Ohne Zweifel hat die Bundesregierung nach dem Ausbruch der Krise durch das Coronavirus eine Menge falsch gemacht. Im Vergleich zu anderen Ländern hat sie sich regelrecht traumatisiert bis desinteressiert präsentiert. Immer mit dabei: Beschwichtigungen und die Beteuerung, auf das Coronavirus gut vorbereitet zu sein.
Das kann nur beschönigend sein, denn wie will man auf etwas vorbereitet sein, dessen Ausmaße man gar nicht beurteilen kann?
Andererseits ist genau das das Problem: Wir stehen vor einer Situation, die uns überfordert, erwarten aber dennoch zu jeder Zeit die richtigen Maßnahmen.
Erst die Wirtschaft, dann der Mensch
Es ist bezeichnend, dass die Bundesregierung offenkundig zunächst einmal große Sorge wegen der Wirtschaft hatte und hat. Man kann hier die Weisheit bemühen, dass die Wirtschaft doch für den Menschen da sein sollte, nicht umgekehrt. Aber das greift ein wenig zu kurz.
Das wirtschaftliche Funktionieren ist ein wesentlicher Bestandteil des Funktionierens einer Gesellschaft. Man sieht das ja an den neoliberalen Maßnahmen, mit denen wir es seit rund 20 Jahren zu tun haben. Die Menschen verdienen immer häufiger weniger als früher, sie werden in unsichere Arbeitsverhältnisse gepresst und müssen sich Sorgen um Altersarmut machen. Neben Ängsten und übermäßiger Anpassung wachsen auch Hass und Feindlichkeit unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen zueinander.
Das Problem hatten wir allerdings auch schon vor dem Ausbruch des Coronavirus. Es zeigt sich jetzt bloß in seiner ganzen Brutalität. Vorbereitet auf die Krise? Mitnichten! Die Privatisierung im Gesundheitsbereich macht das ganze Drama offenkundig. Und wir können davon ausgehen, dass wir auch hoffnungslos verloren wären, wenn uns eine Naturkatastrophe heimsucht, die den massiven und flächendeckenden Einsatz von Feuerwehr und Polizei erfordert. Auch in diesem Fall wären wir nackig wie der Kaiser in seinen neuen Kleidern.
Dennoch ist der Schutz der Wirtschaft vor dem Coronavirus natürlich nicht falsch. Zumindest, wenn man „die“ Wirtschaft konkretisieren würde. Denn nur ein Schelm denkt dabei an die großen Global-Player, die finanzielle Hilfen in Anspruch nehmen oder Kredite aufnehmen können, bis der Arzt kommt (man verzeihe mir diese Metapher). Was aber ist mit dem Mittelstand? Oder gar kleinen Unternehmen? Wie werden die Finanzämter reagieren, wenn die ersten Kleinunternehmer, denen Aufträge wegbrechen, anrufen, um ihre Einkommensteuer zunächst einmal nicht zu zahlen (wie es ja von der Bundesregierung angekündigt wurde)?
Ich will nicht unken, aber ich fürchte, ein solcher Anruf beim Finanzamt wird in den meisten Fällen eher unerfreulich für den verlaufen, der sich ein Herz gefasst und die Nummer des Finanzamts seines Vertrauens gewählt hat.
Zudem: Man kommt nicht umhin, dass die Priorität der Bundesregierung tatsächlich bei der Rettung der Wirtschaft liegt, die Gesundheit der Menschen kommt dann aber auch irgendwann. Immerhin.
Nun werden Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Menschen abgesagt, die Buchmesse, Konzerte, Fußballspiele. Der derzeit natürliche Reflex auf diese Aktionen ist der: Viel zu spät, die hätten früher handeln müssen!
Doch das ist schlicht zu einfach gedacht.
Apropos Fußball …
Es ist im Moment ein bisschen, als befänden wir uns mitten in einer Fußball-Weltmeisterschaft. Nahezu jeder Fußball-Fan ist ein potenzieller Bundestrainer, der genau weiß, wen er aufzustellen und wie er die Taktik gegen den nächsten Gegner zu gestalten hat. Bekanntlich verderben viele Köche den Brei, und 20 Millionen Fußballtrainer haben bisher keine Mannschaft zur Meisterschaft geführt, zumal dann nicht, wenn man immer wieder wichtige Szenen verpasst, weil man sich Chips und Bier holen muss und die Jungs einfach weiter kicken lässt.
Beim Coronavirus sind ebenfalls haufenweise Spezialisten am Start. Plötzlich ist das Land voll von Virologen, die das Zeug vielleicht nicht studiert, aber dafür jede Menge Lebenserfahrung haben. Ich bin auch so einer, und eine kleine Weile dachte ich, dass ich sehr genau einschätzen konnte, was die Bundesregierung falsch gemacht hat. Und natürlich, wie sie stattdessen hätte agieren müssen.
Aber ich bin ein Trottel, wenn ich das weiter glaube. Wir sprechen hier von einer absoluten Ausnahmesituation, auf die niemand wirklich vorbereitet war. Natürlich, es ist leicht, im Nachhinein zu sagen, dass dies früher, das andere später, und überhaupt alles ganz anders gemacht hätte werden müssen. Und das stimmt sicher sogar.
Was auch stimmt, ist die Annahme, dass die Bundesregierung die Lage unterschätzt hat (es noch immer tut, wie zu befürchten ist). Was ebenfalls stimmt, ist die Tatsache, dass der Neoliberalismus seinen Teil des Problems beigetragen hat, denn die bloße Gewinnmaximierung war noch nie etwas, das den Menschen, die ausgebeutet werden, unbedingt Vorteile bringt. Wenn ein soziales System so gestaltet wird, dass es gerade eben noch funktioniert, wird es krachend scheitern, wenn das gerade noch so Funktionieren nicht mehr ausreicht. Da haben wir jetzt den Salat, und an dem trägt die Bundesregierung (und ihre Vorgänger) die alleinige Schuld.
Punkt. Aus. Ende.
Was allerdings nicht richtig ist, sind die Vorwürfe darüber, dass man von Jens Spahn und der ganzen restlichen Regierungstruppe jeden Tag etwas Neues hört, dass sie heute dies und morgen jenes sagen. Ja, das tun sie, ohne Zweifel. Aber daraus kann man ihnen keinen Vorwurf machen.
Und damit komme ich zum Schluss dieses kleinen Textes
Es sind die Wissenschaftler, die derzeit die Kompetenz haben, die Lage einschätzen zu können. Und die sagen in erster Linie, dass die Lage nicht abschließend eingeschätzt werden kann. Das ist nicht sehr nett, und wir gieren danach, Wissenschaftler zu hören, die uns beruhigende Worte ins Ohr flüstern. Die finden sich ja auch. Aber dann relativieren andere die Sache wieder (oder sogar die, die zuvor beruhigende Worte geflüstert haben), man sagt uns, dass es heute ganz anders aussieht als gestern oder letzte Woche.
Das ist aber nicht das Problem der Wissenschaft oder der Wissenschaftler. Es ist der Thematik geschuldet. Niemand kann sagen, was in zwei Tagen, zwei Wochen oder zwei Monaten ist. Und genau damit müssen wir jetzt leben, müssen uns damit abfinden.
Es ist nach wie vor wichtig, jede Aktion der Bundesregierung genau zu betrachten, weil man immer davon ausgehen muss, dass sie diese Krise nutzt, um Dinge in die Wege zu leiten, die uns später ganz übel und mit voller Wucht auf die Füße fallen.
Aber ernsthaft zu erwarten, dass ein Jens Spahn (oder wer auch immer) eine nachhaltige Lösung aus dem Ärmel zieht, ist unrealistisch. Und in diesem speziellen Fall sogar unfair.
Wir können nur hoffen, dass die richtigen Entscheidungen getroffen werden. Und das ist bei der Qualität unserer Bundesregierung schon Herausforderung genug.