Horst Seehofer schien den Machtkampf mit Angela Merkel bewusst auf die Spitze treiben zu wollen. Vielleicht, um seine Stellung als Innenminister bei konservativen Wählern zu festigen und so der CSU in der Bayern-Wahl ein paar Prozentstimmen zu sichern. Oder auch gleich, um Merkel endlich von ihrem Thron zu stoßen. Oder aber auch, um fürs Wahlvolk einen Streit vorzutäuschen, der gar nicht existiert, weil die Unionsparteien ohnehin einer Meinung sind. Nun hat sich aber herausgestellt, dass Seehofers Forderungen in vielen Teilen der EU auf offene Ohren stoßen. Und wieder einmal sind sich (fast) alle einig, wer der Feind ist: die Geflüchteten.
Sammelzentren, Ausschiffungsplattformen und Rückführungen – so klingen Begriffe, die ganz im Sinne „europäischer Lösungen“ konstruiert wurden. Natürlich darf auch das Wort „Schutz“ nicht fehlen. Schutz der Europäer, die sich einer wahren Flutwelle von Menschen auf der Welt gegenübersehen. Schutz der Außengrenzen, Schutz der Binnengrenzen, Schutz aller verdammten Grenzen, die man meint schützen zu müssen. Die Angst der Menschen zumindest in Deutschland hält sich zwar schon eine ganze Weile in – im übertragenen Sinne – Grenzen. Und das wundert kaum, befinden sich doch die wenigsten in direkten Konflikten mit Geflüchteten. Außerdem sind die Zahlen von Menschen auf der Flucht (hierzulande) deutlich zurückgegangen. Doch die Drohkulisse wird weiter auf- und ausgebaut. Abschottung ist das Stichwort, Abschottung, Abschottung, Abschottung.
Gab es eine Weile hin und wieder das zarte Pflänzchen differenzierter Betrachtung, ist das nun wieder abgestorben, verdurstet oder – um im Bild zu bleiben – elendig ersoffen. Es wird nicht mehr darüber gesprochen, wie man mit den Herausforderungen umgehen kann, die Migration mit sich bringen. Es wird nicht mehr darüber gesprochen, dass Einzelfälle misslungener Integration, Straftaten oder Selbstmordattentate eben genauso behandelt werden müssen: als Einzelfälle, die es fraglos gibt und die nicht ohne Folgen bleiben dürfen (allerdings nicht durch sinnlose Gesetzesänderungen, sondern durch die Anwendung bestehender Gesetze, die haben wir nämlich auch noch).
Es wird auch nicht – schon gar nicht! – mehr darüber gesprochen, wie oft Integration gelingt, nein, das sind nicht die Themen der Stunde. Jetzt geht es nur noch darum, alle Geflüchteten so weit wie möglich fernzuhalten, in Sammelzentren, Ankerzentren oder gleich „Kontrollierten Zentren“, die sich leicht mit „KZ“ abkürzen lassen. Ein Seehofer ist dann auch gleich noch der Meinung, dass Seerettung nichts anderes als Schleuserei ist und will Präzedenzfälle vermeiden. Das gilt selbstverständlich auch für den von Seehofer sogenannten „Asyltourismus“
Europa kriminalisiert, was das Zeug hält. Ob ein Seehofer Seenotretter indirekt als „Schleuser“ bezeichnet, oder ob die EU dabei ist, Geflüchtete in Lager zu stecken, es läuft darauf hinaus, dass „unser Recht“ erhalten bzw. wiederhergestellt werden müsse. Wer so argumentiert, impliziert selbstverständlich, dass ein Rechtsbruch vorliegt. Und er suggeriert, dass all die Menschen, die auf der Flucht sind, tendenziell oder faktisch Kriminelle sind, und sei es nur, weil sie dort Schutz suchen, wo man sie nicht haben will. Es geht in der aktuellen Diskussion – sowohl in Deutschland als auch in der EU – inzwischen auch nicht mehr um die Frage, woher ein geflüchteter Mensch kommt, ob aus einem Krisengebiet, einem Kriegsgebiet, ob er vor politischer Verfolgung, Folter, Hunger, Krieg oder Dürre flüchtet. Es geht nur noch um „die Flüchtlinge“, die massenhaft zu uns kommen wollen und die man irgendwo unterbringen muss, wo sie nicht stören, am besten nicht einmal wahrgenommen werden. Wer da aus welchen Gründen landet? Das ist längst egal geworden, sie müssen weg, sie müssen alle weg!
Wir müssen uns bewusst machen, dass eine nächste Stufe erreicht wurde. Eine Stufe der kollektiven Verurteilung, eine Stufe der kollektiven Gefangennahme, auch wenn hier und da mit erhobenem Zeigefinger darauf hingewiesen wird, dass niemand vorhabe, das Asylrecht zu beschneiden. Die Abschottungspolitik der EU läuft darauf hinaus, dass Menschen auf der Flucht kaum noch eine Chance haben, wo auch immer aufgenommen zu werden, weil die Hürden, die Zäune, immer höher werden. Doch ebenso wichtig ist der Hinweis darauf, dass immer seltener auch nur das Wort „Asyl“ aus dem Munde verantwortlicher Politiker kommt. Es ist in den letzten Wochen schlicht untergegangen und wird verdrängt von Ankerzentren und anderen Wortschöpfungen, die sich auf die Symptombekämpfung fokussieren und die Ursachen für die Flucht von Menschen komplett ausblenden.
Wer spricht denn noch darüber, dass der Westen – mit vereinten Kräften der USA – Kriege führt, Regime Changes seit Jahren im Verdeckten plant, um dann erbarmungslos zuzuschlagen? Wer spricht darüber, dass die Rüstungsindustrie sich an satten Gewinnen erfreut, weil die Waffenexporte in Krisenländern seit Jahren zunehmen? Wer spricht darüber, dass die europäische Wirtschaftspolitik die Lebensgrundlage in zahlreichen Ländern vernichtet, weil sie die heimischen Produkte mit Dumpingpreisen erdrückt? Wer spricht über Folter, Mord und Verfolgung? Kaum noch jemand. Die Ursachen rücken in den Hintergrund der Fokussierung auf die Symptome, die die westliche Politik erst geschaffen hat. Und, schlimmer noch, die Symptome werden als Ursache bezeichnet. Schleuser werden als Ursache bezeichnet, dabei sind sie doch nur das Ergebnis einer Politik, die den Menschen keine Chance lässt, in ihrer Heimat ein auskömmliches Leben zu führen.
Wir müssen weit über den Gedanken politischen Asyls hinausdenken, müssen endlich einsehen, dass wir selbst die Gründe für die Flucht schaffen. Stattdessen hören wir täglich, dass wir mit den Problemen, die die Menschen zur Flucht bewegen, nichts zu tun haben. Da passt es ins Bild, die Geflüchteten in irgendwelche Lager zu stecken, mit denen wir – so sie denn so weit weg und abgelegen wie möglich sind – ebenfalls nichts zu tun haben.
Das eine Auge schließen wir, um die Geflüchteten nicht mehr sehen zu müssen. Das andere, um die Verantwortung der westlichen Politik für Flucht nicht wahrzunehmen. [InfoBox]