Das ist schon ein Kunststück der besonderen Art. Angestoßen durch die Ereignisse der Essener Tafel wurde scheinbar in hierzulande endlich einmal flächendeckend über Armut in Deutschland gesprochen. Doch nicht erst seit den unerträglichen Aussagen Jens Spahns wird die tatsächliche Armut wegdiskutiert. Und zwar ebenso flächendeckend. Dabei wird noch nicht einmal über „Einzelfälle, alles Einzelfälle!“ schwadroniert, sondern das Problem durch das Uns-geht-es-gut-Mantra überdeckt.
Die Tafeln als schöne Ergänzung zum Sozialsystem zu bezeichnen, zeugt schon von einem unnatürlichen Selbstvertrauen und einem abgrundtiefen Selbstverständnis. Doch so kam es ja, hungern müsse niemand, laut Jens Spahn sind die Tafeln ja sowieso nur ein „Luxus“, der eigentlich gar nicht nötig wäre. Doch arbeiten wir uns nicht an Jens Spahn ab, dessen Lebenswirklichkeit so weit von der von Tafelbesuchern entfernt ist wie seine Lebenseinstellung von der eines Feuerwehrmannes. Spahn kann auf seine Art gar nicht anders, er weiß schlicht nicht, worüber er spricht. Das macht es nicht besser, was er an Widerlichkeiten von sich gegeben hat, aber es wäre nicht angemessen bzw. nicht ausreichend, die Problematik auf ihn zu reduzieren.
Nach gefühlten 100 Talk-Shows zum Thema dauerte es bis zum 14. März, bis endlich einmal konkret angerissen wurde, was zu tun sei, um der wachsenden Armut zu begegnen. Doch bis dahin wechselten betroffene Gesichter und rührende Statements in regelmäßiger Aufdringlichkeit immer wieder zum Thema des „Es geht uns doch gut“.
Und das ist wirklich ein Kunststück. Auf der einen Seite stehen rund 1,5 Millionen Menschen, die regelmäßig Tafeln aufsuchen müssen, wobei die Dunkelziffer derer, die sie eigentlich aufsuchen könnten, dies aber aus Scham, Stolz oder anderen Gründen nicht tun, deutlich darüber liegen dürfte. Auf der einen Seite gibt es schon seit Langem Zahlen darüber, wie es um die Armut und die darin inbegriffene Kinder- und Altersarmut steht. Auf der einen Seite nehmen prekäre Jobs zu, Leiharbeit, Minijobs, unfreiwillige Teilzeitjobs und solche, die so unterirdisch bezahlt sind, dass die Betroffenen aufstocken müssen.
Und auf der anderen Seite wird zu einem Zeitpunkt, wo genau diese Themen, die keine Randthemen sind, sondern einen immer breiteren Rand bekommen, das Liedlein vom Wohlstand geträllert. Da werden in den Talk-Shows, die sich mit der Thematik befassen wollen, Menschen an den Pranger gestellt, die womöglich gar nicht unbedingt zur Tafel müssten, die also – so die Lesart rund um die Spahnsche Fraktion, und die ist ganz schon groß – das Angebot aus purer Lust annehmen, was natürlich gar nicht geht. Da wird auf der anderen Seite darüber schwadroniert, dass man doch erst einmal klären müsse, was Armut eigentlich sei und als Lösungsansatz bessere Bildung in der Zukunft versprochen. Da wird auf der anderen Seite darauf verwiesen, dass diejenigen, „die morgens aufstehen“, mehr haben müssten, als diejenigen, die dies nicht tun. Ohne allerdings den kleinen, aber feinen Umstand zu erwähnen, dass zwischen beiden Gruppen vermehrt kaum noch finanzielle Unterschiede auszumachen sind. Und klar, wenn die Löhne sich auf einem Niveau befinden, das vielfach auf die zwangsweise Aufstockung hinausläuft, dann ist es ein Ding der Unmöglichkeit, Menschen ohne Arbeit mehr zu geben. Schließlich muss das Lohnabstandsgebot eingehalten werden, und das ist so zynisch, dass es Übelkeit hervorruft.
Die Essener Tafel hat auf ein Problem aufmerksam gemacht, das aufgrund der drastischen Maßnahme durch deren Leiter (unabhängig davon, wie man diese bewerten will) mit einem Handschlag in die Medien rutschte und plötzlich die Politik in Zugzwang brachte. Aber nur auf den ersten Blick, und nur ganz kurz. Denn speziell in den Talk-Shows wurde – auch dank der Moderatoren, die in ähnlichen Sphären leben wie Spahn & Co. – das „Uns geht es gut“ nicht nur nicht hinterfragt, sondern alles, was dem widersprechen konnte, im Keim erstickt. Die einsame Kämpferin Sahra Wagenknecht dürfte davon ein Lied singen können, sie gehörte zu den wenigen Ausnahmen, die die soziale Ungleichheit immer wieder aufs Neue – und immer wieder ohne durchschlagende Wirkung – auf den Tisch legte. Die Reaktionen reichten von Ignoranz (Wagenknechts Redeanteil lag drastisch unter dem der anderen Gäste, danach konnte man gewissermaßen die Uhr stellen) bis hin zu Empörung, wie denn diese linke Politikerin Deutschlands ach so tollen Wohlstand so schlechtreden könne. Das macht müde. Und diesen Eindruck hatte man insbesondere beim eigentlich noch so jungen und unverbrauchten Kevin Kühnert von den Jusos, als der am 14. März 2018 bei Maischberger in der Runde saß.
Doch Kühnert war es, der endlich einmal ansprach, was zu tun sei. Das Mindeste muss die Anhebung des Regelsatzes sein, damit einhergehend die Anhebung der Löhne, damit das ganze Prinzip überhaupt Sinn macht. Katrin Göring-Eckhardt stimmte dann irgendwie, irgendwann zu und räumte ein, dass die Grünen ja bei der Einführung der Agenda 2010 auch nicht gerade alles richtig gemacht hätten. Was erstens die Untertreibung des Jahres ist und zweitens die Chance liegenließ, einmal grundsätzlich über die Agenda 2010 zu sprechen, die seit ihrer Einführung zu immer mehr Not, Elend, Abhängigkeiten, Hunger (ja, auch Hunger!) und psychischen Erkrankungen geführt hat.
Aber ok, bleiben wir zunächst einmal beim kleinschrittigen Vorgehen, und halten wir also fest, dass als minimalste Maßnahme, um zumindest ein klein wenig Besserung herbeizuführen, die Anhebung der Regelsätze und der Löhne ein guter Anfang wäre.
Dann fangen wir also jetzt mal damit an. Ich meine: mit dem Warten darauf, wann zumindest dieses Minimalziel realisiert wird.
Ich nehme Wetten entgegen, ob das noch vor der nächsten Wahl nicht der Fall sein wird oder erst danach nicht. [InfoBox]