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Nach Frankfurt: Alle Männer ausweisen, oder was?

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Nachdem in Frankfurt ein Mann aus Eritrea ein Kind vor einen Zug gestoßen hat und dessen Mutter nur knapp dem Tod entkam, kocht und brodelt es in der Republik, insbesondere in der, die sich „Filterblasenland“ nennen könnte. Auf Twitter und Facebook gab es regelrechte Gewitter der Entrüstung, die (natürlich) schnell in der Instrumentalisierung endeten. Allen voran die AfD, aber nicht nur die.

Normalerweise ist es nicht meins, jede kleine Äußerung, jede gewollte Provokation und jede noch so durchschaubare Strategie der AfD mit Artikeln zu kommentieren. Ich mag es auch nicht besonders, wenn vermeintliche Posts, die mit Rechtschreibfehlern gespickt sind, an die große Glocke gehängt werden. Zum einen, weil oft nicht klar ist, ob sie echt sind oder nicht. Und zum anderen, weil das herablassende Gekeife, weil ein AfDler das Wort „Ahbendland“ eher abenteuerlich buchstabiert, in meinen Augen kein Mittel der politischen Diskussion ist.

Was die AfD allerdings nach dem Verbrechen an dem Kind am Frankfurter Hauptbahnhof so alles gepostet hat (allen voran Alice Weidel, die offenbar feucht im Schritt wurde, je dümmlicher sie kommentieren, posten und tweeten konnte), schlägt dem Fass den Boden aus. Einerseits.
Andererseits hat man wohl von der AfD auch nichts anderes erwartet.

Nicht mangelnde Sicherheitsstandards sind problematisch, sondern massive Einwanderung Illegaler und deren oft ungeklärter Verbleib in #Deutschland. Kaum Ausweisungen, keine #Grenzkontrollen – die Sicherheit wird grenzenloser #Willkommenskultur geopfert. #Frankfurt #Seehofer

Das ist ein solcher Tweet von Weidel. Der Zusammenhang zwischen dem Verbrechen von Frankfurt und der „massiven Einwanderung“ ist so dumm wie absurd. Da könnte man auch gleich alle deutschen Männer ausweisen, weil es unter ihnen Vergewaltiger gibt. Oder alle Bundesliga-Schiedsrichter auf eine einsame Insel verbannen, weil unter ihnen immer wieder Kollegen ungerechtfertigte Elfmeter pfeifen.

Aber lassen wir das. Die AfD ist bekannt für das Herstellen schlichter Zusammenhänge, selbst und gerade wenn es die nicht gibt.

Wenden wir uns Leuten im Filterblasenland zu, von denen wir nicht wissen, ob sie AfD, NPD, CDU, FDP oder SPD wählen (es geht uns auch gar nichts an). Sie blasen seit Tagen ins selbe Horn, kommen nicht darüber hinweg, dass ein Ausländer aus Eritrea diese unglaubliche Tat verüben konnte. Und machen das gleiche Fass auf wie die AfD.

Tja, und das ist nun einmal sehr, sehr dumm.

Schauen wir uns mal folgende Medienmeldungen an:

Frankfurt, 29. Juli 2019: Eine Frau und ihr achtjähriger Sohn werden am Frankfurter Hauptbahnhof vor einen einfahrenden ICE gestoßen. Während sich die 40-jährige Frau noch im letzten Moment retten kann, kommt für den Jungen jede Hilfe zu spät. Er wird von dem Zug überrollt und stirbt an seinen schweren Verletzungen.

Voerde, 20. Juli 2019: In der niederrheinischen Stadt stößt ein 28-jähriger Mann eine 34-jährige Frau vor eine einfahrende Regionalbahn. Sie stirbt an ihren Verletzungen. Das Motiv des Mannes ist unklar. Er war wegen Diebstahls und Körperverletzungen polizeilich bekannt.

München, 26. April 2017: Ein 59-jähriger Mann wartet an einem U-Bahnhof, als ihn eine 38-jährige Frau vor die einfahrende Bahn stößt. Der Zug bremst und kommt etwa zehn Meter vor dem Mann im Gleisbett zum Stehen. Die Frau leidet unter paranoider Schizophrenie. Ein Gericht ordnet eine Unterbringung in der Psychiatrie an.

Berlin, 19. Januar 2016: Eine junge Frau wird auf einem U-Bahnhof von einem psychisch kranken 29-Jährigen vor eine Bahn gestoßen, überrollt und tödlich verletzt. Der Täter wird im Prozess zur dauerhaften Unterbringung in der Psychiatrie verurteilt.

Stuttgart, 24. Dezember 1998: Ein Unbekannter stößt eine 20-Jährige vor eine S-Bahn. Sie wird überrollt und stirbt noch vor Ort. Ein Jahr später stellt sich ein Mann der Polizei. Ein Gutachten ergibt, dass er an einer schizophrenen Psychose leidet. Er wird dazu verurteilt, dauerhaft in der Psychiatrie untergebracht zu werden.

Ich würde drauf wetten, dass diese Meldungen keine große Resonanz hatten. Was wohl daran liegen mag, dass sie wirklich „blöde“ formuliert wurden. Bis auf das Geschlecht und das Alter der Beteiligten erfährt der Leser nicht viel. Warum auch? Die Taten waren schlimm, und oft spielt die psychische Verfassung der Täter eine wichtige Rolle (ja, in der Tat, normalerweise begehen einigermaßen „gesunde“ Menschen solche Taten nicht, es sind häufig psychisch zutiefst gestörte Menschen, die das tun), aber ob das Herkunftsland des Täters eine Bedeutung für die Taten hat, darf ernsthaft bezweifelt werden. Es sei denn, man bezieht Kriegs- oder andere Traumata mit ein.

Ich bin dafür, alle Informationen, die sachdienlich sind, zu benennen. Und wenn die Nationalität dazu gehört, ok, ja, einverstanden. Aber das ist meistens eben nicht der Fall. Und tatsächlich hätte es um das grausame Verbrechen von Frankfurt sicher nicht so einen Alarm gegeben, wenn die Nationalität nicht genannt worden wäre.

Dass psychische Erkrankungen, selbst wenn sie noch so naheliegend sind, offenbar in der öffentlichen Meinung und Einordnung von Straftaten kaum noch eine Rolle spielen, ist nicht nur ein Zeichen oberflächlicher Wahrnehmung. Es ist auch ein Signal dafür, dass die Bewertung einer Tat vorschnell und geprägt durch Vorurteile und simple Verurteilungen stattfindet.

Dass allerdings psychische Erkrankungen nicht einmal mehr in Betracht gezogen werden, selbst, wenn alles darauf hindeutet, sich zumindest mit dieser Möglichkeit zu beschäftigen, wirft auch kein gutes Licht auf die psychische Verfassung derer, die ihre Urteile so schnell und vorurteilsbehaftet fällen. Schließlich müsste man sich dann womöglich mit Traumata und Ursachen für diese auseinandersetzen. Das ist anstrengend und fördert womöglich andere unangenehme Wahrheiten zutage.
Das wollen wir nicht so gerne.

Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen und ist für unsere Podcasts der »Technik-Nerd«.

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