Ich werde heute nicht über Sahra Wagenknechts Entscheidung schreiben, auch wenn es der Titel dieses Textes vermuten lässt. Ich lasse es, weil es andere bereits gemacht haben und ich Wagenknechts Entscheidung nicht interpretieren will. Ich schreibe vielmehr über jene, die Wagenknecht Respekt gezollt haben, weil sie den Mut und die Ehrlichkeit hatte, über ihre gesundheitlichen Probleme zu sprechen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Denn diese „Respektzoller“ sind in der Mehrzahl unehrlich. Und ich schreibe über die, die keine Chance haben, Konsequenzen auf Grund ihrer eigenen Überforderung zu ziehen. Zudem versuche ich zu verstehen, was Wagenknecht über ihre persönliche Entscheidung hinaus zum Ausdruck bringen will
Namen sind für mich hier unbedeutend, auch wenn es natürlich einen Unterschied macht, ob wir von einem CDU-Politiker oder einer Politikerin der Partei „Die Linke“ sprechen. Die Motivation der jeweils gewählten Worte ist unterschiedlich, über die Aufrichtigkeit will ich mir kein Urteil erlauben.
Aber einer der Gründe für den Rückzug Wagenknechts war Stress, möglicherweise Mobbing, in jedem Fall aber eine Überlastung, der sie sich so nicht mehr aussetzen will. Kürzlich hörte ich in einem Gespräch, dass eines der Probleme darin bestehe, dass Politiker nahezu sieben Tage die Woche und beinahe 24 Stunden am Stück zur Verfügung stehen müssen, immer erreichbar, immer in der Verfassung, ein Statement zu Thema X und Y abzugeben. Das ist – im Bereich der Führungsebenen – sicher richtig, und korrekt ist auch, dass das eigentlich niemand aushalten kann. Trotzdem gelingt es den einen besser, den anderen weniger gut. Der Tenor lautet: Politiker können sich keine Pause gönnen, sie brauchen diese Pausen aber. Tenor war auch, dass ein auch nur temporärer Rückzug zur Folge haben kann, dass die Macht schwindet, eine Position von jemand anderem besetzt wird, ein gewisses Suchtverhalten seitens von Politikern kommt hinzu.
Begründet wird das Verständnis für überlastete Politiker mit der Schnelllebigkeit unserer Zeit, mit den sozialen Medien, mit dem Internet und der Informationsflut, die uns überall entgegenschlägt. Dieses Verständnis teile ich ausdrücklich.
Doch es war Sahra Wagenknecht selbst, die das grundlegende Problem an dieser Debatte an- und aussprach, als sie sagte, dass Politiker in einer komfortablen Situation sind. Sie sagte das ob der Tatsache, dass sie selbst zwei Monate so krank war, dass gar nichts mehr ging. Sie zielte auf all die Menschen ab, die nicht die Möglichkeit haben, sich eine Auszeit zu nehmen oder von bestimmten Aufgaben zurückzutreten. Sie sprach von Menschen in Berufen, die auf eklatante Weise unterbezahlt sind, sie sprach von Menschen, die keine Wahl haben bei der Frage, ob sie ihren Job machen wollen oder nicht, ob ihnen Überstunden guttun oder nicht, ob sie der Belastung gewachsen sind oder nicht. Wagenknecht fragte, ob es das wirklich sein kann, ob wir wirklich in einer Gesellschaft leben wollen, in der nicht die Wirtschaft den Menschen dient, sondern die Menschen der Wirtschaft dienen.
Eine Antwort auf diese Frage hat sie nicht bekommen.
Sahra Wagenknecht hat lange und unermüdlich auf die sozialen Probleme hingewiesen, hat sie angeprangert, hat immer wieder den Finger in die Wunde gelegt und auf die wachsende soziale Schieflage hingewiesen. Erneut und zum wiederholten Male wurde sie deswegen belächelt, ignoriert und angegriffen. Selbst bei der Frage der Flüchtlings- oder Migrationspolitik blieb sie konsequent und legte auch in diesen Bereichen ihren Fokus auf die soziale Frage, die – wenn man genau hinschaut – über allem steht, was wir an Wirtschafts- oder Migrations- oder Flüchtlingspolitik erleben.
Was nun bleibt, ist die Erkenntnis, dass die Gründe für Wagenknechts Rückzug sich durch die gesamte Gesellschaft ziehen, und dass es jene gibt, die die „Reißleine“ ziehen können, und die anderen, denen diese Möglichkeit nicht zur Verfügung steht.
Fast im gleichen Atemzug macht sich das Narrativ auf den Weg, dass psychische Probleme eine „Erfindung“ der neuen Zeit seien, dass es „Burn out“ vor 10 oder 20 Jahren gar nicht gegeben habe, dass ein gewisser Leistungsanspruch nun einmal dazugehöre und man es mit den psychischen Problemen auch übertreiben könne. Einen Atemzug weiter pochen Politiker, die zwar nichts zu sagen, aber einiges zu entscheiden haben, darauf, dass es „kein Recht auf Faulheit“ gäbe, dass Sanktionen unabdingbar seien, wenn die „Leistungsempfänger“ (die früher in der Regel Leistungsträger waren, die nur ihrer Chancen beraubt wurden) sich nicht auf jeden noch so unterbezahlten und fern ab von ihrer Qualifikation ausgerichteten Job einließen.
Die für mein Empfinden wichtigste Frage, die Sahra Wagenknecht gestellt hat, lautet: Wollen wir in solch einer Gesellschaft leben?
Und jeder, der nun sagt, nein, das ist nicht die Gesellschaft, in der wir leben wollen, weil sie krank macht, gefährlich ist und von den Bedürfnissen der Menschen abgewandt, der sollte sich die Frage stellen, wo wir anfangen sollten, das zu ändern.
Baustellen gibt es ohne Ende. Nur Leute, die zu- und anpacken, sehe ich in den politischen Entscheidungsfunktionen nur wenige.