroffen und andere, die zu anderen Schlüssen kommen, diffamiert und ausgegrenzt werden, ist eine Lösung für das Virus nicht abzusehen.

Es mag ja sein, dass wir inzwischen 80 Millionen „Virologen“ im Land haben, die alle genau wissen, was das Richtige ist. All die zu Wort kommen zu lassen, würde die Lösung der Problematik wahrscheinlich bis ins Jahr 2050 aufschieben.

Wenn aber ausgewiesene Experten sich äußern, ist es ein Zeichen von Arroganz, Ignoranz und bewusster Feindseligkeit, diese nicht anzuhören. Man kann ja nach Debatten fachlicher Art zu unterschiedlichen Schlüssen kommen, das liegt in der Natur der Sache. Von vornherein aber jede abweichende fachliche Einschätzung als Unsinn abzutun, ist nicht nur nicht souverän, sondern beratungsresistent.

Alle wissen wenig! Wir haben es mit einem nach wie vor neuen Virus zu tun, so dass viel zu wissen, überhaupt nicht möglich ist und nicht erwartet werden kann.

In dieser Gemengelage allerdings mit einer erschreckenden Leichtigkeit jede fachliche Meinung und Einschätzung, die von der eigenen abweicht, als Fake News zu bezeichnen, ergibt einfach keinen Sinn.
Wer die Wahrheit nicht kennt, kann die Lüge nicht überführen.

Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen und ist für unsere Podcasts der »Technik-Nerd«.

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