Kaum jemand kann sich vorstellen, wie es wäre, wenn es einen Krieg gäbe, der von deutschem Boden ausgeht. Das ist nachvollziehbar, denn Krieg, das ist zwar etwas Schreckliches, das aber stets woanders stattfindet. Unsere beiden Hauptfiguren werden völlig überrascht von der Nachricht, dass von Ramstein aus Drohnen abgefeuert werden.
Eine Fiktion.
Unter diesem etwas längeren Text steht eine Audioversion zur Verfügung.
11.30 Uhr:
Als meine Frau mich fragte, wie spät es sei, hörte ich an ihrem Tonfall, dass sie nervös oder sogar beunruhigt war. Ich antwortete, dass es halb zwölf sei, und im nächsten Moment schoss mir ein verpasster Termin durch den Kopf. Aber den gab es nicht. Es war Samstag, wir hatten nichts vor, nicht einmal einkaufen mussten wir, nur faulenzen, ein bisschen im Garten werkeln, später gutes Essen, am Abend vielleicht ein Film. Das war der Plan gewesen, und jetzt durchkreuzte ihn meine Frau mit dieser so merkwürdig gestellten Frage nach der Uhrzeit.
„Wieso gehen die Sirenen los?“ fragte meine Frau. „Es ist nicht 12 Uhr mittags.“
Das war zwar etwas merkwürdig, aber ich war zunächst dennoch ruhig. Denn Sirenen hört man immer mal zwischendurch. Ich überlegte, ob es – außer dem samstäglichen Probealarm um die Mittagszeit – noch andere Uhrzeiten gab, wo Probealarm ausgelöst wurde. Sicher war ich mir nicht. Aber es war auch nicht so wichtig.
„Vielleicht ist irgendwo ein Keller abgesoffen oder eine Katze sitzt auf einem Baum“, sagte ich.
„Ich weiß nicht“, erwiderte meine Frau. „Mir kommt das komisch vor.“
„Komm, hör auf, es kann 1.000 Gründe geben, warum die Sirene gerade jetzt losgeht.“
„Ok“, sagte meine Frau. „Welche denn? Nenn mir zwei oder drei.“
Neben dem vollgelaufenem Keller und der Katze in Not fielen mir weitere Szenarien ein, aber ich kam nicht mehr dazu, sie aufzuzählen. Denn es kamen weitere Sirenen dazu, scheinbar hatten wir es mit einer Kakophonie von lautem Heulen zu tun, die sich über uns legte wie Schreie. Die hörten wir aber nicht mehr so genau, weil das nächste Geräusch das eines Hubschraubers war, der offenbar ganz in unserer Nähe seine Runden drehte. In kurzer Abfolge hörten wir nun auch Martinshörner, ob sie von Polizeifahrzeugen, der Feuerwehr oder Krankenwagen herrührten, konnten wir nicht sagen. Bisher war das auch immer egal gewesen, für uns waren das nur störende Geräusche, die sich nach ein paar Sekunden wieder von uns entfernten, sodass wir weiter dem nachgehen konnten, was gerade so ungeheuer wichtig war.
11.44 Uhr:
Jetzt aber war etwas anderes ungeheuer wichtig. Was war da draußen los? Der Geräuschkulisse nach zu urteilen, handelte es sich zumindest um keine Kleinigkeit. Sirenen, Martinshörner, Hubschrauber, alles gleichzeitig, da musste etwas faul sein. Doch bevor wir uns damit beschäftigen konnten, kamen nun wirklich Schreie hinzu. Draußen, direkt vor unserer Haustür, hörten wir aufgebrachte Menschen und Polizisten (oder war es die Bundeswehr?), die zunächst diplomatisch, dann immer energischer die Menschen aufforderten, die Ruhe zu bewahren und nach Hause zu gehen.
Meine Frau hatte in der Zwischenzeit den Fernseher eingeschaltet. Überall liefen Nachrichten, Live-Ticker, Interviews, und alle liefen auf das gleiche hinaus. Eine Journalistin – ich hatte sie noch nie gesehen, und sie sah blass aus, nicht so, wie man sich eine Journalistin im Fernsehen vorstellen würde – sagte in die Kamera: „Zurzeit wissen wir noch nichts Genaues, aber offenbar sind von Ramstein aus Drohnen gestartet worden, die in Richtung Moskau fliegen. Der amerikanische Präsident scheint ernst zu machen, er will offenbar die Differenzen mit Russland der letzten Wochen nun mit aller Härte beenden.“
Meine Frau saß in ihrem Lieblingssessel, sie war wie betäubt. Aber ihre Hände zitterten, und als ich wieder zum Fernseher sah, bemerkte ich, dass auch die Hände der Journalistin zitterten. Das wird ein ernstes Gespräch mit dem Chef nach sich ziehen, dachte ich unsinnigerweise. Dann war der Moment vorbei, meine Frau hatte den Sender gewechselt.
Wir wurden Zeugen eines Gesprächs in einem Fernsehstudio. Der Moderator saß einem Auslands-Experten gegenüber. Ob der Mann wirklich ein Experte war, konnte ich nicht sagen, ich kannte ihn nicht, aber im Moment war mir das auch wirklich egal. Mir war flau im Magen, meine Frau saß beinahe versteinert da, den Finger auf der Fernbedienung, ihre Knie berührten sich auf eine Art und Weise, dass ich fürchtete, es müsse ziemlich wehtun.
Der Moderator fragte den vermeintlichen Experten: „Können Sie sagen, ob die Amerikaner tatsächlich Drohnen von Ramstein aus gestartet haben?“
Der Experte zögerte. „Nein, das ist nicht abschließend geklärt. Die Quelle für diese Behauptung ist Twitter. Da muss man doch sehr vorsichtig sein, ob das nun wirklich stimmt.“
„Aber russische Medien melden, dass Russlands Präsident in aller Deutlichkeit den US-Präsidenten aufgefordert hat, unverzüglich zu deeskalieren. Beziehen sich diese Meldungen auch auf Twitter oder wissen Sie mehr?“
Der Experte atmete tief ein, um fortzufahren: „Das kann ich nicht sagen, aber die letzten Wochen und Monate hat sich eine Vertiefung des Konflikts abgezeichnet. Womöglich haben die Russen etwas getan, das die Amerikaner vor die Wahl stellte, entweder zu handeln oder ihr Gesicht zu verlieren.“
Nun war der Moderator dabei, seine Professionalität zu verlieren: „Das Gesicht verlieren? Wir sprechen hier von einem Krieg! Was sollen die Russen denn gemacht haben, um einen Drohnenangriff zu rechtfertigen?“
„Darauf habe ich im Moment keine Antwort. Aber eine andere Erklärung habe ich nicht. Die Amerikaner würden nicht einfach so …“
„Vermutlich ist der Kerl jetzt seinen Job los“, sagte ich zu meiner Frau, die mich allerdings – den Eindruck hatte ich jedenfalls – überhaupt nicht wahrnahm, sodass sie meinen zaghaften Versuch, zumindest die Situation in unserem geliebten, vertrauten Wohnzimmer mit ein wenig Humor zu entschärfen, nicht bemerkte.
„Wie kommen Sie darauf, dass die Amerikaner das nicht einfach so tun würden?“ rief der Moderator dem Experten zu. „Die Amerikaner führen seit zig Jahren überall auf der Welt Kriege, was macht da schon ein Drohnenangriff von Ramstein aus?“
Nun war es der Angesprochene, der die Beherrschung verlor. „Ach, Sie, was reden Sie denn da? Mag ja sein, dass die Amerikaner seit Jahren Kriege führen, aber ich kann mich nicht erinnern, dass Sie und Ihre Zunft dagegen großartig etwas unternommen hätten. Sie und Ihresgleichen waren es doch, die jede noch so schwachsinnige Begründung für militärische Einsätze mit blumigen Worten rechtfertigten. Also kommen Sie mir jetzt bitte nicht mit diesem pseudo-moralischen Schei …“
Zunächst dachte ich, dass meine Frau wieder den Sender gewechselt hätte. Aber sie saß nur da und schien alles außer ihrer Atmung abgestellt zu haben. Offenbar wurde das Interview einfach durch den Sender beendet. Ich stand auf, machte den Fernseher direkt am Gerät aus und ging ans Fenster.
12:05 Uhr:
Draußen war es noch lauter geworden, es war inzwischen kurz nach zwölf. Unzählige Menschen rannten durcheinander, mittendrin Polizei und Bundeswehr (jetzt war es eindeutig), auch die Hubschrauber schienen mehr geworden zu sein. Die Sirenen legten sich über diese Geräusche wie ein dunkles, schweres Tuch, unter dem sich Formen wölbten und durch das Schreie drangen. Dann fiel ein Schuss, und die Tragödie nahm ihren Lauf.
Der Schuss riss meine Frau aus ihrer Trance. Plötzlich stand sie vor mir und schrie: „Wie viele Vorräte haben wir? Haben wir Wasser in Flaschen? Gibt es in der Nähe einen Bunker?“
Ich sah das Weiße in ihren Augen und wusste, dass sie es ernst meinte. Zudem wurde es draußen dunkel, so dunkel, dass ich das Licht anmachen wollte. „Nein!“, schrie meine Frau, „lass das Licht aus! Wir sind nicht sicher, wir sind nicht sicher, wenn das Licht brennt.“
„Was meinst du?“ wollte ich wissen. „Ich will nur etwas Licht machen.“
Aber sie ignorierte meinen Einwurf. „Wenn die Amerikaner die Russen angreifen, werden die sich das nicht gefallen lassen, egal, was sie bisher gesagt haben. Sie können sich das nicht gefallen lassen. Und die Drohnen kommen aus Ramstein. Was denkst du denn, wen die Russen bombardieren werden? Washington?“
Draußen fielen weitere Schüsse. Und statt nun Ruhe auszustrahlen, die sich auf meine Frau übertragen sollte, bekam ich Angst. Große Angst. Was sie sagte, war nun einmal richtig. Aus fachlicher Sicht konnte ich nicht beurteilen, ob ein russischer Angriff auf Ramstein – sozusagen aus strategischer Sicht – überhaupt sinnvoll wäre.
Würde das etwas bringen? Wer steuerte die Drohnen überhaupt und von wo aus? Müsste man nicht eher dorthin feuern, wo die Jungs an ihren Joysticks saßen und den Drohnen ihre Befehle gaben? Wäre das dann in den USA? Oder doch direkt in Ramstein? Ich hatte keine Ahnung, und ich fragte mich, warum das so war. Schließlich war Ramstein seit vielen Jahren immer wieder ein Thema gewesen, irgendwie wusste es doch jeder, dass von dort aus grausame Dinge per Knopfdruck ausgelöst werden konnten.
Und ich stand hier und konnte die simpelsten Fragen nicht beantworten.
12.15 Uhr:
Meine Frau hatte inzwischen ihren Kopf auf meine Schulter gelegt. Zunächst schluchzte sie leise, dann begann sie zu weinen. Sie nahm meine Hand und fragte: „Ist das jetzt Krieg? Sind wir im Krieg?“
Ich wollte etwas sagen, das ihre Tränen trocknet, wollte ihr sagen, dass dies kein Krieg sei, dass es zwar verdammt danach aussah, aber kein Krieg sei. Weil das nicht sein könne, weil das einfach nicht sein könne. Aber ich sagte nichts dergleichen. Ich sagte gar nichts, und ich hasste mich dafür.
„Wo ist der nächste Bunker?“, fragte sie nach einer Weile der Stille.
„Ich weiß es nicht“, sagte ich. „Wie viele Bunker gibt es hier eigentlich? Oder in Deutschland oder in Europa?“
Ich werde den Blick nie vergessen, mit dem sie mich ansah, bevor sie leise sagte: „Ich glaube nicht, dass in einem Bunker Platz für uns ist. Selbst wenn es einen gibt, werden dort andere Leute unterkommen. Wir nicht. Nicht wir.“
12.30 Uhr:
Was dann geschah, kann ich nur als surreal beschreiben. Der Lärm schwoll an, er steigerte sich, die unterschiedlichen Geräusche vermischten sich miteinander. Menschliche Schreie, Schüsse, Donner (oder waren es Bomben), Blitze, plötzlicher Regen, starker Wind, es war nicht mehr auszumachen, was woher kam und ob es natürlichen oder unnatürlichen Ursprung hatte.
Uns war klar, dass wir nicht mehr lange in unserer Wohnung bleiben konnten. Und als die erste Fensterscheibe klirrend auf unserem Küchenboden landete, wussten wir auch, dass wir schnell weg mussten. Sehr schnell.
Doch wir hatten Angst, Angst, nach draußen zu gehen, wo wohl noch nicht der Krieg ausgebrochen war, aber das Chaos sich seinen Weg bahnte. Die menschliche Zivilisation, das zeichnete sich schon jetzt, nach nur einer Stunde ab, war dabei zusammenzubrechen.
Und genau das war es auch, was meiner Frau widerfuhr. Sie brach zusammen, zitterte nun am ganzen Körper, weinte und stammelte immer wieder: „Ich will nicht sterben, ich habe solche Angst zu sterben. Warum passiert das hier? Warum unternimmt niemand etwas dagegen?“
Später:
Wir sind nicht gestorben. Aber die Welt, die wir kannten, die uns vertraut war und der wir vertrauten, sie war gestorben. Meine Frau kam nicht wieder auf die Beine, sie wurde von Alpträumen geplagt, sie hatte Probleme, das Haus zu verlassen, und wenn sie lachte, dann klang das oft nur wie ein Geräusch, eines, das nicht zu ihr gehörte.
Manchmal, wenn sie wieder abwesend erschien, wenn sie ins Leere blickte und nervös an ihren Fingernägeln spielte, stellte sie mir diese Frage, die sie in diesen Momenten immer wieder stellte und die ich ihr nicht beantworten konnte: „Wo ist eigentlich der nächste Bunker? Und gibt es dort einen Platz für uns?
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