Ein Gastbeitrag von Joachim Kaiser.
Nachdem „Die Linke“ in der letzten Bundestagswahl 2021 fast die Hälfte ihrer Wähler verloren hat und ohne ein drittes Direktmandat aus dem Bundestag geflogen wäre, folgten in diesem Jahr mit den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen weitere katastrophale Wahlergebnisse.
Bereits in den vorhergehenden Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt musste „Die Linke“ sogar bei ihren Stammwählern in den ostdeutschen Bundesländern starke Stimmenverluste hinnehmen. Zusammen mit den durch die Mainstreammedien aufgeblasenen Vorfällen um sexuelle Belästigung in der Linken und dem Rücktritt der Co-Vorsitzenden Hennig-Wellsow, steht die Partei sprichwörtlich am Abgrund. Nun haben verschiedene Mandatsträger, darunter auch Sahra Wagenknecht, im Vorfeld des Bundesparteitages Ende Juni in Erfurt, einen „Aufruf für eine populäre Linke“ veröffentlicht, der offenbar die Intention hat das Ruder im letzten Moment noch einmal herumzureißen.
Aber bereits nach diesem unmöglichen Satz ist man geneigt mit dem Weiterlesen aufzuhören: „Nach Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges Putins gegen die Ukraine, den wir aufs schärfste verurteilen, …“. Von einer „populären Linken“ darf man schon mehr erwarten als das Nachplappern des Regierungsnarrativs. Was auch zeigt, dass die Verfasser weiter in ihrem parteipolitischen Denken verhaftet bleiben.
Die Situation, dass „Die Linke“ nun vor dem Abgrund steht, hat, wie eben der Ukrainekrieg, ihre Vorgeschichte. Was man nun sieht ist der Endpunkt einer fatalen Entwicklung, die Sahra Wagenknecht in ihrem Buch „Die Selbstgerechten“, aber auch andere Autoren wie Didier Eribon oder Édouard Louis für die Situation in Frankreich, gut beschrieben haben. Dieser Entwicklung hätte, wenn der Wille vorhanden gewesen wäre, jeder Zeit Einhalt geboten werden können. Der Wille war, wie zu erleben war, nicht vorhanden. Paradigmatisch dafür stehen eben genau die beständigen Angriffe auf Sahra Wagenknecht aus den eigenen Reihen, selbst durch die ehemaligen Parteivorsitzenden Riexinger und Kipping – umso erstaunlicher ist es, dass sie diesen windelweichen Aufruf unterzeichnet bzw. mitinitiiert haben soll.
Eine politische Neuaufstellung geht nur ohne Identitäts- und Genderideologie
Wie sollte sich zudem die Neuausrichtung der Partei gestalten? Der aktuelle Zustand liegt explizit darin begründet, dass die Identitäts- und Genderideologen die Partei dominieren. Für einen Neuanfang müsste man diese Fraktion aus der Partei werfen, was letztendlich der Selbstauflösung gleichkäme. Wobei dieses Thema für eine politische Neuaufstellung der Partei zentral ist. Wesentliches Charakteristikum der Identitäts- und Genderideologie und der durch ihre Protagonisten geführten Diskurse ist die Verschleierung des dem Kapitalismus immanenten, grundsätzlichen gesellschaftlichen Antagonismus zwischen arm und reich, zwischen dem obersten 1 % und den 99 %. Man möchte möglichst alle Formen der Diskriminierung und Unterdrückung aufheben, aber bitte unter der Beibehaltung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Wenn die politische Linke in ihrer Gesamtheit nicht begreift, dass die Identitäts- und Genderideologie weder links noch emanzipatorisch ist, sondern im Grunde in ihrem dekadenten Hedonismus elitär und in ihrer Ablehnung jeden kollektiven Handelns antidemokratisch bzw. in ihrem Absolutheitsanspruch totalitär, dann ist ihr Untergang als politische Bewegung kein Verlust.
Wenn man vorgibt, sich für die Belange der „einfachen“ lohnarbeitenden Bevölkerung einsetzen zu wollen, dann kommt man auch an einer Bewertung der Position der Partei zum Corona-Regime nicht vorbei, das gerade die weniger Begüterten, die die Lockdowns nicht im gemütlichen Home Office aussitzen konnten, mit voller Härte getroffen hat, und hier ist die Haltung vieler Linker mehr als problematisch. Denn gerade im Pandemietheater hat „Die Linke“ im Grunde vollkommen versagt. Anstatt die im Zusammenhang der Corona-Politik durchgesetzten Verfassungs- und Rechtsbrüche anzuprangern, ohne Wenn und Aber für die Einhaltung der Grundrechte und die Belange der lohnarbeitenden Bevölkerung einzutreten, wurden Lockdown und Repressionsmaßnahmen abgenickt, mindestens stillschweigend akzeptiert, wenn nicht sogar noch härtere Maßnahmen gefordert. Allerdings war „Die Linke“ dann bei der Diffamierung der Bürgerproteste gegen das Coronaregime immer an vorderster Front mit beteiligt. Dabei wäre es vor dem Hintergrund, dass in der Coronakrise große Konzerne mit Milliarden unterstützt und kleine Gewerbetreibende allein gelassen wurden, Aufgabe der Linken gewesen, sich mit einer Kritik an diesen Zuständen und an den offen zutage tretenden Versäumnissen in der Gesundheitspolitik zu positionieren, statt in den medialen Mainstream der pauschalisierenden Delegitimierung der Proteste mit einzustimmen.
Klickaktivismus hilft niemandem – die Bürger müssen auf die Straße
Die Problematik solcher Aufrufe ist aber von grundsätzlicher Art. Einmal ist das Unterzeichnen von Aufrufen und Petitionen reine Symbolpolitik und damit gewollt wirkungslos. Zum anderen und wesentlichen hat das Parteiensystem, in dem Parteien nur noch dazu dienen, dass sich eine Mandatsträger- und Funktionärselite selbstbereichert und damit die repräsentative Demokratie endgültig abgewirtschaftet, das spätestens seit der Ausrufung des Corona-Ausnahmezustandes und der parteiübergreifenden Zustimmung dazu – hier hat zumindest die FDP noch mehr Widerstand geleistet als „die Linke“. Von der aktuellen Kriegsbegeisterung und der „Kanonen-statt-Butter“ Rhetorik quer durch alle Parteien, auch der Linken, möchte man schon gar nicht mehr sprechen.
Weiter auf eine Interessenvertretung durch Parteien zu setzen, erfüllt, wie Wahlen, nur allein den Zweck dieses inzwischen zutiefst korrupte und verrottete politische System, das, wie sich in Berlin gezeigt hat, selbst vor Wahlbetrug nicht mehr zurückschreckt, weiter zu legitimieren. Das Einzige was noch helfen kann, die Bürger müssen sich wieder auf ihre Rolle als demokratischer Souverän besinnen und ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen, d.h. sich selbst organisieren und ihre Interessen auf der Straße vertreten. Die Basis einer Bürgerbewegung dazu gibt es in den Protesten gegen das Coronaregime bereits. Wie groß die Furcht der politischen Elite davor ist, hat sich in der in dieser Art bisher nie gekannten Kriminalisierung, Diffamierung und Stigmatisierung dieser Protestbewegung gezeigt, das wiederum unter kräftiger Beihilfe auch der Linken.
Dass es in der Bürgerbewegung gegen das Coronaregime rechtspopulistische Tendenzen gibt, sei hier unbestritten, dies ist aber nur ein weiterer Beleg für das Versagen der Linken im Ganzen, nicht nur der Partei dieses Namens. Sicher muss auch verstanden werden, dass diese Protestbewegung keine dezidiert „linke“ Bewegung ist, dazu ist diese politisch zu heterogen, repräsentiert damit aber die lohnarbeitende Bevölkerung besser als jede Linke.
Die gesellschaftlichen Gegensätze müssen klar benannt werden
Die Dynamik der Protestbewegung hat sich im Februar und März diesen Jahres gezeigt, als bundesweit bis zu 300.000 Bürger auf die Straße gingen und das Woche für Woche. Das ist eine Resonanz, von der die Linke für ihre identitätspolitischen Themen nicht einmal träumen könnte. Dieser fiel dazu aber nur ein sich an den Straßenrand zu stellen und die Menschen auf den Demos als Nazis und Antisemiten zu beschimpfen. Wer sich an den Bürgerprotesten beteiligt hat, weiß vermutlich aus eigener Anschauung, das hat Wut und Misstrauen unter den Menschen gesät, diese sind für eine „populäre Linke“ erst einmal verloren. Und es verheißt nichts Gutes, wenn man darauf keinerlei Gedanken verschwendet und davon träumt man könne allein als Partei allein im Bundestag ohne eine Massenbewegung auf der Straße die „Regierung unter Druck“ setzen.
Es ist inzwischen absehbar, dass sich die soziale Lage im Herbst weiter massiv verschärfen wird, dann werden viele Bürger vor existenziellen Fragen stehen. Die Debatte sollte sich also um konkrete Handlungsschritte drehen, wie mit dem zu erwartenden umzugehen ist und welche Rolle eine „populäre Linke“ dabei zu spielen gedenkt. Vor dem Hintergrund einer nie gekannten sozialen Polarisierung bietet der Aufruf aber nichts Substanzielles und kaut nur oft gehörte Plattitüden wieder, die im Grunde sogar Mitglieder der SPD unterschreiben könnten. Der Text enthält sich jeder Analyse der aktuellen sozialen Lage und ihm fehlt das Wesentliche, eine substanzielle Auseinandersetzung mit den realen Besitz- und Machtverhältnissen. Das zentrale Element einer linken Politik, die diesen Namen auch verdient, muss aber die klare Orientierung an der sozialen Frage und den ökonomischen Macht- und Besitzverhältnissen sein. Sie muss das Kernproblem der kapitalistischen Gesellschaft klar benennen: die Klasse. Aber warum sollte „Die Linke“ gerade jetzt die politische Kraft sein, die der lohnarbeitenden Bevölkerung „eine starke, laute Stimme“ verleiht? Dazu hätte sie lange genug Zeit gehabt.