Die Diskussion in Deutschland über den Krieg in der Ukraine hat sich völlig verirrt. Ich weiß auch nicht, wie man die Diskussion aus dieser Verirrung wieder zurückführen kann. Wenn es um die Ukraine geht, gibt es in Deutschland zwei Positionen. Eine Seite möchte Waffen liefern, die andere drängt auf Verhandlungen. Beide Seiten sind sich darin einig, dass Russland die Ukraine überfallen und damit das Völkerrecht gebrochen hat. Dieser Vorwurf, mit dem auch westliche Maßnahmen wie Waffenlieferungen an die Ukraine und Sanktionen gegen Russland legitimiert werden, ist meiner Ansicht nach immer schwieriger haltbar.
Die Armee der Ukraine beschießt mit westlichen Waffen jeden Tag Zivilisten und zivile Infrastruktur. Jetzt, mit der Rückeroberung von Gebieten, die bisher von den alliierten Kräften Russlands und der Donbasser Volksrepubliken gehalten wurden, beweist die Ukraine, dass der Kriegsgrund, im Donbass einen Genozid verhindern zu wollen, nicht vorgeschoben war. Das ist vor allem für jene wichtig zu verstehen, die den Begriff “territoriale Integrität” im Munde führen.
Von einem deutschen Sofa, einem Bürostuhl in einem deutschen Ministerium oder einer entsprechenden Behörde mag es ganz einfach erscheinen. Russland hat die Ukraine überfallen und Gebiete annektiert. Russland muss diese Gebiete zurückgeben. Man kann versuchen, das militärisch, mittels Sanktionen oder diplomatisch zu erreichen. Konsens ist aber, Russland hat Recht gebrochen. Es lässt sich vielleicht über den Status der Krim verhandeln, vielleicht auch noch über den Status der Donbasser Volksrepubliken. Aber spätestens an diesem Punkt ist auch für die Freunde einer diplomatischen Lösung Schluss.
Die territoriale Integrität der Ukraine …
Ich halte die Idee, die territoriale Integrität der Ukraine könne in irgendeiner Weise gewahrt werden, inzwischen für absolut naiv und an der Realität vorbei. Der Weg zum Erhalt der territorialen Integrität war Minsk 2. Dieser Weg wurde jedoch vom Westen, der EU und Deutschland sabotiert. Jetzt ist er angesichts der Entwicklungen vollkommen versperrt.
Im Donbass werden mit westlichen Waffen durch die ukrainische Armee jeden Tag Zivilisten getötet. Jeden Tag. Diese Kriegsverbrechen sind unter militärstrategischen Gesichtspunkten völlig unsinnig. Die Ukraine tut es dennoch, der Westen schaut zu, liefert weiter Waffen und allem Anschein nach auch die Zielkoordinaten für Angriffe auf zivile Infrastruktur. Der Westen ist längst Kriegspartei.
Jetzt, mit der Gegenoffensive der Ukraine, schießen die Internetpranger in den sozialen Netzwerken wie Pilze aus dem Boden. Es wird denunziert was das Zeug hält, die “Kollaborateure” mit den “russischen Aggressoren” werden öffentlich zur Schau gestellt, es wird zur Lynchjustiz aufgefordert. Ukrainische Soldaten und ausländische Kombattanten rufen auf ihren Telegram-Kanälen dazu auf, die “Orks” zu schlachten, und machen sich selbst dazu bereit. „Orks“ sind Menschen, die Russisch sprechen, und damit für einen Teil der Ukrainer eben keine echten Menschen.
… ist keine Option mehr
Wer von “territorialer Integrität” der Ukraine redet, wer meint, Russland solle sich aus Cherson oder gar aus Mariupol wieder zurückziehen, muss auch eine Antwort liefern, wie dieser Konflikt nicht nur politisch, sondern ganz konkret zwischenmenschlich ausgesöhnt werden kann. Man bringt sich dort gegenseitig um, fügt sich absichtsvoll Leid zu. Die Forderung nach “territorialer Integrität” bedeutet, Menschen, die sich gegenseitig nach dem Leben trachteten, sollen wieder friedlich zusammenleben. Wie soll das gehen? Wie lässt sich das herstellen? Es herrscht ein unglaubliches Ausmaß an Hass, Abwertung, Verachtung.
Eine Frage, die auch beantwortet werden muss, ist, wie diejenigen, für welche die russische Armee nicht Besatzer, sondern Befreier darstellt, davon überzeugt werden können, dass eine Annäherung an die EU etwas Positives ist. Die EU hat gerade Waffen geliefert, mit denen diese Menschen beschossen und ihre Familienangehörigen und Freunde getötet wurden. Territoriale Integrität bedeutet auch, dass eine Ukraine als Ganzes ihren Weg in Richtung der Integration in die EU fortsetzt. Lediglich in Bezug auf die NATO wird der Begriff der Neutralität angeführt – in Bezug auf die weitere Integration der Ukraine in die EU dagegen nicht. Wie aber ist es Menschen zu vermitteln, dass sie sich einer Staatengemeinschaft annähern sollen, mit deren Waffen sie gerade bombardiert wurden?
Meine Lieben, ihr seht, der Drops ist gelutscht. Das Thema der territorialen Integrität der Ukraine ist gegessen. Es wird eine ganz natürliche und ganz verständliche Abwehrhaltung in der russischsprachigen Bevölkerung dagegen geben. Die EU und Deutschland haben mit ihrer aggressiven Politik, den Waffenlieferungen sowie der Duldung und Förderung eines rechten Nationalismus in der Ukraine die Möglichkeit für den Erhalt der territorialen Integrität zerstört.
Die EU hat einen schweren Fehler begangen. Sie glaubte, kulturelle Unterschiede ließen sich mit Gewalt nivellieren. Die Entwicklung in der Ukraine zeigt, das geht nicht. Es ist zum Scheitern verurteilt.
Vielleicht sieht jemand andere Lösungen. Ich sehe nur die eine: Die Idee der territorialen Integrität der Ukraine muss aufgegeben werden. Der Südosten muss sich von der Ukraine abspalten können. Einen anderen Weg zum Frieden sehe ich nicht. Und was das Argument des Völkerrechtsbruchs angeht: Was aktuell in der Ukraine passiert, liefert Russland einen weiteren Beweis für seine Begründung, aus Schutzverantwortung einmarschiert zu sein. Die Ukraine ist bereit, an ihrer russischsprachigen Bevölkerung einen Genozid zu begehen.