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Dieses Land macht müde. Sehr müde.

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Es ist ja nicht erst seit Jamaika oder den Sondierungskoalitionsverhandlungsgesprächsbeschlüssen so. Es war schon vorher so. Aber inzwischen hat meine Müdigkeit einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Dabei spielt es keine Rolle, was die SPD, die CDU, die CSU da veranstalten. Auch nicht, dass die FDP jetzt wieder versucht, populistische Gesprächsfetzen ins Rennen zu schicken, und auch nicht, dass die Grünen mit ihrem Lieblingsschwiegersohnkandidaten Robert Habeck einen neuen Dauergast in Polit-Talkshows ausgemacht haben. Das ist alles zwar ermüdend, sehr sogar. Spielt aber wirklich keine Rolle.

Denn es geht doch schließlich ums Land, oder?
Ach, ja, ums Land. Allen geht es ums Land, um Europa, um Exportweltmeisterei, internationale Kriegsverantwortung und den Anspruch, die Abgehängten aufzuhängen. Dort, wo es ihnen zwar nicht bessergeht, sie aber zumindest das Gefühl haben, dass es gut ist, alles auf dem kleinen Teller Befindliche aufzuessen, weil es anderen noch viel schlechter geht. Und alles aufzuessen ist schließlich immer schon richtig gewesen, um auf den Hunger der Welt hinzuweisen. Schon als Kind war ich unsicher, ob diese Methode optimal ist, um das Sterben durch Hunger und Durst zu verhindern. Aber meine Oma wusste es halt nicht besser.

Die Damen und Herren in Berlin, die wissen es besser. Also, nicht was den Hunger in der Welt angeht, der interessiert sie eher weniger. Aber sie wissen, was sie zu tun haben, um den Menschen im Land, ihren Wählern, das Richtige zu bieten. Ein vereinigtes Europa zum Beispiel. Yeah, das ist echt der Burner, wollen wir natürlich alle, dann sieht die Welt schon viel besser aus.
Oder eine Obergrenze. Finden alle prima. Auch wenn inzwischen aufgrund zahlreicher drastischer Maßnahmen nicht mal mehr so viele Geflüchtete zu uns kommen, dass diese Grenze (die man natürlich auch anders nennen kann) überhaupt eine Rolle spielen würde.
Die schwarze Null wollen sie, und ein Raunen geht durchs Volk: Jaaaaa, gebt uns die schwarze Null! Wir brauchen sie, warum auch immer.
Das Rentenniveau wollen sie. Halten. Nicht erhöhen, nur halten. Damit die sehenden Auges beschlossene Altersarmut sich insgesamt irgendwie besser anfühlt.

Was sie nicht alles wollen, die Damen und Herrn in Berlin. Dummerweise dient all das nicht dazu, das Leben der Menschen hierzulande wirklich zu verbessern. Hartz-IV, Zeitarbeit, betriebliche und sonstige private Altersvorsorge, Privatisierung inzwischen fast sämtlicher Bereiche der Daseinsvorsorge, TTIP, Ceta, Auslandseinsätze, Feindbild Putin bzw. Russland, eine europäische Armee, Neoliberalismus, Neoliberalismus, Neoliberalismus, und dann, als Sahnehäubchen, noch ein bisschen Neoliberalismus oben drauf.
Ja, das wollen sie, die gewählten Vertreter des Volkes.

Ich könnte jetzt darüber wehklagen, dass die Deutschen ja schließlich die, die da jetzt verhandeln (oder besser: besprechen, wie sie uns ihren Schwachsinn am besten und authentischsten verkaufen), gewählt haben. Ja, könnte ich, aber ich habe keine Lust dazu. Die AfD hat die Linie vorgegeben, mit breiter Unterstützung der Massenmedien, die etablierten Parteien sind darauf angesprungen, haben brav die Feindbilder übernommen (was Sinn macht, stehen sie doch so unauffällig und besser da), tja, und die Wähler haben gemacht, was zu machen ist. Sie haben wirr gewählt und wundern sich jetzt über den Scherbenhaufen, der sich direkt unter ihren Füßen verdammt unangenehm anfühlt.
Ich könnte darüber wehklagen, aber ich bin müde.

Jeden Tag lese ich die Hinweise des Tages bei den NachDenkSeiten. Jeder Tag ist vollgestopft von unzähligen Meldungen, die uns aufzeigen, was alles schiefläuft. Es sind die Hinweise des Tages, am nächsten Tag kommen die nächsten, und besser sind die natürlich auch nicht, eher schlimmer. Ich lese die Hinweise, empöre mich, verzweifle, werde wütend, ratlos, müde.
Denn es geht weiter, immer weiter. Inzwischen wird nicht einmal mehr der Versuch unternommen, die schlimmsten Dinge zu vertuschen oder zu rechtfertigen. Unsere Politik winkt durch, was die Lobbyisten ihr sagt, sie hat keine Instrumente mehr in der Hand, um das Heft in dieselbe zu nehmen. Und/oder sie hat keine Lust dazu. Weil sie ja ihre Bonbons bekommt, an denen sie lutschen kann. Die sind lecker, und der Rest – wir, die Wähler, das Volk – gucken in die Röhre und lutschen am Daumen. Weniger lecker, aber der Daumen ist uns geblieben, immerhin, er gehört uns. Noch.

Es geht ums Land? Wirklich?
Dieses Mantra wirkt so glaubwürdig wie die Versicherung eines Junkies, jederzeit aufhören zu können, und morgen fängt er damit an, versprochen. Übermorgen aber dann auf jeden Fall. Ganz bestimmt, vielleicht, eventuell, wahrscheinlich, möglicherweise.
Es geht um Posten, es geht darum, die nächsten Jahre gut über die Runden zu kommen, das eigene Portemonnaie zu füllen, Kontakte zu knüpfen und sich mit den Leuten, die all das ermöglichen können, gut zu stellen.
Ich denke nicht, dass es ums Land geht.
Ich habe einen anderen Verdacht.

Vor vielen Jahren hab‘ ich mal als Kurierfahrer gejobbt. Eine Adresse, die ich anfahren musste, war die eines prominenten TV-Moderators. Er hatte sich ein Paket zusammenstellen lassen, das ich ihm per Kurier zustellen sollte. Durch einen Zufall sah ich vor meiner Fahrt zu ihm, was ich ihm brachte. Es war eine Hochglanzbroschüre. Von einer Insel. Der Mann plante tatsächlich, eine Insel zu kaufen.
So gesehen geht es vielleicht doch ums Land.  [InfoBox]

Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen und ist für unsere Podcasts der »Technik-Nerd«.

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