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Mahlen nach Zahlen: Demoskopie zwischen Meinung und Manipulation

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Nach außen hin gibt sich die Demoskopie nach wie vor selbstbewusst. Auch nach falschen Einschätzungen bei der Brexit-Abstimmung, nach Fehlern bei den Prognosen der US-Wahl und zuletzt nach der Bundestagswahl, deren Ergebnis nur teilweise den zuvor angenommenen Zahlen entsprach. Aber die Unzuverlässigkeit der Demoskopie ist nur ein unwesentlicher Teil des grundsätzlichen Problems: der Manipulation.

Die AfD: mehr als angenommen. Die CDU/CSU: weniger als vermutet. Die Grünen: besser als vorhergesagt. Die Meinungsforschung hat sich bei der Bundestagswahl nicht gerade mit Ruhm bekleckert, wenngleich sie auch nicht mit wehenden Fahnen gescheitert ist. Aber das muss sie auch gar nicht, denn ihren Zweck erfüllt sie ja (noch). Sie trägt dazu bei, die Meinung der Menschen zu lenken, zu manipulieren. Es beginnt bereits bei der Fragestellung, die fast immer tendenziös ist (dazu weiter unten mehr). Und so sind die Ergebnisse immer auch die Folge der Art und Weise, wie die Fragen für die teilnehmenden Menschen formuliert werden. Allerdings birgt dies mindestens zwei Gefahren: Zum einen kommen Ergebnisse zustande, die die Motivation der Umfrageinstitute zwar bestätigen. Zum anderen aber entsprechen sie nicht der gelebten Wirklichkeit der Befragten. Das gilt allerdings nur für die Oberfläche. Darunter, in den Gefilden der psychologisch geschickt aufgebauten Manipulation, wirkt die Demoskopie dennoch. Und auch wieder nicht. Eine tückische Sache.

Die öffentliche Meinung als geschaffene Wirklichkeit

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu glaubte nicht an die öffentliche Meinung. 1972 erklärte er, es gebe sie einfach nicht. Weil immer Interessen dahinter stünden, die, getarnt als Objektivität, die wahren Absichten der Mächtigen verschleierten. Der Soziologe Herbert Blumer ging sogar noch weiter. Er äußerte die Ansicht, dass so etwas wie die öffentliche Meinung erst durch ihre Messung entstehe, also eine Mischung aus Konstruktivismus und dem Doppelspalt-Effekt sei. Wäre dem so, würde das bedeuten, dass beispielsweise die Frage danach, wer die nächste Wahl gewinnt, maßgeblichen Einfluss darauf nimmt, wer am Ende die Nase vorn hat. Oder rettungslos abgeschlagen verliert. Womit auch die sich selbst erfüllende Prophezeiung eine Rolle bei der Demoskopie spielt. An Martin Schulz lässt sich das sehr gut erkennen.

Hätte die Bundestagswahl im ersten Quartal 2017 stattgefunden, wäre der Ausgang sicher ganz anders gewesen als im September. Sowohl die Umfragewerte als auch die mediale Berichterstattung waren Schulz wohlgesonnen. Mit sozialdemokratischen Inhalten hatte das nichts zu tun, Schulz hatte sich inhaltlich ja noch gar nicht geäußert. Und auch bei den Umfragewerten bleibt ein großes Maß an Unsicherheit, weil die Methoden der Institute nicht mehr zeitgemäß sind. Und weil viele Menschen einfach nicht die Wahrheit sagen oder ihre Meinung kurzfristig ändern. Auch dazu weiter unten mehr.

Der Hype um Martin Schulz kann als das bezeichnet werden, was Blumer meinte. Die vermeintlichen Messergebnisse über die Beliebtheit Schulz‘ haben erst zu dessen Beliebtheit geführt. Es dauerte nicht lange, bis der Wind sich drehte, und am Wahltag stand Schulz so schlecht da, dass – eine genaue Zahl wäre sehr interessant, dürfte aber kaum zu ermitteln sein – wohl selbst Wähler, die unentschlossen waren oder sogar eine Tendenz für die SPD zeigten, letztlich ihr Kreuz woanders machten. Schulz war zu diesem Zeitpunkt weder der Favorit noch der „Underdog“, doch zu beidem neigen die Menschen in vergleichbaren Situationen. Wohl auch deshalb – abgesehen vom Protest vieler Wähler – bekam die AfD so viele Stimmen. Demoskopie und Medien hatten also erheblichen Einfluss auf den Wahlausgang. Und auf Schulz‘ Absturz, und zwar unabhängig von den zunächst fehlenden und später nur dürftigen Inhalten, die ihr Übriges taten. Die Tatsache, dass CDU und SPD inhaltlich kaum zu unterscheiden waren, reichte zum Vorteil für die CDU, die ihren Merkel-Bonus ausspielen konnte (wenn auch deutlich weniger klar, als vorher vermutet wurde). Kurzum: die Inhalte waren zweitrangig, die sich selbst erfüllende Prophezeiung dagegen recht wirkmächtig.

Die Lüge als Selbstschutz

In der Sonderausgabe des „Spiegel“ vom 26.9.2017 wurde das Thema Demoskopie behandelt. Doch der Artikel enthielt einen gravierenden Fehler. Zunächst beleuchtete er korrekt, dass die Methoden von Befragungen veraltet sind. Meist finden sie am Telefon statt, nur selten über das Handy, die sozialen Medien spielen eine sehr geringe Rolle. Das ist fatal, denn Meinungsforschung funktioniert ja prinzipiell nur, wenn man es schafft, die Menschen auszuwählen, die einen Querschnitt der Gesamtbevölkerung abbilden. Das kann kaum gelingen, wenn man zu einem Großteil Festnetznummern anruft. Viele jüngere Leute schaffen sich ein Festnetztelefon heute gar nicht mehr an, sondern beschränken sich aufs Handy. Das führt zu unklaren Umfrageergebnissen, denn die befragten Menschen stehen nicht mehr repräsentativ für den Rest der Bevölkerung. Und selbst wenn Handys angerufen werden, ist es schwer abzuschätzen, ob die Angerufenen zu den Menschen zählen, die den Querschnitt repräsentieren. Doch das ist nur eine Seite des Problems.

Die andere ist die Ehrlichkeit, oder besser: das Fehlen ebendieser. Man kann davon ausgehen, dass die US-Wahl, der Brexit oder der Stimmenzuwachs bei der AfD eines gemeinsam hatten: Viele der befragten Menschen äußerten sich nicht ehrlich. Was kein Wunder ist, denn wer vor der US-Wahl angab, Trump zu wählen, fühlte sich aufgrund der medialen Stimmung schnell in die Ecke gedrängt. Nicht anders beim Brexit oder der AfD. Kaum jemand will sich als „Schmuddelkind“ outen, das rechts wählt oder dem Austritt aus der EU zustimmt. Man muss mit reichlich Selbstvertrauen ausgestattet sein, um mit breiter Brust zu sagen: Ja, ich wähle Trump! Ja, ich will aus der EU! Oder: Ja, ich will die AfD im Bundestag sehen! Da ist es einfacher, „brav“ zu sagen, was erwartet wird und dann in der geheimen Wahl eben doch zu machen, was man machen wollte.

Hinzu kommt, dass Meinung heute sehr kurzlebig ist. Eine Umfrage vom Montag kann am Mittwoch schon wieder hinfällig sein, wenn zum Beispiel in den sozialen Medien gerade ein massiver Shitstorm gegen Politiker A oder eine reichweitenstarke Kampagne gegen Politiker B geführt wird. Dazu bedarf es nicht einmal Fake News, die Stimmungslage reicht völlig aus, um kollektive Meinungsänderungen zu erwirken. Das war früher wahrlich leichter, auch wenn es nicht mit den sozialen Medien zusammenhing, die es ja noch nicht gab. Wer 30 Jahre lang zufrieden in einem Betrieb arbeitete, der wählte aufgrund dieser Zufriedenheit auch oft 30 Jahre lang dieselbe Partei. War ja alles in Ordnung. Wer dagegen heute damit rechnen muss, in nur 30 Tagen seinen Job zu verlieren, wird auch bei Wahlen (und Meinungsumfragen) „flexibler“, sucht nach Alternativen, wo ihm gesagt wird, es gebe keine. Denn es ist natürlich Unsinn, dass es keine Alternative gebe, es gibt immer eine. Ob man die richtige Wahl bei dieser Entscheidung trifft, ist eine andere Frage, aber die Tendenz ist da, Demoskopie hin oder her.

Das „Es geht uns gut“-Phänomen

In der Printausgabe des „Spiegel“ kam die Unsicherheit vermeintlich ehrlicher Antworten zur Sprache. Das spricht für den Artikel. Dagegen spricht allerdings die vom „Spiegel“ nicht weiter beleuchtete Äußerung von Nico Siegel, dem Geschäftsführer des Berliner Meinungsforschungsinstituts „Infratest“. Und hier macht der „Spiegel“ den oben angedeuteten groben Fehler. Siegel vertritt die Ansicht, dass es schwierig sei, die Meinung der Menschen zu messen, weil „die überwiegende Mehrheit der Menschen die eigene wirtschaftliche Situation als zufriedenstellend“ einstufe. Daher „die Stille, daher die Verweigerung von Streit“, schreibt der „Spiegel“. Und damit stehen Siegel und der „Spiegel“ bekanntlich nicht alleine da. In den Monaten vor der Bundestagswahl wurde kaum ein/e Talkshow-Moderator/in müde, immer wieder zu betonen, dass der Wahlkampf der SPD nicht fruchten könne, weil die Menschen ja mit der sozialen Gerechtigkeit überhaupt kein Problem hätten.

Nur: Wenn die Menschen bei so vielen Themen nicht die Wahrheit sagen, warum sollten sie es denn ausgerechnet bei der Frage der sozialen Gerechtigkeit tun? Denn genau diese Zufriedenheit der „wirtschaftlichen Situation“ ist ein großes Problem. Seit Jahren wird uns eingeredet, es gehe uns gut, sogar sehr gut, und es werde immer besser. Da liegt es nahe, dass die befragten Menschen sich irgendwann gar nicht mehr trauen, die Wahrheit zu sagen, nämlich, dass es ihnen eben nicht gut geht. Denn jeder, der so denkt, fühlt sich isoliert, als Ausnahme, Außenseiter, der – womöglich! – selbst die Schuld daran trägt, dass es ihm nicht gut geht. Alle anderen sagen schließlich, es gehe ihnen gut. Wer will da schon aus der Reihe tanzen?

Wir haben es schon lange mit einer „Es-geht-uns-gut“-Doktrin zu tun, die nicht mehr hinterfragt wird, schon gar nicht von der Politik oder den Talkshows. Dass es sich um eine Doktrin handelt, darf nicht einmal mehr gedacht werden, ohne dass der Verkünder der Botschaft als Pessimist oder „radikaler Linker“, wahlweise auch als „Verschwörungstheoretiker“ gebrandmarkt wird. Die Annahme, dass jeder seines Glückes Schmied sei, ist längst zu einem Teil der Doktrin geworden, und wenn auch alle denkbaren Antworten auf die Fragen der Demoskopie selbstkritisch als möglicherweise nicht wahrheitsgemäß tituliert werden, bei der „Es-geht-uns-gut“-Doktrin ist Schluss. Wenn sich nach mehr als einem Jahrzehnt kaum noch jemand in Umfragen zu sagen traut, dass es ihm nicht gut geht, dann kann das einfach nicht sein. Er mag bei allem Möglichen lügen, aber wenn er sagt, es gehe ihm gut, muss das stimmen.

Meinung wird gemacht, nicht erfragt

Bleibt die Frage nach dem Sinn der Demoskopie. Die ist leicht zu beantworten. Es geht um Manipulation und ein bisschen Unterhaltung. Ist doch immer nett, wenn die letzten Wochen vor der Wahl die Demoskopen voraussagen (nein, sie sagen nicht voraus, sondern messen nur, das betonen sie ja immer wieder), wie es gerade steht. Das hält die Menschen bei Laune und vermittelt ein Gefühl, irgendwie Einfluss nehmen zu können, durch ihre Stimme, und zwar schon vor der Wahl. Doch das ist nur die eine, sehr oberflächliche Wahrheit. Die dahinter ist deutlich ernster.

Die Demoskopie kommuniziert zwar, dass sie die öffentliche Meinung abbilden will, doch das ist nicht korrekt, kann es auch gar nicht sein. Denn zum einen bildet sich die öffentliche Meinung erst durch die Ergebnisse, die die Meinungsforschung produziert. Und zum anderen manipuliert die Demoskopie in erheblichen Maße. Das lässt sich schon daran ablesen, dass je nach Umfrageinstitut unterschiedliche Ergebnisse herauskommen (womit wir bei der Art der Fragestellungen sind, dazu gleich mehr). Und es ist nur schwer möglich – und auch gar nicht gewollt -, Fragen so zu stellen, dass sie neutral sind. Damit spielt die Demoskopie sehr bewusst.

Der Cicero hat sich im Februar 2017 mit dem Thema Demoskopie beschäftigt und ist zu durchaus interessanten (und uninteressanten) Schlüssen gekommen, die zwar nicht neu sind, aber doch gut zusammenfassen, wo das Problem der Meinungsforschung liegt. Während die „Sonntagsfrage“ noch relativ eindeutig ist (und trotzdem zu verschwommenen Antworten führt), sind andere Themen brisanter. Und oft mit tendenziösen Fragestellungen behaftet. Das funktioniert übrigens in beide Richtungen. Fremdenhass lässt sich durch entsprechende Formulierungen ebenso forcieren wir eine breit angelegte Willkommenskultur. Doch authentisch muss beides nicht sein, wenn die Fragen manipulativ gestellt oder die möglichen Antworten manipulativ formuliert werden:

„Die vielen Flüchtlinge machen mir Angst.“
„Bei der Prüfung von Asylanträgen sollte der Staat großzügig sein.“
„Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land.“

Diese Beispiele mögen extrem wirken, doch sie bilden ab, worum es geht: um die Bestätigung von Meinungen, die nur auf den ersten, sehr flüchtigen Blick neutral herausgekitzelt werden. Im Beispiel hier sind die erste und die dritte Frage eindeutig tendenziös, die zweite scheinbar zurückhaltender. Doch sie impliziert eben auch die Vermutung, dass eine tatsächliche Großzügigkeit des Staates letztlich nicht gewünscht ist, dass er schon jetzt viel zu großzügig ist und daher nicht noch „weicher“ werden sollte. Nur diejenigen, die sich wirklich links in der Gesellschaft befinden, würden vom Staat mehr Großzügigkeit erwarten. Aber die gehören ja im Zeitalter des Neoliberalismus sowieso nicht mehr zu den repräsentativen Gruppen von Befragten.

Meinungsumfragen bilden nur in zweite Linie so etwas wie eine öffentliche Meinung ab. Sie tragen vielmehr dazu bei, dass sie sich bildet bzw. gebildet wird. Dabei greifen sie auf zum Teil vorgefertigte Standpunkte zurück und formulieren ihre Fragen so, dass Vorurteile bestätigt werden. Sie gehen dabei Hand in Hand mit den Mainstreammedien, deren Themen und Tendenzen sie gern und oft aufgreifen. Letztlich manipulieren sie die Menschen, die sie befragen, statt deren Meinung zu erkunden. Und diese „Meinungen“ können sie dann in den Medien nachlesen.
So schließt sich der Kreis.  [InfoBox]

Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen und ist für unsere Podcasts der »Technik-Nerd«.

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