Es sollte der ganz große Wurf werden. Die SPD hatte sich mit der Personalie Martin Schulz auch gleich noch ein Motto für den Bundestagswahlkampf zugelegt, mit dem einfach nichts mehr schiefgehen konnte. 100 Prozent Schulz, 100 Prozent Gerechtigkeit, 100 Prozent Erfolg.
So war der Plan. Die triste Realität zeigt jedoch, dass „Gerechtigkeit“ als Wahlkampfschlager keine 12, keine 10, nicht mal five Points erringen konnte. Die Medien unkten herablassend, dass das kein Wunder sei, schließlich gebe es mit der Gerechtigkeit überhaupt kein Problem. Das ist zwar weit entfernt von der Wirklichkeit, aber dass die SPD mit diesem Thema trotzdem nicht punkten konnte, liegt nahe. Denn was ist das eigentlich genau, Gerechtigkeit?
So schwammig wie möglich, so unkonkret wie nötig
Was denken Sie, wenn Sie an Gerechtigkeit denken? Was verbinden sie damit? Und falls Sie zu einem Ergebnis gekommen sind: Wie lässt sie sich herstellen?
Bei Wikipedia heißt es gleich in der Einleitung zum Artikel „Gerechtigkeit“:
Nach Platons Verständnis ist Gerechtigkeit eine innere Einstellung. Sie ist für ihn die herausragende Tugen (Kardinaltugend), der entsprechend jeder das tut, was seine Aufgabe ist, und die drei Seelenteile des Menschen (das Begehrende, das Muthafte und das Vernünftige) im richtigen Verhältnis zueinander stehen.
Klingt jetzt nicht gerade massentauglich, schon gar nicht, um selbige zu begeistern. Aber Schulz und die SPD meinten auch weniger Platon Definition von Gerechtigkeit, sondern … ja, sondern was eigentlich? Schauen wir uns mal ein paar Abstufungen an.
Klingt jetzt nicht gerade massentauglich, schon gar nicht, um selbige zu begeistern. Aber Schulz und die SPD meinten auch weniger Platons Definition von Gerechtigkeit, sondern … ja, sondern was eigentlich? Schauen wir uns mal ein paar Abstufungen an.
Gerechtigkeit unter dem Aspekt Bedürfnisprinzip oder Gleichheitsprinzip
Das Gleichheitsprinzip klingt eindeutig. Alle haben gleich viel. Will die SPD also Gerechtigkeit nach dem Gleichheitsprinzip? Sicher nicht, denn sie unterscheidet ja zwischen „hart arbeitenden Menschen“ und dem Rest, wobei schon diese Gliederung natürlich nicht gerade als effektiver Stimmenfänger taugt. Denn wann arbeitet man hart? Wann nicht? Und was ist mit denen, die durch dieses abstrakte Raster fallen? Man weiß es nicht, aber es ist klar, dass Schulz nicht das Gleichheitsprinzip meinen kann. Suchen wir also weiter.
Ist es vielleicht das Bedürfnisprinzip, das die SPD unter Gerechtigkeit versteht? Gerechtigkeit also, die den unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht wird und so ein Größtmaß an Zufriedenheit schafft? Sollte es so sein, versteht die SPD es gut, das zu verstecken. Denn neben der Lieblingszielgruppe der eben erwähnten hart arbeitenden Menschen muss man suchen, wenn man eine Politik entdecken will, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert. Ein Bedürfnis wäre beispielsweise eine Form der Freiheit, die auf Sanktionierungen von Arbeitslosen verzichtet. Ein Bedürfnis wäre eine Rente, von der man gut leben kann. Ein Bedürfnis wäre Arbeit, die auch nach dem 20. jeden Monats noch einen vollen Kühlschrank ermöglicht. Das sind Grundbedürfnisse, die die SPD programmatisch aber – wenn überhaupt – nur streift. Stattdessen bleibt sie vage, ergießt sich in Flickschusterei, die die Menschen – und ihre Bedürfnisse! – nicht erreicht.
Gerechtigkeit nach dem Leistungsprinzip
Hier kommen wir der Sache schon näher. Wir wissen ja alle, dass wir in einer Leistungsgesellschaft leben, ob wir wollen oder nicht. Auch deshalb ist es kein Zufall, wenn Schulz sich ganz besonders auf die hier abermals erwähnten hart arbeitenden Menschen fokussiert. Damit sagt er eine Menge, nämlich, dass Leistung im Vordergrund steht. Wie wissen zwar immer noch nicht, wann wer nun eigentlich ausreichend Leistung erbringt, die den Titel „hart arbeitend“ rechtfertigen würde. Aber eben das ist ja das Prinzip, nach dem Schulz und die SPD verfahren. Sie bleiben unkonkret, so dass sich theoretisch fast jeder angesprochen fühlen kann. Oder eben fast jeder sich nicht angesprochen fühlen kann, und das ist es, was die SPD seit dem rasanten Start des „Schulz-Zugs“ erlebt: Abkehr. Die Wähler hören wohl die Botschaften, aber als Adressaten empfinden sie sich immer seltener. Zwar folgt das Leistungsprinzip dem vermeintlichen Ansporn, dass, wer mehr leistet, auch mehr bekommt. Doch die Zielgruppe für dieses Verfahren schrumpft seit Jahren, weil sich Leistung eben immer seltener wirklich lohnt. Wer in die Armut hineingeboren wird, kann schon fast die Uhr danach stellen, dass sich daran nichts ändert, denn die attraktiven Arbeitsplätze werden meist untereinander aufgeteilt, sie werden vererbt wie die dahinter stehenden Vermögen. Als hart arbeitender Mensch ist Aufstieg nicht nur nicht garantiert, sondern eher unwahrscheinlich, wenn der persönliche Backround fehlt. Man bleibt halt gern unter sich, mehr Leistungsprinzip wird in den betroffenen Kreisen nur ungern akzeptiert.
So gesehen ist harte Arbeit nichts, was automatisch belohnt wird. Und so gesehen ist der Begriff der Leistungsgerechtigkeit auch nicht korrekt. Denn nach dem Leistungsprinzip bekommt zwar mehr, wer mehr leistet. Doch wer mit drei Jobs noch immer nicht zurechtkommt, weil die Bezahlung unterirdisch ist, der stößt an seine Leistungsgrenzen, und mehr bekommt er dafür nicht, im Gegenteil. Also auch nicht das, wonach wir bei der SPD suchen.
Das autoritäre Machtprinzip
Wir sind mitten drinnen im autoritären Machtprinzip, das jedem zwangsweise zuordnet, was er bekommt. Das wissen Minijobber ebenso wie Arbeitslose, das wissen Rentner wie Alleinerziehende, das wissen Kinder in Armut genauso wie Leiharbeiter. Die Bevölkerungsgruppen, die selbst keine Entscheidungsbefugnis mehr haben, weil ihnen die wirtschaftlichen Voraussetzungen dafür fehlen bzw. genommen werden, wachsen stetig und kontinuierlich an. Immer weniger haben immer mehr, und immer mehr müssen mit immer weniger zurechtkommen. In einem solchen Korsett, das Kopf und Herz zuschnürt und für schlechten Schlaf sorgt, kommt kaum ein Gefühl für Gerechtigkeit auf, schon gar keins für Chancengleichheit im Rahmen einer Leistungsgesellschaft.
Nach außen leben wir nicht nach dem autoritären Machtprinzip, doch die Praxis sieht anders aus. Deshalb ist das Thema Gerechtigkeit als Wahlkampfbegriff eine denkbar schlechte Wahl, Schulz hätte stattdessen auch „Freiheit“ oder „Frieden“ verwenden können, die Menschen hätten sich auch darin nicht wiederfinden können.
Zum einen, weil die Begriffe konträr zur Lebenswirklichkeit vieler Menschen stehen. Da wird vom Frieden geredet, während gleichzeitig offen und aggressiv der Ost-West-Konflikt angeheizt wird. Welcher Bürger soll mit dieser Diskrepanz zurechtkommen? Das wird von Freiheit schwadroniert, während die Menschen feststellen, dass die NSA-Angriffe der Vergangenheit nur die Spitze eines Eisberges waren, der in der massenhaften Ausspähung der eigenen Bürger (vorläufig) gipfelt. Und dann kommt die Gerechtigkeit hinzu, die nebulös wirkt, ohne Reiz, ohne Charme, ohne Konkretes. Auch hier sehen die Menschen ihre Lebenswirklichkeit auf der einen und Schulz‘ geschliffenen Worte auf der anderen Seite.
Gerechtigkeit als Rohrkrepierer
Es ist keineswegs wo, dass die SPD mit dem Thema Gerechtigkeit auf ganzer Linie falsch lag. Im Gegenteil, es wäre sogar ausgezeichnet gewesen, um einen spannenden Wahlkampf aufkommen zu lassen. Und es ist auch nicht so, dass – auch wenn uns das zahlreiche Medien glauben machen wollen – die Menschen das Gefühl hätten, es gebe genug Gerechtigkeit im Land. Viele sind sensibel genug und spüren ganz genau, dass es ungerecht zugeht in Deutschland, und dass diese Ungerechtigkeit zunimmt, in erschreckendem Maße zunimmt. Und genau dieselben Menschen erkennen auch, wenn es jemand wie Schulz nicht ernst meint. Leider sind sie aber nicht sensibel genug, um zu erkennen, dass die Unterschiede inzwischen kaum noch vorhanden sind, leider auch nicht sensibel genug, um linken Alternativen eine echte Chance zu geben. Aber eben doch in der Lage, um Schulz zu durchschauen. Das ist der Grund für den drastischen Absturz von Schulz und der SPD. Die Sozialdemokraten haben ein Thema mit großem Potenzial zu einem Rohrkrepierer gemacht. Die Wähler werden es ihnen im September „danken“.
Leider läuft es darauf hinaus, dass erneut Merkel das Heft in der Hand behalten wird. Die kann aber hinterher von sich behaupten, dass es ihr sowieso nie um Gerechtigkeit ging. Die Wähler können also durchatmen. Und sich mächtig ärgern. Denn sie haben zwar Schulz durchschaut, aber wenn sie Merkel wählen, hat die ganz eindeutig die effizienteren Methoden gehabt, den Menschen Sand in die Augen zu streuen. Gerecht ist das nicht. Aber was ist schon gerecht? [InfoBox]