Gastbeitrag von Jörg Gastmann, 02.02.2017
„Es hat keinen Sinn, eine Mehrheit für die Sozialdemokraten zu erringen, wenn der Preis dafür ist, kein Sozialdemokrat mehr zu sein.“ (Willy Brandt)
Wie bei Hillary Clinton versuchen die Massenmedien, Martin Schulz zum Regierungschef zu schreiben. Es wird auch hier nicht funktionieren. Es sei denn, das Ziel der Jubelpresse ist eine weitere sinnlose GroKo unter Kanzleramts-Hausbesetzerin Merkel. Was wir brauchen, ist ein deutscher Bernie Sanders / Jeremy Corbyn. Möglicherweise gibt es jemanden in dieser Richtung. Und damit Hoffnung auf eine Alternative.
„Gerhard Schröder hat viel für unser Land getan. Dass es Deutschland heute besser geht, als vielen anderen europäischen Staaten, hängt vor allem mit der Agenda 2010 zusammen.“ Mit diesen Worten lobte Martin Schulz am 07.02.2014 genau die Politik, aufgrund derer sich so viele SPD-Wähler von ihrer Partei abwandten. Heutige Fragen danach bügelt er mit den Worten ab, dies „sei eine Debatte des Jahres 2003„. Mit anderen Worten: Er steht weiterhin zur Agenda 2010 und Hartz IV.
Betrachten wir weitere Fakten über den vermeintlichen Hoffnungsträger der SPD:
* Schulz macht nun u.a. Wahlkampf mit dem „Kampf gegen die Steueroasen“. Tatsächlich hat er seinen Freund, den EU-Kommissionchef Juncker, der in Luxemburg die für die EU schädlichste Steueroase installiert hat, stets unterstützt. Zitat Spiegel: „Männerfreundschaft zwischen Schulz und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker: Schulz organisierte im Parlament die Mehrheiten für die Vorschläge der Kommission. Auch als herauskam, dass Luxemburgs Regierung unter Ministerpräsident Juncker dubiose Steuerdeals an Großkonzerne vergeben hatte, war es Schulz, der im Parlament einen Untersuchungsausschuss verhinderte.“
* Schulz hat stets TTIP, CETA und TISA unterstützt.
* Er hat die Austeritätspolitik gegen die Bevölkerung Südeuropas und damit die Spaltung Europas mit getragen. Die Troika hat er nie kritisiert.
* Er hat den unbegrenzten Banken- Bailout, Renten- und Gehaltskürzungen in Griechenland und Spanien sowie Privatisierungen unterstützt – entweder aktiv oder durch schweigende Zustimmung.
* Er war stets ein Verfechter von Euro-Bonds, also von einer Vergemeinschaftung von Schulden. Das heißt: Wenn einige Länder beliebig hohe Schulden machen, zahlen alle anderen mit. Das ist so, als ob man in einem Hochhaus die Stromzähler ausbaut und einen Gemeinschaftsstromzähler einbaut. Schließlich hat kein Land mehr eine Motivation, Schulden zu vermeiden. Euro Bonds sind daher der sicherste Weg in den Schuldenkollaps der EU. Darauf angesprochen, meinte Schulz, das habe sich nun dank ESM-„Rettungspaketen“ erledigt. Da verbreitet Schulz Fake News. Die „Rettungspakete“ sind nachweislich gescheitert, haben lediglich Zeit gekauft und ein Riesen-Problem zu einem noch größeren Problem gemacht und in die Zukunft verlagert.
* Fragen nach ernsthaften Vermögens- und Kapitalertragssteuern weicht er stets aus.
* Zur Transformation Arbeitsloser in arbeitende Arme und der zweifelhaften Arbeitslosenstatistik sagte er: „Gabriel hat mit seiner Wirtschaftspolitik unglaubliche Erfolge erzielt, mit einem massiven Rückgang der Arbeitslosigkeit.“
* Sein Abstimmungsverhalten im EU-Parlament bestand seit 2012 fast ausschließlich aus „nicht beteiligt“. Weder zu Zollvergünstigungen für Entwicklungsländer noch zur Deckelung von Banker-Boni, Netzneutralität, Waffenhandel, NSA-Überwachung oder TTIP hat Martin Schulz eine Stimme abgegeben. Konfrontationen ging er als treuer Parteisoldat stets aus dem Weg.
Medien, die ihren Job als 4. Gewalt im Staate ernst nehmen, würden Schulz kritische Fragen stellen, wie zum Beispiel:
„Werden Sie die Agenda 2010 und die Hartz IV Sanktionen abschaffen?“
„Warum haben Sie nichts gegen die Euro-Austeritätspolitik unternommen?“
„Warum unterstützen Sie TTIP und CETA?“
„Warum haben Sie den Banken-Bailout unterstützt, und aus welchen Gründen muss jede große Bank mit unbegrenzten Steuergeldern gerettet werden?“
„Warum haben Sie den Untersuchungsausschuss gegen Junckers Steuerdeals verhindert, statt gegen die Steueroase Luxemburg zu kämpfen?“
„Wo ist Ihr großer Unterschied zur SPD Politik seit 1998 – und was war an der Politik der SPD falsch, die in 15 der letzten 19 Jahre in der Regierung saß? Wenn nichts Wesentliches falsch war: Warum wollen Sie dann Kanzler werden?“
Die Antworten werden entweder Ausweichmanöver, Unwahrheiten oder Peinlichkeiten sein. Warum in aller Welt sollte man ihn also wählen? Oder gar als Mitglied der SPD-Basis – die wieder mal überhaupt nicht gefragt wurde – Wahlkampf für ihn machen? Momentan überschlägt sich die „GroKo-Presse“ mit Meldungen über (angebliche) Zustimmungswerte. Wie ist das möglich, wenn er die gleiche Politik wie Gabriel vertritt? Gelinde gesagt staunen informierte Menschen über jeden, der irgendwelche Hoffnungen in Schulz setzt.
Lediglich Schulz Eignung/Nichteignung zu analysieren und zu diskutieren, genügt nicht. Wir brauchen eine Alternative. Großbritannien (genau gesagt: UK), Frankreich und die USA sind da weiter:
Neuanfang der Sozialdemokratie: In Großbritannien geglückt
Die britische Labour Party – die Schwesterpartei der SPD – erlebte 2015 eine herbe Wahlniederlage. Der alte Vorsitzende trat zurück. Aus 3 treuen Parteisoldaten –allesamt neoliberal in der Tradition Tony Blairs – sollte der Nachfolger bestimmt werden. Weil das so abgekartet und sinnlos aussah wie es auch war, beschloss der Labour-Vorstand, einen chancenlosen linken Außenseiter als Alibi-Alternative kandidieren zu lassen: Jeremy Corbyn.
Zum Entsetzen des Parteivorstands trat Corbyns Kandidatur eine Graswurzelrevolution in der Partei los. Hunderttausende neue Mitglieder und registrierte Unterstützer wählten Corbyn zum neuen Vorsitzenden.
Was begeistert gerade die Jugend an Jeremy Corbyn? Dass er kein Parteisoldat ist, der stets dem Fraktionszwang folgt, sondern jemand, der immer so abstimmt, wie er es für richtig hält. Im Laufe seines Mandats im britischen Unterhaus (entspricht dem Bundestag) stimmte er über 500 mal gegen seine neoliberalen Parteichefs Tony Blair, Gordon Brown und Ed Miliband. Er stimmte u.a.:
gegen Austeritätspolitik,
gegen Atomwaffen,
gegen Privatisierungen,
gegen Studiengebühren,
gegen die Monarchie,
für die Verstaatlichung von Versorgungsunternehmen,
für Sozialwohnungsbau,
für eine pazifistische Außenpolitik.
Bei der nächsten Unterhauswahl hat er gute Chancen, Premierminister zu werden und im United Kingdom die Sozialdemokratie wieder einzuführen.
Neuanfang von Frankreichs SPD mit Benoît Hamon
Auch Frankreichs SPD, die Parti Socialiste (PS), hat nach dem neoliberalen Francois Hollande, der eine deutsche Agenda 2010 einführen wollte, dazu gelernt. Statt dem neoliberalen Ex-Premier Manuel Valls wählten sie mit 58% den absoluten Außenseiter Benoît Hamon. Mehr Infos über seine anti-neoliberalen Positionen, den Neuanfang und den Grund für seinen Sieg finden Sie hier.
Hamon dürfte zwar keine Chance bei der Präsidentschaftswahl haben, da Hollande sämtlichen Kredit verspielt hat. Aber ein Anfang ist gemacht.
Neuanfang der Sozialdemokratie: In den USA fast die Präsidentschaft gewonnen
Das Pendant zu Jeremy Corbyn in den USA ist der hierzulande noch bekanntere Bernie Sanders, der mit Corbyn praktisch alle wichtigen Positionen teilt. Sanders hätte mit der die Präsidentschaftswahl gewonnen, wenn Clintons Leute nicht die Vorwahlen manipuliert und die Medien halbwegs neutral berichtet hätten.
Meine Prognose ist, dass Trump und die Republikaner das Pendel der Politik so weit in nach konservativ-rechts drücken, dass sich viele Wähler enttäuscht bzw. entsetzt abwenden und das Pendel bei der Wahl 2020 umso stärker nach progressiv-links zurück schwingen wird. Wenn die US Democrats ihre Clinton-Lektion gelernt haben, stellen Sie entweder (sofern er noch fit genug ist) noch einmal Bernie Sanders auf (auch mit 80 wäre er der beste Präsident)– oder jemanden wie Tulsi Gabbard, die als eine von sehr wenigen Democrats die Eier hatte, Sanders bei der Convention zur Nominierung der Präsidentschaftskandidatur zu unterstützen (Gänsehaut-Video!). 2020 wäre dann ein haushoher Sieg der Democrats möglich, die früher einmal eine Art SPD der USA waren.
Damit sind wie bei der Frage: Wer könnte der/die deutsche Jeremy Corbyn / Bernie Sanders sein?
Theoretisch käme Sahra Wagenknecht infrage. Es wäre außerordentlich spannend zu sehen, wie sie als Regierungschefin die Forderungen umsetzen würde, die aus der Opposition heraus Theorie bleiben. Allerdings hat sie als Kandidatin der Linkspartei keine Chance, weil die Partei zu vielen potentiellen Wählern vor den Kopf stößt.
Bei den Grünen könnte es Hans-Christian-Ströbele sein, der allerdings mit seinen 77 Jahren im Dezember ankündigte, nicht mehr für ein Mandat zu kandidieren. Und die Göring-Eckardt-Agenda-2010-Grünen sind ohnehin nicht mehrheitsfähig.
Die Union ist ein hoffnungsloser Fall.
Die neoliberale FDP ist ein noch hoffnungsloserer Fall.
Die AfD ist der hoffnungsloseste Fall aller Parteien, die die 5%-Hürde schaffen.
Bleibt also nur die SPD, die als einzige Partei das Wählerpotential für einen echten links-progressiven Politikwechsel hat.
Aufstand von innen in der SPD
Die SPD hatte mit dem Godesberger Programm und der Tradition von Kurt Schumacher und Willy Brandt eine Zielsetzung und einen Ruf, die sich wieder herstellen lassen. Das würde den völligen Bruch mit der Agenda-Politik bedeuten, und damit auch einen Bruch mit den heutigen Köpfen wie Gabriel, Oppermann, Scholz, Kraft, Nahles, Steinmeier und eben auch Schulz.
In der SPD fiel mir 2010 durch das Buch „Wir Abnicker“ (mehr Infos über das Buch: hier)der Dortmunder SPD-Bundestagsabgeordnete Marco Bülow auf. Wie Corbyn und Sanders stellte sich Bülow entweder gegen den Willen des Fraktionszwangs, wenn er es für richtig hielt. Oder er enthielt sich, wenn ein neues Gesetz, gegen das er war, eine Situation nicht verbessert hätte.
Details über sein Abstimmungsverhalten zeigt sein Profil auf Abgeordentenwatch) In seinen Positionen ähnelt er ebenfalls Corbyn und Sanders. Wer sich ein Bild von seinen Positionen machen will, kann dies auch durch seine Pressemitteilungen und sonstigen Veröffentlichungen tun.
Eine Erklärung gegen TTIP und CETA finden Sie hier, ein Video zu diesem Thema hier. Er war auch gegen die Koalition mit der Union, wie er unter „Große Koalition kritisch begleiten“ erläutert.
Da er kein „Abnicker“ sein wollte, hat ihn der SPD-Vorstand auf die hinterste Hinterbank abgeschoben und aus allen Ausschüssen verbannt.
All das macht Marco Bülow, den ich nicht persönlich nicht kenne und dem ich nie begegnet bin, zu meinem persönlichen Favoriten für die Rolle als Deutschlands Antwort auf Jeremy Corbyn / Bernie Sanders. Auch wenn ich nicht alle seine Positionen teile, so doch die meisten. Würde man nur Politiker unterstützen, bei denen man überall der gleichen Meinung ist, hätte wahrscheinlich niemand ein Bundestagsmandat.
Wenn Sie eine(n) bessere(n) Kandidaten / Kandidatin kennen, senden Sie mir bitte Ihre Vorschläge. Die Suche ist durchaus ergebnisoffen.
Was man nun noch braucht, ist ein „Aufstand von innen“ in der SPD.
Facebook-Gruppe „Aufstand von innen – SPD-Hoffnung Marco Bülow zum Bundeskanzler“
Bild: Facebook, Gruppe „Aufstand von innen – SPD-Hoffnung Marco Bülow zum Bundeskanzler“
Im März 2014 gründete ich die Facebook-Gruppe „Aufstand von innen – SPD-Hoffnung Marco Bülow zum Bundeskanzler“. Eine Erklärung zum Konzept finden Sie hier. Mittlerweile hat die Gruppe knapp 200 Mitglieder.
Sein Büroleiter rief mich kurz danach irritiert an. Ich erklärte ihm das Ziel, und dass ich es für ratsam halte, nicht Mitglied der Gruppe zu werden und öffentliche keine Ambitionen auf dieses Amt anzumelden. Denn Ambitionen führen in Deutschland schnell zum innerparteilichen und medialen Abschuss.
Außenseiter? Heute ein Vorteil
Wie Corbyn, Sanders und auch Trump gezeigt haben, ist es heute kein Nachteil mehr, ein Außenseiter zu sein. Im Gegenteil: Außenseiter, die gegen den Strom schwimmen, sind als Story viel spannender als Partei-Karrieristen. Die Wähler sind der klassischen Parteifunktionäre und „üblichen Verdächtigen“ überdrüssig. Wenn jemand wie Marco Bülow Kanzlerkandidat würde, würden sich Medien und Wähler zwangsläufig damit beschäftigen, wer er ist und vor allem: Wofür er steht. Sein Abstimmungsverhalten macht ihn glaubwürdiger und attraktiver als Merkel & Co.
Der Anfang aller Dinge ist klein. Jede noch so große Bewegung in der Geschichte der Menschheit begann immer mit einer kleinen Gruppe. Wir brauchen Hartnäckigkeit und Geduld. Entscheidend ist auch das Timing. Statt heute vor die Wand zu laufen, weil sich zu viele mit Martin Schulz noch Illusionen hingeben, warten wir die voraussichtlich krachende Wahlniederlage bei der nächsten oder gar übernächsten Bundestagswahl ab. Der Frust der Basis muss erst groß genug werden, um wie bei Jeremy Corbyn / Bernie Sanders über eine Graswurzel-Bewegung die Partei von innen zu revolutionieren.
Falls wir keinen Erfolg haben, haben wir es zumindest versucht. Mal sehen, ob für die SPD und Deutschland Hoffnung besteht. Alle Bürger, die eine echte Sozialdemokratie wollen, sind eingeladen, mitzumachen.
Titelbild: Wikipedia, Mettmann
Nachbearbeitung: Jörg Gastmann
Über den Autor:
Jörg Gastmann (Jahrgang 1964) lebt in Bergisch Gladbach. Er ist Suchmaschinenoptimierer, Webdesigner, Webredakteur, Buchautor sowie Sprecher von economy4mankind, einer kleinen NGO mit einem alternativen Wirtschaftssystem. Von September 2009 – September 2011 war er Bundesvorsitzender der kleinen sozialliberalen Partei „ddp“, die in dieser Zeit u.a. als „Partei zur Entmachtung der Parteien“ an den Landtagswahlen in NRW, Rheinland-Pfalz und Berlin teilnahm. Bei der nächsten Vorstandswahl hat er nicht mehr kandidiert. Seit Oktober 2011 ist er in keiner Partei Mitglied. Die ddp wurde von den Nachfolgern aufgelöst und existiert nicht mehr. Bei den Neulandrebellen war er beim „JackPod: Podcast Desaster um das bedingungslose Grundeinkommen“ zu Gast.