Hier soll es nicht um die Rechtfertigung des aktuellen Krieges in der Ukraine gehen. Gleichsam ist dies der Versuch, in diesem Konflikt die Geschehnisse nicht auf Russland zu reduzieren. Es soll darüber hinaus darum gehen, den Blick über aktuelle Ereignisse und Bewertungen hinaus zu richten.
Scharfschützen, die auf Kinder schießen, baufällige Häuser armer Familien, die bombardiert werden, Museen und andere Kulturstätten, die – fernab von irgendwelchen militärischen Einrichtungen – dem Erdboden gleichgemacht werden … diese Dinge sind in Donezk geschehen. Das war 2016. Und in den folgenden Jahren geschahen diese Dinge weiterhin, bis einschließlich heute. Mit mindestens 14.000 Toten als Folge.
Doch begonnen hat es schon früher, als Donezk sich entschied, nicht der ukrainischen Regierung im Westen des Landes zu folgen, sondern sich in Richtung Russland zu orientieren. 2014 hatte die Krim in einer Abstimmung mit einer überwältigenden Mehrheit entschieden, zu Russland gehören zu wollen. Unter dem Eindruck dessen, was im Westen der Ukraine geschah, ist das nachvollziehbar. Ob es sich – wie in der westlichen Erzählung behauptet – bei der Krim um eine Annexion handelte oder nicht, ist auch unter Völkerrechtlern umstritten.
Donezk und Luhansk suchten ebenfalls den Anschluss an Russland, doch Putin ließ das nicht zu. Möglich, dass er darauf hoffte, durch das Minsker Abkommen werde es auch ohne sein Eingreifen zu einer friedlichen Lösung kommen. Doch daraus wurde nichts. Das lag zum einen an der Westukraine und deren ständigen Angriffen auf Donezk und andere Städte, zum anderen an der Untätigkeit der westlichen Länder, die nichts taten, damit das Abkommen realisiert wurde. Kritiker werfen Putin heute vor, dass er viel Leid und Tod in den Volksrepubliken hätte verhindern können, wenn er sie früher anerkannt und zu Russland gehörend akzeptiert hätte.
Wen interessiert es?
Das Leid der Menschen in Donezk begann in seiner jetzigen Form 2014. Heute, acht Jahre später, hat sich daran faktisch nichts geändert. Wenn man sich die beiden Dokus „Der verschwiegene Krieg“ und „Die unerwünschte Republik“ ansieht, bekommt man ein Bild dessen, was dort seit Jahren passiert. Doch auch wenn man über diese Region hinausblickt, zeigt sich ein Bild von Kriegen und kriegsähnlichen Konflikten:
1. Kolumbien seit 1964
2. Mali seit 2012
3. Nigeria (Boko Haram) seit 2009
4. Kamerun (Ambazonien) seit 2018
5. Zentralafrikanische Republik seit 2006
6. Demokratische Republik Kongo seit 2005
7. Burundi seit 2018 (bewaffneter Konflikt)
8. Äthiopien (Tigary) seit 2020
9. Südsudan seit 2010 (bewaffneter Konflikt)
10. Libyen seit 2011
11. Ägypten seit 2013
12. Somalia seit 1988
13. Mosambik seit 2019
14. Ukraine seit 2014
15. Türkei (Kurden) seit 2004
16. Syrien seit 2011
17. Irak seit 1998
18a. Jemen (Al-Quaida) seit 2010
18b. Jemen (Huthi) seit 2014
19. Armenien/ Aserbaidschan seit 2020
20. Afghanistan seit 1978
21. Pakistan (Taliban) seit 2007 (bewaffneter Konflikt)
22a. Indien (Kaschmir) seit 1990
22b. Indien (Naxaliten) seit 1997
23a. Myanmar (Ostmyanmar) seit 1948
23b. Myanmar (Westmyanmar) seit 2016
24. Thailand (Südthailand) seit 2004 (bewaffneter Konflikt)
25a. Philippinen (Mindanao) seit 1970
25b. Philippinen (NPA) seit 1970
In Klammern: Region oder Konfliktpartei
Hin und wieder schafft es ein Konflikt in die Medien. Allerdings ist die Voraussetzung dafür nicht, dass er besonders schlimm ist, besonders viele Opfer fordert oder sonst wie aus der Reihe der anderen Konflikte herausfällt. Es kommt darauf an, wer daran beteiligt ist und wer davon profitiert oder Verluste erleidet.
Die CIA, Deutschland und die Ukraine
Man muss sich das bewusst machen, und man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Ukraine für den Westen nichts weiter als eine Möglichkeit darstellt, Russland noch näher zu rücken und seine Einflussgebiete weiter einzugrenzen. Würde es um das Leid der Menschen gehen, müsste beispielsweise der Jemen schon seit Jahren in ein Land, wo Milch und Honig fließen, verwandelt worden sein – vom Westen und einzig, um den Menschen zu helfen.
Auch das Demokratie-Argument sticht nicht. In der Ukraine herrscht keineswegs eine Demokratie, auch wenn wir das täglich lesen. Das Regime ist korrupt, faschistische Gruppen dominieren das Geschehen, der Westen hat nicht erst seit 2014 seine Finger, Finanzen und Waffen im Spiel, sondern sogar deutlich länger. Die CIA war schon in den 1950er Jahren an der Ukraine interessiert, und auch der Bundesnachrichtendienst (BND) in Deutschland spielte eine Rolle. In dem Heise-Artikel „Falsche Freunde“ von 2014 ist nachzulesen:
Ende der 1950er Jahre reaktivierte dann der deutsche BND seine Kontakte zu Stepan Bandera, dem die CIA nicht vertraute. BND-Chef Reinhard Gehlen knüpfte dabei nahtlos an seine eigene Arbeit in der Nazizeit an, als er für Hitler die Spionage im Osten organisiert hatte. Schon damals hatten Gehlens Leute argumentiert, dass die Sowjetunion zerschlagen werden könnte, wenn man sich mit den einzelnen nichtrussischen Nationalitäten verbündete. Bandera war an westlicher Unterstützung interessiert und so trainierte und finanzierte der BND 1959 ein Team, das über die Tschechoslowakei in die Ukraine eingeschleust wurde und von dort aus nach Westdeutschland berichtete. Doch der KGB hatte Banderas Organisation zu dem Zeitpunkt bereits unterwandert und ermordete ihn im gleichen Jahr.
Nun kann man sich vortrefflich darüber unterhalten, ob und inwiefern die heutige Ukraine und ihre politische Führung ihre eigenen Entscheidungen getroffen haben. Man muss sich fragen, wie das, was seit 2014 auf dem Maidan passiert ist, als Demokratiebewegung dargestellt werden kann. Und es ist ohne Zweifel nicht so, dass der Westen als Unbeteiligter zugesehen hätte, was schon deutlich wird, wenn man bedenkt, wer sich alles auf dem Maidan hat sehen lassen, also etwa Frank-Walter Steinmeier oder Victoria Nuland, um nur zwei Namen zu nennen.
Pikant ist die Tatsache, dass der BND mit Stepan Bandera zusammengearbeitet hat, einem Faschisten durch und durch, der schon mit den Nationalsozialisten zusammengearbeitet hat. Und mit dem BND in einer Form, die aus jetziger Sicht ganz offen der Schwächung und möglichst Zerschlagung der Sowjetunion galt, und zwar aus der Ukraine heraus.
Ein neuer Blick
Um es nochmals zu betonen: Das Leid der Menschen, die jetzt in der Ukraine unter dem Krieg leiden, ist mit nichts zu rechtfertigen. Es hätte unbedingt verhindert werden müssen, und es muss – da das nicht gelungen ist – so schnell wie möglich beendet werden.
Dennoch, aus analytischer Sicht ist es wichtig, die Hintergründe zu kennen, die zu dem geführt haben, was wir heute erleben. Und es ist kurzsichtig, Putin als alleinigen Aggressor zu bezeichnen, wenn man weiß, wie lange Geheimdienste bereits in der Ukraine daran arbeiten, die Sowjetunion bzw. Russland zu schwächen und zu stürzen.
Das Problem, mit dem wir heute zu tun haben, ist das bewusste Auslassen geschichtlicher Zusammenhänge, um eine einfache und schlichte Schuldzuweisung vornehmen zu können. Jedes Leid in jedem kriegerischen Konflikt auf der Welt muss beendet werden, jedes einzelne ist hier wie dort tragisch. Damit relativiert man überhaupt nichts, und damit verurteilt man auch niemanden, der jetzt zu Spenden für die ukrainische Bevölkerung aufruft. Jede Hilfe in jedem Konflikt ist gut und richtig (sofern sie auch dort ankommt, wo sie ankommen soll).
Auf der anderen Seite wird gerade der Ukraine-Konflikt dazu benutzt, eine weitere kriegerische Eskalation durch den Westen vorzunehmen. In Anbetracht der hier geschilderten Zusammenhänge mutet das noch zynischer an als es ohnehin schon ist. Auch die verlogenen Hinweise darauf, dass weiterhin auf diplomatischen Wegen nach einer Lösung gesucht werden muss, ist nicht nur Heuchelei, sondern eine glatte Lüge. Denn vom ersten Tag des russischen Angriffs an spielte die Diplomatie schlicht keine Rolle, schon vorher nicht. Das ging so weit, dass Sanktionen als Präventivmaßnahme gefordert wurden, Nord Stream 2 war in aller Munde, und all jene, denen dieses Projekt sowieso schon ein Dorn im Auge war (beispielsweise unserer frisch gebackenen Außenministerin), leckten regelrecht Blut für einen weiteren Versuch, es zum Scheitern zu bringen. Die ersten Sanktionen nach dem russischen Angriff waren schneller formuliert, als man ein Gewehr auseinandernehmen kann, und das „Sondervermögen“ in Höhe von 100 Milliarden Euro für Rüstung war ganz sicher kein diplomatischer Schachzug. Ebenso wenig die stehenden Ovationen bei der Bekanntgabe im Bundestag.
Emotionen herunterfahren
Es mag herzlos klingen, wenn man erwartet, die aktuelle Situation pragmatisch zu betrachten. Doch auch hier stellt sich die Frage, warum all die anderen Kriege und kriegerischen Konflikte entweder gar nicht oder geradezu emotionslos geschildert und bewertet werden. Beim Ukraine-Konflikt geht es weder bei den politischen Akteuren noch bei der medialen Berichterstattung um Analysen für die Gründe des Konflikts oder um diplomatische Auswege, sondern ausschließlich um Schuldzuweisungen durch emotionale Argumentation. Das kann man sich als Privatperson leisten, es ist sogar natürlich und nachvollziehbar, auch wenn es der gesamten Thematik nicht gerecht wird. Als politischer Verantwortungsträger ist diese Haltung jedoch unverzeihlich und letztlich erklärbar, wenn man vom Wunsch nach einer Eskalation ausgeht. Wäre der Wunsch nach einem Ende des Konfliktes der Vater des Gedankens, wäre die Diplomatie ein Mittel der Wahl, das bis zum letzten möglichen Moment favorisiert werden müsste. Und selbst, wenn man als politischer Entscheidungsträger der Meinung ist, Putin allein sei für den Krieg verantwortlich – was durch Fakten zu untermauern praktisch unmöglich ist -, wäre auch dann das Ausschöpfen aller diplomatischen Optionen das Gebot der Stunde.
Wer anders und so agiert, wie wir es seit dem russischen Angriff erleben, kann selbst keinen Frieden, sondern nur Konflikte, Eskalation und Krieg im Sinn haben.