In der Keizerstraat (Kaiserstraße) in Paramaribo, der Hauptstadt der ehemaligen niederländischen Kolonie Surinam, stehen die Moschee und die Synagoge friedlich nebeneinander. Sie teilen sich den Hausmeister und die Parkplätze.
Ein Gastbeitrag von Mathilde van der Linden.
Wann immer ich in den Niederlanden bin, besuche ich Lydia, eine Tante zweiten Grades. Tante Lydia ist 84 Jahre alt. Ihr Mann, Jan, mit dem sie schon fast 60 Jahre verheiratet ist, ist 90 Jahre alt. Die beiden sitzen den ganzen Tag in ihren Sesseln und gucken in Richtung des Fernsehers – auch wenn der ausgeschaltet ist. Manchmal drehen die beiden Alten den Kopf nach Links um aus dem Fenster um zu gucken. Wenn es Besuch gibt, gucken sie manchmal sogar nach rechts, weil dort das Sofa ist, auf dem die Besucher sich setzen.
Der Sessel von Onkel Jan befindet sich übrigens hinter dem Sessel von Tante Lydia, die schon immer die Chefin war. Sie hat gearbeitet, zuerst als Lehrerin, dann als Direktorin einer Grundschule, während Onkel Jan sich als Hausmann um den Haushalt, die Kinder und das Essen gekümmert hat. Wenn Tante Lydia etwas sagt, was Onkel Jan blöd findet, verzieht er sein Gesicht hinter ihrem Rücken. Vielleicht würden mehr Ehen wesentlich länger dauern, wenn die Eheleute hinter- und nicht nebeneinander im Wohnzimmer sitzen würden.
Alle feiern alles
Die beiden Alten sind in Surinam geboren, das damals noch eine Kolonie der Niederlande in Südamerika war. Tante Lydia sprach zu Hause Englisch mit ihrer Mutter und Großmutter, die aus dem damaligen Britisch-Guyana, einem Nachbarland Surinams, kamen. Onkel Jan redete Urdu mit seinen Eltern, die indischer Herkunft waren. Onkel Jan und Tante Lydia sprechen miteinander und mit ihren Kindern ein sehr gepflegtes Niederländisch, das noch immer die einzig offizielle Amtssprache Surinams ist. Tante Lydia ist gläubig katholisch und hat sogar mal während des Osterfestes dem Urbi et Orbi in Vatikanstadt beigewohnt. Onkel Jan ist Muslim. Wegen seiner Religion isst er kein Schweinefleisch und er trinkt keinen Wein, aber weil der Koran nichts Böses über Heineken sagt (seine eigenen Worte), trinkt er ab und zu eine Flasche Heineken-Bier.
Tante und Onkel sahen es nicht als ihre Aufgabe an, ihren Kindern vorzuschreiben, was sie zu glauben haben, und ich habe wirklich keine Ahnung, was deren Religion ist, wenn sie überhaupt eine haben. Ich habe nie nachgefragt. Der Bruder von Onkel Jan ist mit einer Jüdin aus Surinam verheiratet. Er hat sie vor der Moschee in der Hauptstadt von Surinam, Paramaribo, kennengelernt. In Paramaribo steht die Moschee nämlich neben der Synagoge. Die beiden Religionsgemeinschaften teilen sich den Hausmeister und die Parkplätze.
Neben Juden und Muslimen, gibt es auch noch Protestanten, Katholiken, Hindus und Anhänger der afrikanischen Winti-Religion in Surinam. Keine Religionsgemeinschaft bildet die Mehrheit in dem Land, in dem ungefähr 600.000 Menschen leben – geschätzt die Hälfte davon wohnt in der Hauptstadt.
Ein Jude und ein Muslim umarmen sich innig
Wenn ihr Fernseher Religionskonflikte in anderen Teilen der Welt zeigt, schütteln Tante Lydia und Onkel Jan ihre Köpfe. Soviel Hass können sie nicht verstehen. Tante Lydia erzählt dann, wie in Surinam alle alles mitfeiern: das Ende des Ramadans, Holi Phagwa (das fröhliche Frühlingsfest der Hindus), Weihnachten, die Abschaffung der Sklaverei, das Chinesische Neujahr. „So könnte es doch überall auf der Welt sein,“ sagt Tante Lydia dann, während Onkel Jan ausnahmsweise zustimmend hinter ihr mit seinem Kopf nickt.
No spang, auf Deutsch keine Aufregung, ist das Motto der Surinamer in der lokalen, kreolischen Sprache. Im Einklang mit diesem Moto trafen sich am 24. Oktober 2023 der stellvertretende Vorsitzende der jüdischen Gemeinschaft und der Vorsitzende der islamitischen Gemeinschaft in der Moschee in der Kaiserstraße in Paramaribo. In einer gemeinsamen Erklärung äußerten sie, dass beide Gemeinschaften weiter in Harmonie miteinander leben und ein Beispiel für den Rest der Welt sein wollen. Nach dem Unterschreiben der Erklärung gaben der Jude und der Muslim einander ein brasa, eine innige Umarmung.
Mathilde van der Linden ist Buchhalterin aus den Niederlanden. Sie arbeitet und wohnt in Frankfurt am Main.