Der Neoliberalismus ist nicht zu zügeln. So lange der Markt als Gesetz und Missstände als Naturgewalten bezeichnet werden, statt aktiv regulierend einzugreifen, wird sich nichts zum Positiven wenden. Die soziale Schieflage wird weiter zunehmen, Kriege ebenfalls. Doch wir haben uns weitgehend in diesem System eingerichtet, auch, weil uns täglich neu erzählt wird, dass es keine Alternative gibt.
Von Greta Thunberg bis zu den Rüstungsausgaben – wichtig sind am Ende die Faktoren „Feindbilder“ und Angst. Dazwischen liegt eine Menge Manipulation, die nur durch Wirtschaft, Politik und Medien gestemmt werden kann. Die Frage, ob der Neoliberalismus womöglich in sich so destruktiv ist, dass er entfernt werden muss, wird kaum noch gestellt. Denn „Naturgewalten“ muss man sich beugen.
Täglich empören wir uns. Und täglich tun wir das zu Recht. Doch gleichzeitig lassen wir uns in unserer Empörung am Nasenring durch die Arena ziehen, oft ohne zu merken, dass unsere Empörung Teil des Programms ist. Diese Aussage als Verschwörungstheorie zu bezeichnen, liegt in der Luft, und daher liegt sie wohl auch ziemlich in der Nähe dessen, was als wahrscheinlich betrachtet werden kann.
Es gibt kaum Phänomene, über die man früher oder später nicht lesen würde, sie seien nur als Ablenkungsmanöver inszeniert. Oder von vorn herein eine im Vorfeld geplante Sache gewesen, um uns, die wir unzufrieden sind, bei Laune zu halten, und sei es auch nur schlechte Laune. Während eine Minderheit enthusiastisch in die These, alles sei geplant, mit einsteigt, schüttelt die Mehrheit nur den Kopf ob solcher naiver – mal wieder – Verschwörungstheorien.
Wenn der Hauch von Widerstand droht, beginnt sich das Rad des Neoliberalismus zu drehen
Und tatsächlich glaube ich nicht, dass alles Übel, das wir erleben müssen, seit der Neoliberalismus über den Umweg der „Chicago Boys“ den Weg zu uns gefunden hat, bis ins Detail geplant war und ist. Das Phänomen „Greta“ scheint mir ein solcher Fall zu sein. Ein Fall, der sich – unterstützt durch unterschiedliche Faktoren wie etwa eine massive Medienberichterstattung, weil einzelne Köpfe, Persönlichkeiten, zumal, wenn sie etwas aus dem sonst üblichen Rahmen fallen, immer interessant für die Medien sind – zwar zu einer Massenbewegung entwickeln konnte. Aber meiner Meinung nach keiner, der bewusst initiiert wurde, um die Klimadebatte in eine bestimmte Richtung zu bringen. Das wäre auch mit sogenannten „Experten“ gegangen, mit zahlreichen Prominenten, die sich gegen gute Bezahlung vor den Karren der Wirtschaft und Politik spannen lassen, natürlich mit Studien von Bertelsmann, der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, Talkshows, Nachrichten und vielem mehr.
Aber – um „Greta“ auch schon wieder zu verlassen – bestimmte Strömungen und Entwicklungen werden schon sehr lange in eine bestimmte Richtung gelenkt. Denken wir beispielsweise an die jüngere Vergangenheit, an die „Gelbwesten“ in Frankreich. Mir ist nicht bekannt (oder ich kenne dafür nicht die „richtigen“ Leute), dass die Annahme, die Gelbwesten seien durch die französische Regierung ins Leben gerufen wurden, auf breite Zustimmung stoßen würde. Sie sind, sie scheinen tatsächlich aus einer konkreten Situation heraus entstanden zu sein. Und sie entwickelten eine Größe, die man kaum freiwillig konstruieren würde, stünde man auf der Gegenseite der Gelbwesten.
Was man aber tun kann, ist eine Bewegung in eine bestimmte Richtung „einzuordnen“. Bei den Gelbwesten geschah das mit im Wesentlichen zwei Mitteln:
1. Sie wurden medial als gewalttätig und mit einer Tendenz zum Rechtsextremismus dargestellt.
2. Sie wurden ignoriert, wo immer es ging.
Beides funktioniert im Zeitalter der sozialen Medien nicht zu 100 Prozent. Denn gegenteilige Ansichten werden auf Facebook & Co. massenhaft publiziert. Doch die öffentliche und insbesondere die veröffentlichte Meinung ist durch Facebook oder Twitter nicht wirklich in Gefahr, die Hoheit zu verlieren. Im Gegenteil, die kritischen Strömungen der sozialen Medien sind sogar ganz im Sinne der Mächtigen (man könnte auch „Machthaber“ sagen). Weil sie laut, aber eher wirkungslos sind. Die Empörung der sozialen Medien ist in aller Regel nichts weiter als ein kurzer, lauter Sturm im Wasserglas. Im besten Fall nach ein paar Tagen, schlimmstenfalls nach ein paar Wochen, und wenn es wirklich eng wird, nach einigen Monaten beruhigt sich die „Facebook-Gemeinde“ wieder, oder eher: sie sucht nach neuen Ventilen für neue Skandale.
Der Ausverkauf der Rente, die seit Jahrzehnten durchgeführte Privatisierungswelle, wachsende Armut und sinkende Löhne, Kinder ohne Mittel und die Chance, etwas aus sich zu machen, Korruption, Rüstungsexporte in Kriegsgebiete, Kriegsbeteiligungen der Bundeswehr, die desaströse Entwicklung am Wohnungsmarkt (der im Grunde gar kein „Markt“ sein dürfte, doch das ist längst als Selbstverständlichkeit akzeptiert worden), eine in sich zusammenfallende Infrastruktur, dies und vieles mehr wird wahrgenommen, aber nur kurz.
Und wenn wirklich jemand einmal konkret macht, was zu bemängeln ist, wenn die Missstände aufgezeigt werden, wird er entweder ignoriert. Man mache sich einmal die „Freude“, gezielt nach Talkshow-Auftritten mit Sahra Wagenknecht zu suchen. Wagenknecht gehört zu den wenigen, die nicht müde wird, auf soziale Missstände hinzuweisen und diese auch argumentativ zu belegen. Die Reaktionen auf sie sind entweder Ignoranz, also die konsequente Nichtbeachtung ihrer Kritik.
Oder es kommt ein Politiker um die Ecke, der sagt: „Man darf jetzt auch nicht alles schlechtreden.“ Ja, heißt es dann, es gebe schon hier und da Dinge, die man besser machen könnte. Und da müsse man auch rangehen. Aber man könne doch nicht so etwas wie eine Endzeitstimmung aufbauen und all das, was gut ist, einfach wegwischen.
Und so werden wir am Nasenring durch die Arena geschleift. Indem Argumente, die auf Mängel hinweisen, ignoriert oder belächelt werden (kommt sehr oft vor, gern in Verbindung mit dem Hinweis auf eine „Verschwörungstheorie“), und indem ein positives Bild gegengezeichnet wird, ein Bild, das bei jenen, die eigentlich empfänglich für das Aufzeigen der Missstände wären, ein schlechtes Gewissen erzeugt.
Gute Wirtschaft, schlechte Wirtschaft
Das Vermitteln des schlechten Gewissens funktioniert ausgesprochen gut. Seit Jahren hören und lesen wir darüber, dass die Wirtschaft brummt, dass wir beinahe Vollbeschäftigung haben, dass aus dem „kranken Mann Europas“ ein wirtschaftlich stark aufgestelltes Land mit einem Hang zum Export geworden ist (was natürlich verharmlosend für Schulden und Arbeitslosigkeit im Ausland und einen desaströsen Inlandsmarkt steht) . Dies sei allerdings nur möglich gewesen, weil Arbeiter und Angestellte gewisse Einschnitte hingenommen haben, Einschnitte natürlich, die gut für uns alle sind. Und so wird die „Gier“ des „kleinen Mannes“ unter Kontrolle gehalten, denn wer auf die Idee kommt, mehr zu fordern, steht schnell als „Kollegen-Schwein“ da, das egoistisch und getrieben von der Gier nach mehr das Kollektiv gefährdet. Ein Kollektiv, wohlgemerkt, das auf das Individuum ausgerichtet ist, was schon ziemlich grotesk ist.
Wo das schlechte Gewissen bereits wirkt, darf die Angst nicht fehlen. Deswegen müssen wir uns in regelmäßigen Abständen anhören, „die fetten Jahre sind vorbei“ oder wir müssen uns davor fürchten, dass der Wohlstand womöglich doch nicht so sicher ist, wie kurz zuvor noch massenwirksam kommuniziert wurde. Das „Es geht uns gut“ steht auch stellvertretend für „Aber das muss nicht so bleiben“.
Perfekt als Trio tritt das System auf, wenn innere oder äußere Feinde hinzukommen. Jemand, von dem man sich abgrenzen kann, dem man die falsche Sicht auf die Dinge vorwerfen kann, jemand, der sich nicht fügen will und der einfach nicht versteht, wie gut es uns allen geht. Nicht erst in jüngerer Zeit ist dieser Feind alles, was „rechts“ ist. Eher aus dem Dunstkreis der AfD kommt das Feindbild „Ausländer“. Das funktioniert aber längst nicht so gut wie der „Kampf gegen rechts“. An der Flüchtlingspolitik kann man sich zwar reiben, und das Feindbild des Ausländers, der uns alles Mögliche wegnehmen will, es tut seinen Dienst zwar einigermaßen.
Aber gegen rechts zu sein, das ist eine sichere Bank. Dagegen wäre nicht einmal etwas einzuwenden, denn natürlich sind faschistisches und nationalsozialistisches Gedankengut so widerwärtig, dass man nicht dagegen argumentieren kann, wenn man noch alle Sinne beisammen hat. Doch beim Feindbildaufbau wird nicht so genau hingesehen. Da wird schnell alles als rechts eingestuft, was der gängigen Meinung zuwiderläuft. Und damit wird ein im Grunde hehres Ziel zu einem üblen Instrument der Manipulation.
Es ist in diesem Zusammenhang übrigens richtig, dass dieser „Kampf gegen rechts“ viele Menschen zur AfD treibt (was billigend in Kauf genommen wird, so lange das Feindbild bestehen bleibt). Die Zuwächse bei den vergangenen Wahlen sprechen da eine deutliche Sprache. Aber auch die Menschen, die sich angeekelt vom Establishment abwenden, wollen eines meist nicht sein: rechts. Und so empört sich der AfD-Wähler gegen den Vorwurf, rechts zu sein, was aus seiner Sicht oft sogar schlüssig ist. Denn rechts, das ist auch die CDU, rechts ist die CSU, und rechte Politik im Sinne einer Politik gegen die Mehrheit der Bevölkerung treibt auch SPD, FDP und Grüne an (die Linkspartei kämpft da einen internen Kampf gegen sich selbst, um links zu bleiben, aber in Regierungsverantwortung Kompromisse einzugehen, die längst auch für rechte Politik stehen. Immerhin ist die desaströse Wohnungspolitik etwa in Berlin unter anderem auf die SPD und die Linke zurück zu führen).
So gesehen ist es für alle mehr oder weniger etablierten Parteien sinnvoll und äußerst bequem, „gegen rechts“ zu sein. Es kann allerdings auch nicht schaden, wenn sich Skeptiker und Befürworter der These des Klimawandels gegeneinander aufbringen. Und ob die Grenzen für alle geöffnet, für alle geschlossen werden oder nach einem Mittelweg gesucht wird, ist für die Machthabenden ziemlich irrelevant, solange sich nur genügend Gruppierungen finden lassen, die sich gegenseitig auf die Füße treten.
Derzeit hinzu kommt die seit einiger Zeit angekündigte Rezession. Die ist aus machtpolitischer Sicht durchaus positiv, ist sie doch auch nichts anderes als ein personifizierter Feind. Statt sich an Rechten abzuarbeiten und von den eigenen Versäumnissen und der eigenen Verantwortung abzulenken, wird uns die Rezession als Naturgewalt verkauft (ebenso wie die Macht des Marktes), sie bricht über uns herein, und wir – machtlos gegenüber dieser Naturgewalt – müssen Maßnahmen ergreifen, die zwar für viele Menschen schmerzhaft, aber nicht zu umgehen sind.
Ignoriert wird seit vielen Jahren die in diesem Zusammenhang im In- und Ausland geäußerte Kritik, dass Deutschlands Exportüberschuss, der den Binnenmarkt schwächt und die deutsche Rezession mit bedingt, auch international zu Verwerfungen führt. Gern wird hier Donald Trump zitiert, dem einerseits unterstellt wird, dass er nichts Vernünftiges beizutragen hat (was ja meistens auch stimmt). Somit ist seine Kritik in der deutschen Lesart unbegründet.
Demselben Trump wird aber andererseits brav zugehört, wenn er von den Militärausgaben Deutschlands spricht, und dass diese spürbar erhöht werden müssen. In diesem Fall taugt Trump dann doch zu etwas, nämlich der Begründung, mehr und weiterhin „Verantwortung“ zu übernehmen, oder eben an den weltweiten Kriegen teilzunehmen und das eigene Machtstreben auszubauen.
„Tricksereien“ und „Pannen“ – lauter bedauerliche Einzelfälle
Das System und der Markt machen keine Fehler. Das lässt sich täglich an Formulierungen ausmachen, die gewählt werden, wenn es um Missstände und Skandale geht. Wir erinnern uns an den „Diesel-Skandal“, der mehr oder weniger aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden ist, und das trotz Greta Thunberg und Fridays for Futures.
Als noch berichtet wurde – und der Diesel-Skandal steht nur beispielhaft für das dahinterstehende Prinzip -, war immer wieder von „Tricksereien“, von „Pannen“ und „Schummeleien“ die Rede. Das hatte aus zweierlei Gründen Vorteile für die, denen kriminelles Verhalten vorgeworfen wurde:
1. Das kriminelle Verhalten wurde verniedlicht, bagatellisiert. Tricksereien sind nicht schön, aber auch kein Drama, so die Botschaft.
2. Das kriminelle Verhalten wurde auf Einzelpersonen begrenzt, bedauerliche Einzelfälle eben. Das entschuldigt zwar das Verhalten nicht, lässt sich aber auf einzelne Individuen reduzieren.
Denn der Markt macht keine Fehler. Er regelt sich selbst, und er regelt alles zum Besten. Und wenn es einmal nicht so gut läuft, müssen (wenn überhaupt) ein paar Bauernopfer dran glauben. Staatliche Einflussnahme dagegen wird als Eingriff in den funktionierenden Markt eingestuft. Und das darf eben nicht sein.
Was bleibt, ist: nichts, was irgendwo hinführen würde, wo es besser ist.
Die verbotene Frage nach dem System
Das Prinzip des „Uns geht es gut“ und der Beschwichtigung des „Hier und da müssen wir nachbessern“ lässt eine Frage kategorisch nicht zu: die nach dem Systemwechsel. Durch eine Geschichte, die uns seit Jahrzehnten erzählt wird, kommt eine Abkehr vom derzeitigen System nicht in Frage. Dahinter steckt tatsächlich ein Plan, den Angela Merkel vor langer Zeit mit dem Begriff der „Alternativlosigkeit“ gekennzeichnet hat. Und dieser Plan lautet, dass alles so bleiben muss, wie es ist, selbst, wenn an einigen Schrauben vielleicht noch gedreht werden müsse.
Doch Alternativlosigkeit ist eine absurde Idee, weil es immer mindestens zwei Möglichkeiten gibt, wie man sich entscheiden kann. Und eine dieser beiden Möglichkeiten ist im Falle des Neoliberalismus die Entscheidung, sich ein für alle Mal dagegen zu entscheiden. Und im Grunde wissen das die meisten Menschen auch, vor allem, weil die meisten Menschen eben die sind, die unter dem Neoliberalismus leiden. Ihnen gegenüber steht allerdings eine Macht, bestehend aus Wirtschaft, Politik und Medien, die nicht müde wird, ihnen einzureden, es gäbe nichts Besseres als das, was wir nun einmal haben.
Doch das ist Unsinn. Natürlich gibt es etwas Besseres als das, was wir seit Jahrzehnten erleben. Wir sind jedoch an einem Punkt, an dem dieses „Bessere“ als Sozialismus, Enteignung, Gutmenschentum, Naivität und Verschwörungstheorie bezeichnet wird. Und somit mit wenigen Schlagworten diskreditiert wird.
Sicherlich kann man über den Kapitalismus diskutieren, sicherlich kann man über den Sozialismus diskutieren. Und sicher kann man auch über andere Modelle oder Mischformen sprechen und streiten. Und ganz bestimmt sind das Diskussionen, die langwierig sind, die womöglich in einer Vielzahl von Sackgassen enden, bevor sich etwas in eine positive Richtung bewegt.
Eines muss man allerdings ganz unverblümt formulieren: Der Neoliberalismus ist als wirtschaftliches und politisches Modell insofern gescheitert, als er deutlich und wiederholt bewiesen hat, dass er für die breite Masse der Menschen nichts Gutes bedeutet, sondern das exakte Gegenteil. Und zwar nicht, weil einige Stellschrauben bislang nicht bewegt wurden, sondern weil er als Ganzes menschenverachtend ist.
Insofern ist es schon lange an der Zeit, die Systemfrage zu stellen. Und dem Neoliberalismus zu attestieren, dass er keine Alternative sein kann. Zu welchem System auch immer, das wird zu klären sein.