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Bundestagsabgeordneter: „Wir haben versagt.“

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Uns erreichte die Mail eines Bundestagsabgeordneten, der allerdings (verständlicherweise) anonym bleiben möchte. Wir haben die Erlaubnis, die Mail zu publizieren.

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir haben versagt. Und zwar auf ganzer Linie. Unser Umgang mit der Corona-Krise war vom ersten Tag an desaströs, ich wünschte, ich könnte etwas anderes schreiben.

Unser erstes Problem: Der Gesundheitsminister. Ich will gar nicht sagen, dass er in der Krise mehr Fehler gemacht hat als andere das getan hätten. Aber wie kann ein Bankkaufmann Gesundheitsminister werden? Spahn ist kein Mediziner, er ist ein Politiker, der die Ochsentour hinter sich gebracht hat und nun für die Gesundheit Deutschlands zuständig ist. Zudem ist er – aber damit steht er nun wirklich nicht allein, und ich will mich selbst da nicht aus der Kritik nehmen – ein Lobbyist, der jahrelang ganz andere Dinge im Kopf hatte und jetzt eine Krise managen soll, die es in dieser Form nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hat.

Unser zweites Problem: Die Bundesregierung. Ich möchte mich nicht dazu äußern, ob ich dieser Bundesregierung angehöre oder nicht. Ich sitze jedoch im Bundestag, und ich bin kein Mitglied der AfD. Das Krisenmanagement der Bundesregierung war vom ersten Tag an unwürdig, als solches bezeichnet zu werden. Nach der anfänglichen Verharmlosung der Situation ging sie zu einer Praxis über, die weder faktenbasiert war noch psychologisch einen Anspruch auf angemessenes Verhalten hat.

Nach wie vor wird in unzählige Hörner geblasen, hört die Bevölkerung heute dies und morgen das. Das führt zu Verunsicherung, und es führt zu einer inzwischen sehr großen Angst. Ich fürchte, dass diese Angst mittelfristig negative Auswirkungen haben wird und womöglich zu Unruhen führen könnte, die vermeidbar gewesen wären, wenn mit der Krise sachlicher und – vor allem – selbstkritischer umgegangen worden wäre. Meine ersten Worte dieser Mail lauteten „Wir haben versagt“. Ich habe diese Worte jedoch seit Wochen und Monaten niemals aus dem Munde einer meiner Kollegen und Kolleginnen gehört. Meiner Ansicht nach ist eine Krise dieses Ausmaßes nur dann zu meistern, wenn man selbstkritisch das eigene Agieren hinterfragt und bewertet. Nichts davon konnte ich sehen.

Unser drittes Problem: Das Gesundheitssystem. Ich will es unverblümt sagen: Mir wird übel, wenn ich derzeit höre, unser Gesundheitssystem sei exzellent. Von Beginn an sagte unser Gesundheitsminister, wir seien gut vorbereitet, was nicht stimmen konnte, da er die Situation zu diesem Zeitpunkt gar nicht realistisch einschätzen konnte (aus dieser Tatsache an sich will ich ihm aber keinen Vorwurf machen, denn wer konnte die Situation schon einschätzen?).

Unser Gesundheitssystem ist gut, es ist besser als viele andere auf der Welt. Und wenn ich zu unserem Partner USA schaue, denke ich, dass das dortige System im Moment wohl den Todesstoß bekommt. Doch auch unser System ist alles andere als exzellent. Es ist schon seit vielen Jahren auf einem absteigenden Ast, und alle Mitglieder des Bundestags wissen, warum das so ist: Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen haben sich unter der politischen Führung der letzten Jahrzehnte zu Renditeobjekten entwickelt. Die Gesundheit rückte in den Hintergrund, die Gewinnmaximierung in den Vordergrund.

Wir, die Mitglieder des Bundestags, hätten das verhindern können, wir hätten es verhindern müssen. Aber wir sind irgendwann „falsch abgebogen“, wir haben einen Weg eingeschlagen, der inzwischen kaum noch umzukehren ist. Ich sage ganz offen: Wir sind Einflüssen ausgeliefert, die wir selbst initiiert haben, und nun haben wir kaum noch Chancen, aus diesem Dilemma wieder herauszukommen.

Um es noch einmal zu sagen: Wir haben versagt.

Unser viertes Problem: Die Zahlen. Ich möchte nichts Negatives über das Robert-Koch-Institut sagen, dort wird viel gearbeitet, und da sich die Lage täglich ändert, ist es nicht leicht, immer gesicherte Erkenntnisse zu präsentieren. Aber wir haben uns darauf verlassen, dass die Experten, mit denen wir arbeiten, die Lage richtig einschätzen. Wir haben es versäumt, andere Stimmen anzuhören, Stimmen, die über Erfahrung verfügen und deren Expertise wichtig gewesen wäre, um sich ein Gesamtbild machen zu können.

Eigentlich haben wir uns geweigert, der wissenschaftlichen Maxime zu folgen, sich im Zweifel auch widerlegen zu lassen. Wir haben Falsifikation und Gegenbeweis ignoriert und uns darauf verlassen, dass uns jene genaue Informationen liefern, die sie selbst nicht haben. Wir hätten uns breiter aufstellen müssen, hätten die Zahlen aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten und so eine Bewertung vornehmen müssen. Das haben wir nicht getan.

An dieser Stelle möchte ich schließen. Ich könnte noch viel mehr sagen, ich könnte über Dinge und Vorgänge berichten, die die Konfusion, mit der die Bundesregierung agiert, eklatant zutage fördern würden. Aber ich lasse das hier und an dieser Stelle.

Ein letztes Mal jedoch möchte ich wiederholen, was ich bereits geschrieben habe und was mich seit Wochen umtreibt: Wir haben versagt.

Nachbemerkung: Natürlich werden sich jetzt Leser fragen, ob diese Mail echt ist oder letztlich nur ein publizistischer Trick, um Kritik anzusprechen und auf eine etwas andere Art zu verbreiten.
Die Antwort sei hier gegeben: Kann sein. Oder auch nicht.

Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen und ist für unsere Podcasts der »Technik-Nerd«.

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