Der deutsche Umgang mit der Ukraine-Krise wäre als Armutszeugnis zu bezeichnen, wenn dieses Wort für den desolaten Zustand deutscher Politik denn ausreichen würde. Das tut es aber nicht.
Vielmehr zeigt die deutsche Politik, dass sie weder die Grundzüge der Diplomatie versteht (verstehen will), noch ein Interesse an einer Deeskalation hat. Und vermutlich bereitet in der derzeit so angespannten Lage allein das Wort „Deeskalation“ einer Menge Leuten Kopfzerbrechen.
Deeskalation? Wie kann man nur! Putin ist in die Ukraine eingefallen, da gibt es nichts zu diskutieren oder zu deeskalieren! So der allgemeine Tenor in Politik, Medien und sozialen Netzwerken. Doch diese Aussage ist gleich doppelt falsch:
1. Diplomatie bedeutet, mit der Gegenseite zu sprechen, den Versuch zu unternehmen, sich in sie hineinzuversetzen.
2. Die Ukraine-Erzählung ist unvollständig. Sie lässt historische Zusammenhänge aus und kann so kein aussagekräftiges Bild entwickeln.
Beides verdient ein wenig mehr Beachtung.
Diplomatie?
Manchmal lohnt ein Blick in die Wikipedia, um sich etwas Klarheit zu verschaffen. Dort steht:
Diplomatisches Verhalten nennt man das Tun und Lassen eines Verhandelnden,
• das den Agierenden dabei Kompromissbereitschaft und den Willen bescheinigt, die Absichten und die Wünsche jedes Beteiligten zu erkennen;
• das sogenannte Win-win-Situationen sucht;
• das es möglichst vermeidet, andere Verhandelnde bloßzustellen oder in die Enge zu treiben;
• das geeignet ist, den langfristigen Nutzen zu maximieren (es wäre also undiplomatisch, sich einen kurzfristigen Nutzen zu sichern, dabei aber langfristig Nachteile oder Konflikte zu riskieren bzw. in Kauf zu nehmen).
Man muss kein Genie sein, um zum Schluss zu kommen, dass keiner der Punkte in der aktuellen Krisensituation eine Rolle spielt. Dabei muss man sich zudem vergegenwärtigen, dass die westliche Eskalation schon vor der Invasion Russlands begann. Sahra Wagenknecht sagte ganz richtig, dass sie das Gefühl habe, der Westen wolle einen russischen Einmarsch regelrecht herbeireden. Sofort – und erst recht später – wurde sie für diese Aussage medial gegrillt.
Doch da bereits vor Putins Fernsehansprache der Stopp von Nord Stream II im Raum stand, sogar Signale kamen, man solle in jedem Fall sanktionieren, selbst wenn Russland nicht in die Ukraine gehe, kann Wagenknecht so falsch nicht gelegen haben. Zu einem Zeitpunkt also, als es noch keine militärische Eskalation gab, endete die westliche Diplomatie bereits vorzeitig, man könnte auch sagen: sie spielte die ganze Zeit über nicht die geringste Rolle.
Mit anderen Worten: Eine Eskalation zu verhindern, lag offenbar nicht im Interesse des Westens. Zu laut waren die Drohgebärden aus dem Westen in Richtung Moskaus. Nimmt man die oben genannten Voraussetzungen für erfolgreiches diplomatisches Handeln als Grundlage, kommt man leicht zu folgenden Schlüssen:
• Kompromissbereitschaft lag zu keinem Zeitpunkt vor, der Wille, die Wünsche des Gegenüber zu erfahren, ebenfalls nicht.
• Die Suche nach einer Win-win-Situation ist nicht erkennbar.
• Die Bereitschaft, den Gegenüber nicht bloßzustellen oder in die Enge zu treiben, ist eklatant nicht vorhanden.
• Weder besteht ein Interesse an einem kurzfristigen noch an einem langfristigen Nutzen.
Was wir erleben, ist also das Gegenteil von Diplomatie, wie man es auch drehen und wenden mag. Das Verhalten der Bundesregierung (und nahezu aller anderen Mitglieder des Bundestages) zielt einzig auf eine Verschlimmerung der Lage ab. Das vorgeschobene Argument, es gehe dabei um die Demokratie und die Menschen in der Ukraine, ist an Zynismus kaum zu überbieten, wenn man bedenkt, dass Deutschland sich kurzfristig entschlossen hat, Waffen an die Ukraine zu liefern. Das ist erneut das Gegenteil von Diplomatie, denn es führt zu mehr militärischen Auseinandersetzungen und folglich zu mehr Opfern unter der Zivilbevölkerung.
Die verkürzte Geschichte oder: Dilettantisches Geschwätz
Was wir seit Tagen und Wochen erleben, ist eine blumige und in leuchtenden Farben erscheinende Erzählung über die Ukraine. Ein demokratisches Land sei sie, mit Demokraten in der Regierung und Menschen, die sich Frieden und die Zugehörigkeit zur Europäischen Union (EU) wünschen. Als „unsere Freunde“ werden Politik und Menschen bezeichnet. Diese Erzählung, gepaart mit emotionalen Bildern und anklagenden rhetorischen Mitteln, funktioniert ausgesprochen gut. Sie erinnert an eine Diskussion der NDR-Talkshow aus dem Jahr 2009, bei der unter anderem Peter Scholl-Latour und Melody Sucharewicz saßen. Damals ging es um Israel und Palästina.
Sucharewicz tat genau das, was wir heute breitflächig wieder erleben. Sie vermittelte ein emotionales Bild der Situation, das der gesamten Lage nicht im Ansatz gerecht werden konnte. Man könnte es auch anders ausdrücken: Sie aktivierte die Tränendrüsen der Zuschauer, indem sie von israelischen Müttern sprach, die morgens ihre Kinder in die Schule schickten und Angst hätten, sie würden nicht wieder zurückkommen – weil sie von Palästinensern erschossen werden könnten. An dieser Stelle wollte Scholl-Latour das Gespräch eigentlich abbrechen, weil er es leid sei, „sich in dilettantischem Geschwätz zu erschöpfen.“ Doch die Runde war noch nicht fertig mit ihm (wie im verlinkten Video zu sehen ist)
Dieses „Tränendrüsen-Prinzip“ funktioniert natürlich in jede Richtung, wenn es „richtig“ angewendet wird. Es ist jedoch nicht mehr als das Abzielen auf die Gefühle des Publikums, auf ihr Mitleid auf der einen Seite. Und auf der anderen Seite auf die Kreation eines Feindbildes, das für genau diese emotionale Betroffenheit verantwortlich sei. Es zeugt zwar von einer fragwürdigen Haltung, wenn Sucharewicz diese Methode anwendet, weil sie keinerlei Informationen über die Hintergründe des besagten Konflikts gibt und weit entfernt ist von Lösungsansätzen. Dennoch kann man ihr wohlgesonnen zusprechen, dass sie als emotionaler Mensch argumentiert, wie sie es tut.
Politische Verantwortungsträger allerdings, die zu ähnlichen Methoden greifen, sollte man möglichst schnell von ihrer Aufgabe befreien. Beim konsequenten Vorgehen gegen diese unprofessionelle und zutiefst undiplomatische Vorgehensweise würden wir allerdings eine drastische Ausdünnung des Bundestages erleben, da eben genau diese Methode der frei von Lösungsansätzen durchtränkten Praxis heute als Selbstverständlichkeit angesehen wird.
Wirklich zielführendes Verhalten und solches, das den oben genannten Definitionen von Diplomatie entspricht, würde auf der Basis erfolgen, den gesamten Konflikt mit all seinen Facetten zu betrachten. Doch das ist schwer möglich, da die Politik dann eingestehen müsste, dass ihre Anteile an der jetzigen Eskalation erheblich sind.
Als es 2014 zu den Protesten auf dem Maidan kam, waren westliche politische Kräfte in höchstem Maße involviert bzw. nahmen aktiv Einfluss auf den Verlauf der Proteste, wenn sie ihn gar vollständig initiierten. Es ist längst Allgemeinwissen, dass die politische Einflussnahme von außen ein wichtiger Teil der sich daraus ergebenden Entwicklungen ist. Damit liegt ein Eingreifen in die inneren Angelegenheiten vor, wie der Bundestag selbst es formulierte:
Dem Recht auf ungehinderte Ausgestaltung der „inneren Angelegenheiten“ als Ausdruck der Souveränität eines Staates korrespondiert eine völkerrechtliche Pflicht aller anderen Staaten, diese zu achten. Sie ist im sog. Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten, auch Interventionsverbot genannt, niedergelegt. Das Interventionsverbot ist Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts, d.h. es ist nicht in rechtsverbindlicher Form schriftlich niedergelegt, sondern findet seinen Geltungsgrund in der von einer entsprechenden Rechtsüberzeugung getragenen ständigen Staatenpraxis.
Der Westen hat massiv in die inneren Angelegenheiten der Ukraine eingegriffen, und als Frank Walter Steinmeier auf dem Maidan stand und „vermittelte“, war seine Ausrichtung eindeutig in prowestliche Richtung zeigend. Dem gegenüber steht die Diplomatie, deren Bestandteil es ist, sich in die Gegenseite hineinzuversetzen und Kompromissbereitschaft zu zeigen. Praktikabel wäre das nur, wenn der Westen seine eigenen Anteile an der Entwicklung bis heute einräumen würde. Das könnte er, wäre er diplomatisch ernsthaft interessiert, er will es aber nicht, weil dabei zu viel „schmutzige Wäsche“ an die Oberfläche gespült werden würde. Zudem müsste dann auch darüber gesprochen werden, dass die angeblich so freie und demokratische Ukraine mit faschistischen und neonazistischen Strömungen durchzogen ist, die den im Westen so hochgehaltenen Werten auf ganzer Linie widersprechen. Die ukrainische Regierung verbietet die russische Sprache, Oppositionelle müssen um ihr Leben fürchten, die „Entrussifizierung“ gehört zur selbst ernannten staatlichen Bildungsaufgabe, die bereits seit 2017 in Schulen gelehrt wird.
Diplomatie wäre auch, die historischen Zusammenhänge zu erkennen und anzuerkennen. Russland ist aus Kiew heraus entstanden, und es lässt sich nicht leugnen, dass damit begründet eine enge Verbundenheit zwischen der heutigen Ukraine und Russland besteht. Doch auch dieser Teil der Geschichte wird ignoriert und totgeschwiegen, stattdessen wird Putin zum Vorwurf gemacht, dass er bei seinen Hinweisen auf die Historie die Namen Lenin und Stalin genannt hat.
Verschwiegen und daher aktiv aus dem Katalog der diplomatischen Optionen entfernt wird auch weiterhin die Rolle des Donbass. Die dort lebenden und Russland verbundenen Menschen leiden seit acht Jahren unter Angriffen aus der westlichen Ukraine. Insgesamt 14.000 Menschen mussten in dieser Zeit ihr Leben lassen. Es gibt Stimmen, die Putin vorwerfen, Donezk und Luhansk nicht früher anerkannt zu haben. Er hätte, so der Vorwurf, viel Leid und Tod verhindern können.
Und was als hier vorerst letzter Punkt verschwiegen wird, weil es im krassen Widerspruch zu ernsthafter Diplomatie steht, ist die Behandlung der Ukraine durch den Westen. Während heute auf die oben erwähnte Tränendrüse mit dem Hinweis auf die enge Verbundenheit zu den Ukrainern gedrückt wird, leiden die Menschen in der Ukraine schon seit Jahren unter einem wirtschaftlichen Desaster. Das erscheint merkwürdig, denn wenn der Westen eine so innige Freundschaft und Nähe zur Ukraine hätte, wie er vorgibt, hätte es seit 2014 massive wirtschaftliche Hilfen geben müssen, insbesondere, weil die Ukraine sich entscheiden musste, ob sie dem Westen oder Russland zugeneigt ist. Allein diese vom Westen aufgedrückte Wahl hat zu den wirtschaftlichen Verwerfungen beigetragen, denn wäre die Ukraine ein Handelspartner sowohl vom Westen als auch Russlands geworden, sähe die Lage heute gänzlich anders aus.
Baerbock zeigt, was sie nicht kann
In Anbetracht der hier beschriebenen Grundregeln der Diplomatie ist das, was die Bundesregierung abliefert, an fehlender Kompetenz und Professionalität kaum zu ertragen.
Stellvertretend für die deutsche Politik im Ukraine-Konflikt steht die Außenministerin Annalena Baerbock (die Grünen). Sie sagte in ihrer Rede im Bundestag am 27. Februar 2022 wörtlich (01:13:57):
Ja, wir müssen Härte zeigen. Aber wir stehen hier für das internationale Recht und die internationalen Regeln ein. Deswegen gehört in diesem Moment der Dialog immer mit dazu …
An dieser Stelle könnte man die Hoffnung haben, dass Baerbock vielleicht doch eine kleine Winzigkeit von Diplomatie versteht. Doch der zweite Teil ihres Satzes stellt klar, dass dem nicht so ist. Denn den Dialog will sie nur mit ausgesuchten Gesprächspartner führen:
… nicht mit dem Aggressor, sondern mit der internationalen Gemeinschaft. Das muss jetzt unser absoluter Fokus sein.
Herr, lass es Diplomaten regnen, wir bräuchten sie so dringend!