Es ist Herbst. Hier in Moskau ein paar Tage früher als in Deutschland. Aber der Herbst vollbringt hier wie dort dasselbe. Der Wind weht das bunte Laub von den Bäumen. Es landet sanft in von der Herbstsonne gold gefärbten Pfützen. Ich sitze zu Hause, trinke Tee. Ich habe mir bei unserem letzten Besuch auf der Datscha eine schwere Erkältung zugezogen. Ich war zu leicht angezogen. Es wird nachts hier schon recht kühl. Zumindest draußen, drinnen ist es schön warm.
Die Teilmobilisierung ist abgeschlossen. Zumindest in Moskau. Die Hysterie, die sich ausgebreitet hat, legt sich wieder. Jeder hier hatte seine Chance auf Einberufung abgewogen und nahezu alle Moskauer sind zu der Überzeugung gekommen, dass es sie treffen wird. Einhundertprozentig. Dabei galt die Regel, je weniger das eigene Profil zu den Kriterien passte, nach denen eingezogen wurde, desto sicherer war sich derjenige, schon morgen den Bescheid zu erhalten. Jetzt ist es vorbei und man kann wieder über andere Themen sprechen. Es gab wohl insgesamt recht viele Freiwillige, die sich gemeldet haben.
Von den Sanktionen ist in Russland noch immer nicht mehr zu spüren als bei meinem letzten Bericht. Also kaum etwas. Man kann nicht in die EU reisen. Wenn man mit Russen über die Sanktionen spricht, dann hört man Sätze wie “Ich würde so gern mal wieder nach Spanien.” Das war’s.
Grüner Herbst
Die Sanktionen seien langfristig angelegt, heißt es, und würden ihre Wirkung auch erst mit der Zeit entfalten. Allerdings sollten sie sich mit der Wirkungsentfaltung in Russland jetzt ein bisschen beeilen, sonst ist die deutsche Wirtschaft durch Putin ruiniert und in Russland ist immer noch nichts passiert. Was in Deutschland passiert, hat laut Wirtschaftsminister Habeck mit den Sanktionen kaum etwas zu tun, sondern geht ausschließlich auf den Angriffskrieg Putins zurück. Anscheinend wird es geglaubt – zumindest im Kreis der Grünen. Am Fenster trägt der Wind Blätter vorbei. Jedem einzelnen bereitet er ein sanftes Gleiten zu Boden.
Der russische Premierminister Michael Mischustin sagte neulich, die ökonomische Talsohle sei in Russland schon durchschritten, ab jetzt ginge es wieder aufwärts. Nach allem, was man aus Deutschland hört, gehts da erstmal noch kräftig hinab in die Talsohle. Vermutlich nicht ganz so sanft wie die Blätter, die der Wind hier vorbei weht.
In der Ukraine kämpft Russland inzwischen gegen die NATO. Die Waffen sind von der NATO, die Strategie kommt von der NATO, die Befehle arbeitet die NATO aus, die Ausbildung der Soldaten übernimmmt ebenfalls die NATO – die deutschen Medien behaupten noch immer, es sei ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Ein grausamer, brutaler Angriffskrieg Russlands. Hoffentlich schaut man in den entsprechenden Gremien in Russland deutsche Nachrichten. Sonst glaubt man dort noch fälschlicherweise, man würde gegen die NATO kämpfen. Das könnte ganz schlimme Konsequenzen haben und wäre nach deutschen Mainstream obendrein ein völliger Irrglaube. Und wenn jemand recht hat, dann wohl der deutsche Mainstream.
Agonie
EU-Chefdiplomat Josep Borrell hat Russland jetzt zum Glück die rote Linie aufgezeigt. Wenn Russland die Ukraine mit Atomwaffen angreift, dann sei aber was los, ließ er Russland und die Weltgemeinschaft wissen. Herr Borrell kann sich beruhigt zurücklehnen. Die Ukraine bekommt Russland auch ohne Atomwaffen plattgemacht. Wenn die EU und der Westen weiter eskalieren, bleibt von der Ukraine nichts übrig. Sollte der Westen Russland aber in eine lebensbedrohliche Situation drängen, dann regnen die Nuklearwaffen nicht auf Kiew wie jetzt die ersten Tropfen eines Herbstregens sanft auf den Asphalt. Sie regnen dann auf Berlin, London, Brüssel, Paris und Warschau. Weniger sanft. Herrn Borrell scheint das nicht so klar zu sein. Frau Baerbock und Frau von der Leyen auch nicht. Es ist Herbst. Der Wind trägt das Laub von den Bäumen. Leichter Regen setzt ein. Drinnen ist’s gemütlich.
In Kasachstan fand ein recht interessantes Treffen statt. An der Conference on Interaction and Confidence Building Measures in Asia (CICA) nahmen 27 Staaten teil, die etwa die Hälfte der Weltbevölkerung repräsentieren. Sie wollen die Organisation in ein neues völkerrechtliches Format ähnlich der OSZE überführen. Dass Sie davon vermutlich noch nichts gehört haben, liegt nicht an Ihnen. Es liegt daran, weil dem deutschen Mainstream das Thema durchgerutscht ist. Lediglich die Berliner Zeitung titelt “Klassentreffen in Kasachstan: Wie man sich auf Putin, Erdogan und Co. vorbereitet.” Da war also nichts Wichtiges. Ein Klassentreffen.
Faktisch sucht man jenseits des Westens die Vertiefung der Zusammenarbeit, um einem in seiner Agonie immer heftiger um sich schlagenden Westen begegnen zu können, ohne sich gegenseitig aufzureiben. Schon die letzte Zusammenkunft der Shanghai Organisation für Zusammenarbeit hatte dieses Ziel. Die Welt immunisiert sich gegen den Westen. Der hält sich für den Garten und den Rest der Welt für Dschungel – glaubt zumindest der EU-Außenbeauftragte Borrell. Nun gut. Es ist Herbst. Die Sonne steht tief und auch Zwerge werfen lange Schatten.
Deutschland versinkt in einem selbst angerichteten Chaos aus Desinformation. Politik und Medien schließen sich zusammen, man schließt die Reihen, schaltet sich gleich. Das Narrativ muss aufrecht erhalten werden. Der freie Westen, die liberale Demokratie, die Hoffnung der Welt. Es ist Herbst, die Blätter fallen, Regen schlägt gegen die Fenster und in mir wohnt diese tiefe Ratlosigkeit.