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Die Gier nach Mangel

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Der Wirtschaftskrieg zwischen der EU einerseits und Russland andererseits ist in vollem Gange. Es herrscht in Deutschland allgemein eine Stimmung, die an die Berichte aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg erinnern. Man ist kriegsgeil – wirtschaftskriegsgeil.

Die Forderungen nach immer noch härteren, noch umfassenderen Sanktionen gegen Russland überschlagen sich. Ob der Lust auf Konflikt die Fähigkeit gegenübersteht, den Konflikt dann auch tätsächlich zu bestehen, ist die große Frage. Vermutlich eher nicht. Ich kann mich aktuell des Eindrucks nicht erwehren, dass viele, die jetzt nach noch härteren, noch umfassenderen Sanktionen gegen Russland rufen, davon ausgehen, sie seien davon persönlich so betroffen wie beim Ballern auf der Playstation – irgendwie gar nicht. Das wird nicht so sein.

Schon jetzt sind die Auswirkungen des Konflikts sichtbar. Die Energiepreise steigen, die Regale in den Supermärkten leeren sich. Die Inflation steigt. Spekulanten wittern Morgenluft und treiben die Preise zusätzlich in die Höhe. Dabei steht die Entwicklung erst am Anfang. Absehen lässt sich dabei schon jetzt, dass der Standard hier sinken wird. Höhere Ausgaben für Energie dämpfen die Nachfrage im Allgemeinen.  Es wird auch für den russophobsten Verbraucher deutlich werden, wie sehr die Sanktionen nicht nur Russland unter Druck setzen, sondern auch hier umfassend negative Effekte haben.

Unterschiedliche Voraussetzungen

Das Problem des Sanktionsregimes der EU scheint mir die unterschiedliche Ausgangslage. Russland exportiert Rohstoffe und Vorprodukte, die wir dringend benötigen, um sie weiter zu verarbeiten. Mit den Sanktionen haben wir uns selbst von dieser Grundlage unseres Wohlstandes abgeschnitten. Entsprechend brechen Indikatoren wie die es ZEW massiv ein. Im Gegensatz zu Russland besitzen wir nicht die Fähigkeit zur Autarkie. Russland dagegen vermag, sich aus sich selbst heraus zu versorgen. Sicher, auch auf Russland kommen harte Zeiten zu, aber es scheint besser gerüstet. Hinzu kommen anderen Indikatoren. Russland ist ein Land mit niedrigem Schuldenstand. Deutschland und die EU sind praktisch seit 2009 in der Dauerkrise. Das Wachstum insbesondere in der Eurozone blieb hinter der weltweiten Entwicklung zurück.

Natürlich spricht man hier kaum darüber, aber auch ohne Corona und ohne die reziproke Wirkung von Sanktionen gegen Russland wäre der ökonomische Zenit der EU überschritten. Der Marktradikalismus entfaltet seine zerstörerische Kraft auch in weltpolitisch krisenfreien Zeiten, denn er generiert seine Krisen selbst. Die Selbstbeweihräucherung der EU-Repräsentanten kann aber nicht darüber hinweg täuschen, dass zentrale Messgrößen vor allem im Euroraum katastrophal ausfallen. Dauerhaft hohe Arbeitslosigkeit, eine erschreckend hohe Jugendarbeitslosigkeit, kaum Wachstum, dafür aber ein zunehmendes Wohlstandsgefälle, zunehmende Ungleichheit und Armut.

Und Deutschland? Deutschland ist mit seinem Wirtschaftsmodell vollkommen vom Ausland abhängig. Sowohl was Vorprodukte und Rohstoffe als auch was Exportmärkte angeht, denn Deutschlands Modell basiert auf  dauerhaften Handelsbilanzüberschüssen. Der Binnenmarkt wird seit Jahrzehnten knapp gehalten. Deutschland produziert nicht für sich, sondern fürs Ausland. Angesichts all dieser Rahmenbedingungen entsteht der Eindruck, Deutschland und die EU haben sich mit den Sanktionen gegen Russland nicht nur ins linke und rechte Knie, sondern gleich noch in den Kopf geschossen. Eine weitere tiefe Rezession scheint unausweichlich.

Es gibt aber noch einen weiteren Unterschied zwischen Russland und Deutschland. Die russische Regierung haut in diesen Tagen ein Unterstützungs- und Stabilisierungsprogramm nach dem anderen raus. Unterstützt werden kleine und mittlere Unternehmen ebenso wie Familien und  sozial Schwache. Es geht um den Erhalt von Arbeitsplätzen, das Stützen von Produktion und Industrie, den Erhalt des Standorts. In Deutschland passiert dagegen – nichts. Es wird ein bisschen über Spritpreise und mögliche Entlastungen gesprochen, um im nächsten Atemzug jede Forderung nach einem Eingreifen des Staates als grundfalsch zurück zu weisen. In Deutschland hat man das auf uns zu kommende Problem noch nicht einmal im Ansatz erfasst.

Russland und die Welt

Verschärft wird die Problematik noch dadurch, dass die Weltgemeinschaft bei den Sanktionen gegen Russland nicht mitzieht. Faktisch steht der Westen nicht nur alleine da, faktisch wurde ihm der Kampf angesagt, denn eine größere werdende Zahl an Staaten scheint die Chance nutzen zu wollen, um sich von der westlichen Dominanz zu befreien. Indien entwickelt ein Instrument, um russisches Öl künftig in lokaler Währung abrechnen zu können. Ankerwährung soll wohl der chinesische Renminbi sein. Selbst Saudi-Arabien überlegt, den Yuan als Währung für die Lieferung von Rohöl zu akzeptieren.

Die Dollardominanz gerät immer weiter und immer schneller ins Wanken. Damit wird aber ein wichtiger Sanktionshebel unwirksam. China und Russland wollen zudem künftig ihre Bezahlsysteme zusammenlegen und sich dauerhaft von Swift unabhängig zu machen. Um die Sanktionen zu umgehen, gibt Russland inzwischen statt Visa und Masercard eigene Kredikarten mit dem russischen System Mir und dem chinesischen Unionpay aus. Akzeptiert in über 130 Ländern. Der Ukraine-Konflikt wirkt wie ein Katalysator, der den geopolitischen Umbau beschleunigt.

Es sieht so aus, als würde das westliche Sanktionsregime nicht so sehr Russland, sondern vielmehr den Westen selbst treffen. Und dort vor allem Deutschland. Dass wir den Wirtschaftskrieg so ohne weiteres gewinnen und Russland „ruinieren“, wie die deutsche Außenministerin meinte, daran sind ganz grundlegende Zweifel angebracht.  Und ob in der deutschen Bevölkerung die Gier nach Mangel aus Solidarität mit der Ukraine auch noch in einigen Wochen besteht – man wird es sehen. Vermutlich nicht.

Gert-Ewen Ungar
Gert-Ewen Ungar
Gert Ewen Ungar legte sich kurz nach dem Abi sein Anagramm zu. Er und seine Freunde versprachen sich damals bei einem Kasten Bier, ihre Anagramme immer für kreative Arbeiten zu verwenden. Dass sein Anagramm jemals mehr als zehn Leuten bekannt werden würde, war damals nicht abzusehen und überrascht ihn noch heute. Das es dazu kam, lag an seinem Blog logon-echon.com. Mit seinen Berichten über seine Reisen nach Russland stiegen die Zugriffszahlen und es entwickelte sich eine Zusammenarbeit mit RT DE. Anfang 2022 stieß er zu den neulandrebellen und berichtet über Russland, über Politik, über alles Mögliche.

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