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„Ich glaub‘, ich werd‘ diesmal nicht wählen gehen.“

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Ein Leser schickte mir folgende Nachricht, die ich unkommentiert zur Diskussion stelle. Der Leser hat mir die ausdrückliche Erlaubnis der Veröffentlichung eingeräumt, möchte aber namentlich nicht genannt werden.

„Jetzt mal ehrlich: wieso sollte ich wählen gehen? Um die AfD zu verhindern? Das wird nichts. Um der Linken den Einzug in den Bundestag zu ermöglichen? Schaffen die auch ohne mich. Ich bin da ganz egoistisch dieses Jahr. Mir tut es nicht mehr gut, zur Bundestagswahl zu gehen. Ich mach mein Kreuz und abends seh‘ ich dann, dass CDU und SPD für das Wählervertrauen danken, um am nächsten Tag mit der Scheiße weiterzumachen, die sie vor der Wahl angefangen haben.

Ist doch so. Alle vier Jahre soll die Armut bekämpft werden, sollen die Arbeitsplätze wieder besser werden, soll Geld bei den Bürgern ankommen. Ein halbes Jahr lang werden die Dinge versprochen, die beim letzten Mal auch versprochen wurden. Ich glaub‘ inzwischen, dass die Parteien vier Jahre lang im Nebenberuf an ihren Wahlprogrammen feilen, um im Hauptberuf das Gegenteil davon zu tun, was sie da reinschreiben. Immer das Gleiche, nie mit einem greifbaren Ergebnis.

Ist doch sogar noch schlimmer. Da werden ja nicht nur große Versprechungen gemacht, an die sich hinterher nicht gehalten wird. Da wird gleich gesagt, dass sowieso alles geil ist. Alleine schon dieses Wir hatten nie so viele Menschen in Beschäftigung wie heute. Keine Ahnung, ob das stimmt, aber die Jobs sind doch nichts wert. Wenn jemand mit drei Jobs trotzdem nicht klarkommt, weil zu wenig Kohle dabei rauskommt, was soll der denn mit der Rekordbeschäftigung anfangen? Vor ein paar Jahren haben die Parteien vor der Wahl wenigstens noch gesagt, dass es Dinge gibt, die verbessert werden müssen. Heute finden sie alles prima und sind der Meinung, nur noch ein bisschen nacharbeiten zu müssen. Länger Geld für Langzeitarbeitslose. Toll. Wie wärs mit weniger Langzeitarbeitslosen? Wie wärs mit Jobs, von denen man leben kann? Mehr Geld für Langzeitarbeitslose, das ist doch echt ein Witz! Geht doch längst nicht mehr darum, etwas gegen die Arbeitslosigkeit zu tun, sondern nur noch darum, es den armen Säuen ein kleines bisschen erträglicher zu machen.

Ich nutze WhatsApp. Die Bundesregierung auch, und wenn sie will, kann sie sich alles angucken, was ich mache. Wurde ich gefragt, ob ich einverstanden bin, hab ich in einem Feld ein Häkchen gemacht, dass das schon in Ordnung ist? Nein, hab‘ ich nicht, wird einfach gemacht.
Ich finde es grauenhaft, dass Deutschland in alle Welt Waffen verkauft, mit Despoten Geschäfte macht und damit für den Krieg verantwortlich ist. Und für den Tod Unschuldiger. Interessiert es jemanden, dass ich gegen diese Kriegsgeschäfte bin? Ich und wahrscheinlich Millionen andere auch? Nein, das wird einfach gemacht.
Und dafür soll ich meinen Segen erteilen? Soll die wieder wählen, die diesen Scheiß verbrechen? Nein, danke.

Dann muss ich eben die Linke wählen, sagen mir die Leute. Oder die Tierschutzpartei oder was auch immer. Hauptsache, ich geh wählen, um die rechten Parteien nicht zu stärken. War es nicht so, dass bei den letzten Landtagswahlen die Wahlbeteiligung ziemlich hoch war und davon in erster Linie die AfD profitiert hat? Ich meine, dass es so war. Und müsste ich dann nicht erst recht wählen gehen? Kann sein, aber ich hab keinen Bock mehr drauf.

Wahrscheinlich bin ich einfach desillusioniert. Vielleicht hat linkes Denken sogar verloren, den Kürzeren gezogen gegenüber den rechten Idioten. Weil die Rechten die besseren Strategen sind, oder weil sie es besser drauf haben, ihre Forderungen so zu formulieren, dass es auch der Letzte kapiert. Grenzen dicht und so. Total dumm und billig, ohne Gespür für die Ursachen. Aber das wollen die Leute doch, oder?

Kann sein, dass ich einfach nur einen schlechten Tag hab‘ und dann doch wählen gehe. Aber dieser „schlechte Tag“ dauert schon ein paar Wochen lang, und jeden Tag, wenn ich lese, was unsere Volksvertreter wieder mal abziehen, kommt ein weiterer schlechter Tag dazu.
Also, Stand jetzt ist eindeutig: Ich glaub‘, ich werd‘ diesmal nicht wählen gehen.“  [InfoBox]

Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen und ist für unsere Podcasts der »Technik-Nerd«.

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