Von Ann Kiba
Ich bin ein Kind der ehemaligen DDR – zum Jungpionier habe ich es noch geschafft. Appelle wie “Für Frieden und Sozialismus: Seid bereit!”, Entgegnungen wie “Immer bereit!” und Liedtexte, die den Frieden besingen, waren seinerzeit eher Pflicht für mich – kannte ich doch nur den Frieden. Als wir neulich das Pionierlied “Frieden ist schön” wiederentdeckten, erinnerte ich mich an diese Gefühle: In der Grundschule musste ich dieses Lied lernen – die Lehrerin wollte es so; ich verstand nicht, warum ich einen Grundzustand besingen sollte. Dieser Grundzustand ist heute Geschichte – und Lieder wie “Frieden ist schön” in ihrer Einfachheit kaum mehr zu begreifen.
Das Pionierlied “Frieden ist schön” besteht aus nur zwei simplen Strophen:
Frieden ist schön, ich kann auf der Wiese liegen, Frieden ist schön, und furchtlos zum Himmel hoch sehn. Frieden ist schön.
Frieden ist schön, die Kinder können zur Schule und die Eltern zur Arbeit gehn. Frieden ist schön.
Friedlich zum Himmel hoch seh’n
In der Schule habe ich es nicht begriffen: Warum besingen wir den Grundzustand, nämlich den Frieden? Natürlich kann ich auf der Wiese liegen und furchtlos zum Himmel hochsehen – was denn sonst?!?
Heute weiß ich, was denn sonst, denn heute blicken die meisten Menschen mit Angst in den Himmel – und ob sie dabei auf einer Wiese liegen, darf bezweifelt werden. Es gibt Menschen, die voller Panik in den Himmel sehen: Weiße Spuren – Kerosin? Wolken? Chemtrails? Was ist denn das da oben, was den blauen Himmel trübt?
Und dieses weiße Zeugs ist ja (vielleicht) noch das geringere Übel. Denn der Deutsche soll kriegstüchtig werden. Er soll mit Angriffen rechnen, wenn er in den Himmel schaut. Angst soll er haben. Angst, wenn er sich allen Ernstes trauen sollte, im Berliner Mauerpark auf einer Wiese zu liegen und in den Himmel zu schauen. Angst, wenn er auf der bayerischen Hochalm wagt, einfach auf der Wiese zu gammeln (statt beispielsweise Überstunden zu schieben – wir brauchen halt Anreize für Mehrarbeit, nicht wahr?) und in den Himmel zu gucken. Angst, wenn er vorm Frankfurter Bahnhof, am Mannheimer Marktplatz oder auf dem Solinger Stadtfest steht – dann soll er gar nicht mehr zum Himmel gucken, sondern zusehen, dass ihn kein Messer trifft. Angst müssen wir haben. Angst vor einer friedensfreien Zeit.
Die Kinder können zur Schule und die Eltern zur Arbeit geh’n
Glaubt man diesem hübschen kleinen Pionierlied, ist es Frieden, wenn die Kinder zur Schule und die Eltern zur Arbeit gehen können. Damit ist der Frieden schon seit ein paar Jahren vorbei – genauer gesagt: Seit der Corona-Episode. Kinder wurden zuhause von ihren “Artgenossen” isoliert, Eltern in Heimarbeit verbannt. Frieden wurde langsam abgeschafft.
Und seither ist nichts besser geworden. Die Bundeswehr kooperiert in Bayern bereits verpflichtend mit Schulen; Kriegstüchtigkeit ist – nach Corona (und das war ja auch eine Form des Kriegs) – das neue Normal.
Zwischen meiner kindlichen Verwunderung und diesem neuen Normalzustand liegen 36 Jahre. Zugegeben: Viele Lieder, die in den 80er Jahren entstanden und gut gingen, würden heute keinen Blumentopf mehr gewinnen, werfen wir nur mal einen Blick auf Hits der Neuen Deutschen Welle: “Hurra, hurra, die Schule brennt” wäre heute wohl ein Aufruf zum Amoklauf, Trios “Anna” sexistisch, der “Skandal im Sperrbezirk” der Spider Murphy Gang Verherrlichung der Prostituition. Joachim Witt würde beim “Goldenen Reiter” heute womöglich unterstellt werden, psychische Erkrankungen zu verharmlosen. Geier Sturzflug würde sich mit “Bruttosozialprodukt” eine Klage vom Herrn Schwachkopf einfangen, Spliff wäre wegen “Carbonara” an die Meldestelle REspect verpetzt worden; Kiz würde mit der “Sennerin vom Königssee” mindestens deshalb Ärger bekommen, weil keiner weiß, ob die Sennerin wirklich eine “sie” ist oder ob nicht Pronomen wie “zie”, “tey” oder “eir” angebrachter wären.
Frieden ist „unterkomplex“
Was aber heute gar nicht mehr geht, ist die Schlichtheit von “Frieden ist schön”. “Unterkomplex” würde es heute tönen – und das kleine Pionierliedchen in die rechte Ecke geschoben werden, weil “komplexe Probleme” doch nicht mit “einfachen Antworten” geklärt werden können.
Was bitte ist passiert in den letzten 36 Jahren? Und wann genau ist das alles passiert? Plötzlich ist Frieden ätzend und Kriegstüchtigkeit das, was wir verinnerlichen müssen – Frieden ist nicht mehr der Normal-, sondern ein Wunschzustand. Während es in vielen Teilen der Welt tatsächlich brennt, redet Deutschland mit seinem ach so beliebten Politiker Boris Pistorius (SPD) den Krieg so dermaßen herbei, dass es nicht mehr möglich ist, einfach auf einer Wiese zu liegen und furchtlos zum Himmel hoch zu sehen. Wenn man das mal versucht, kommt entweder irgendein Klimakleber um die Ecke, um zu erklären, dass die Wiese viel zu heiß und der Himmel viel zu abgasverseucht ist, oder irgendeiner, der früher mal auf Friedensdemos für Abrüstung demonstriert hat und heute erklärt, dass das aufgrund von akuten Bedrohungen gar nicht mehr ginge.
Dieses kleine Pionierliedchen ist heute wichtiger denn je. Es ist wichtiger denn je, sich auf eine Wiese zu legen, in den Himmel zu schauen und zu spüren: Noch ist Frieden. Aber der Krieg wird derartig provoziert, dass dieser unschuldige Blick in den friedlichen Himmel nicht mehr lange möglich sein wird. Also bitte: Schaut in den Himmel. Singt – nein, schreit Friedenslieder. Verwirrt diejenigen, die meinen, Frieden sei “unterkomplex”, mit der Einfachheit solcher und ähnlicher Lieder. Bis auch der letzte Kriegsgeile verstanden hat: Kriegstüchtigkeit ist ätzend, und Frieden ist schön!