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AfD, SPD und Union: Einen Strohhalm haben sie alle nicht

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Nach der Wahl in Thüringen schaukelte sich die Lage ganz schnell hoch. Natürlich waren die Ostdeutschen schuld am Drama. Weil die Ostdeutschen undankbar sind, nicht wissen, in was für einen schönen neuen Welt sie leben, und weil sie einen durch ein Gericht „bestellten“ Faschisten gewählt haben.

Entspannt zurücklehnen konnten sich die etablierten Parteien, hier: CDU und SPD. Nicht, weil sie so gute Wahlergebnisse erzielt hätten, nein, das kann man ja nun wirklich nicht sagen. Aber weil sie mit einstimmen konnten in den Chor, der wechselweise mal die AfD und mal deren Wähler beschimpfte. Da konnten sich dann in der Berliner Runde im ZDF die Vertreter von SPD und Union hinsetzen und die moralische Keule schwingen. Dabei – und das ist schon ziemlich grotesk – stellten sie sich dar, als seien sie noch Volksparteien. Bei 30 Prozent der Stimmen in Thüringen muss man schon mit einer dicken Portion Selbstvertrauen ausgestattet sein, um so etwas zu bringen.

Aber es ist weniger das Selbstvertrauen. SPD und Union sind mit Beratungsresistenz und Selbstverliebtheit am Start, sie erkennen ihre eigenen Anteile an der Problematik nicht. Sicher ist, dass die AfD inhaltlich alles toppt, was die neoliberalen Parteien zu bieten haben, und Gnade uns Gott (oder wer sich bereiterklären mag), wenn die AfD über die künftige Entwicklung der Rente, der Bildung oder gar der Verteidigung bestimmen könnte. Das Land wäre wahrscheinlich schneller an die Groß- und Rüstungskonzerne verscherbelt, als Sigmar Gabriel in zweiter Karriere zur Auto-Lobby wechseln kann.
Also, ehrlich, die AfD ist ungefähr so sehr Alternative für die anderen Parteien wie Kramp-Karrenbauer für Merkel.

Die absurde Berechtigung der AfD

Dennoch hat sie – und das ist sogar mehr als grotesk – ihre bittere Berechtigung. Das ist beileibe kein Kompliment für die AfD, es ist vielmehr ein verbaler Arschtritt für die Parteien, die sie und ihren Erfolg möglich gemacht haben. Die Altparteien haben alles dafür getan, nichts für die Menschen zu tun, die sie eigentlich wählen sollten. Sinkende Löhne, sinkende Renten, steigende prekäre Arbeitsverhältnisse, steigende Armut, Korruption, Privatisierung, Rüstung, Bildung auf dem absteigenden Ast, Hartz IV – all das und noch viel mehr hat das Vertrauen der Wähler jahrelang angegriffen, um letztlich in einem kollektiven Widerstand auf deutsche Art zu enden. Und wir sind noch lange nicht am Ende.

Was ermöglicht einer Partei wie der AfD so großen Zuspruch? Angst. Angst vor dem Abstieg, Angst vor dem Jobverlust, Angst vor „dem Amt“, Angst vor der Armut, Angst vor der Bank, die die Kredite kündigt, Angst vor der Perspektivlosigkeit, in die man die eigenen Kinder geboren hat. Und diese Ängste sind nicht „gefühlt“, sie entspringen nicht „dem Eindruck, abgehängt“ zu sein. Sie werden von den Fakten erzeugt. Das ist übrigens kein deutsches, und schon gar kein ostdeutsches Problem, sondern eines, das in ganz Europa zu beobachten ist. Weil die Situation in vielen Ländern vergleichbar ist.

Dummerweise fehlt ausgerechnet den Parteien, die genau diese Entwicklungen nicht nur zugelassen, sondern aktiv gefördert haben, das Problembewusstsein für ihre Verantwortung. Aber woher soll es auch kommen, die Verantwortlichen in der Politik sind schon lange nicht mehr in der Situation, gestalten zu können, politisch eingreifen zu können, selbst wenn sie wollten (was meist aber eben nicht der Fall ist).

Was der Wähler (womöglich) denkt

Der gemeine Wähler fasst sich doch nur noch verwundert an den Kopf, wenn er sich einmal vergegenwärtigt, wie der Diesel-Skandal ausgegangen ist (irgendwie gar nicht, oder?). Er fragt sich, was freiwillige Selbstverpflichtungen sollen, die nicht bindend sind. Er überlegt mit Recht, was sich Kandidaten wie Andreas Scheuer oder Ursula von der Leyen leisten können, ohne dass auch nur dezent in Erwägung gezogen wird, sie hochkant zu feuern, weil sie ihrem Auftrag, zum Wohle des Volkes zu handeln, nicht nur nicht nachkommen, sondern sich dabei auch noch bestens fühlen. Er sinniert, wie es sein kann, dass die Armut wächst und die Löhne sinken, ohne dass sich jemand aus der Politik für wirkliche Verbesserungen einsetzt.

Und nachdem der Wähler sich wiederholt an den Kopf gefasst hat, fasst er sich ein Herz und denkt sich: drauf geschissen. Und wählt die AfD. Und dann auch noch ausgerechnet die AfD, die vom Höcke vertreten wird.

Das finden die anderen gar nicht lustig. Die, die ihr Kreuz nicht bei der AfD gemacht haben, sonnen sich in Selbstgerechtigkeit und sind der Meinung, aufrecht den Kampf gegen rechts ausgefochten zu haben. Was wiederum an denen liegt, die ihnen genau das seit Monaten und Jahren sagen: „Kommt, lasst uns eine Front gegen rechts bilden, lasst uns für die gute Sache eintreten, für Demokratie, für Freiheit, Brüderlichkeit und diesen ganzen Scheiß. Ok? Ok!“

Derweil fragen sich die AfD-Wähler, wie genau denn diese Demokratie, die Freiheit, die Brüderlichkeit und der ganze andere Scheiß denn eigentlich konkret aussieht, wie er sich auf sie und ihre Situation auswirkt. Sie können es nicht sehen, nicht erkennen, und sie liegen damit ziemlich richtig.

Definitiv falsch liegen sie mit dem Versuch, aus Protest die AfD zu wählen (und noch falscher liegen die, die das nicht aus Protest, sondern aus Überzeugung tun, aber die sind von den Vertretern der Altparteien, die sie in die verdammte Situation gebracht haben, eh nicht mehr weit entfernt).

Die Frage nach den Unterschieden

Und das ist der Punkt: Es gibt kaum inhaltliche Unterscheidungen zwischen der AfD und den Altparteien. Und eben weil das so ist, haben SPD, CDU & Co. gar keine andere Wahl, als gebetsmühlenartig auf die rechte Gesinnung der AfD einzuprügeln. Denn mit der steht die AfD dem Neoliberalismus im Weg. Dem ist es egal, wen er wo ausbeutet, Hauptsache am Ende des Tages stimmt die Bilanz. Die Tatsache, dass sich Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausspielen, ist natürlich im Sinne des Neoliberalismus, er hat nun wirklich nichts dagegen. Aber öffentlich würde er das nie formulieren, und so tun das öffentlich auch weder die Altparteien noch die wirtschaftlichen Kräfte, die im Hintergrund wirken und die hier verkürzt als „der Neoliberalismus“ bezeichnet werden.

Die AfD kann man nur als übelsten Auswuchs des Neoliberalismus bezeichnen, sie kommt aber mit einem hübschen Mäntelchen daher, fängt die ein, die verzweifelt sind oder im Begriff, es zu werden, und da stört es nicht einmal, dass in Thüringen ein Björn Höcke die Verantwortung trägt. Der Wähler denkt womöglich: „Was interessiert es mich, ob Höcke als Faschist bezeichnet werden darf, wenn er sich doch dafür einsetzt, dass es mir in Zukunft besser geht?“

Was es Höcke interessiert, dass der Wähler damit komplett auf dem Holzweg ist, wird nicht weiter diskutiert, denn wo man nach einem Strohhalm greifen kann, da tut man dies, selbst, wenn er eine Illusion ist.

Die etablierten Parteien haben diesen Strohhalm nicht im Angebot, schon lange nicht mehr, nicht mal mehr die Illusion des Strohhalms. Also dürfen sie sich nicht wundern, wenn irgendwann auch niemand mehr danach greift.

Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen und ist für unsere Podcasts der »Technik-Nerd«.

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